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       # taz.de -- Politologe zu den Wahlen in Kanada: „Unsere Existenz als Nation steht infrage“
       
       > Donald Trump schadet Kanadas Konservativen, sagt der Politologe John
       > Grant. Größter Pluspunkt der Liberalen sei aber der Rücktritt von Justin
       > Trudeau.
       
   IMG Bild: Erfolgreiche Staffelübergabe? Mark Carney (l.) will bei den Wahlen Legitimation als Nachfolger von Justin Trudeau (r.)
       
       taz: Herr Grant, [1][am 28. April wählt Kanada]. Vergangenen Freitag haben
       die Wahllokale für die frühzeitige Stimmabgabe eröffnet. Ganz anders als
       bei der letzten Wahl stand man jetzt teilweise eine Stunde Schlange, um
       seine Stimme abzugeben. Alles nur wegen Donald Trump? 
       
       John Grant: Ja, zum Großteil. Kanadischer Nationalismus ist nicht weit
       verbreitet und er ist gemäßigt. Aber Trumps Zölle und seine Schnapsidee,
       Kanada zum 51. Bundesstaat der USA zu machen, treiben die Menschen gerade
       an. Diese Wahl ist viel folgenreicher als jede andere, weil unsere Existenz
       als Nation infrage steht.
       
       taz: Der Liberale Justin Trudeau war seit 2015 Premierminister. Noch vor
       wenigen Monaten lag die oppositionelle Konservative Partei 25 Prozentpunkte
       vor den Liberalen. Seit Trumps Zollpolitik liegen die Liberalen wieder
       vorne. Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel? 
       
       Grant: Noch im Januar hätte niemand mit dieser Entwicklung gerechnet. Der
       konservative Kandidat Pierre Poilievre hat über Jahre hinweg eine
       trumpeske Vision von Kanada aufgebaut und klammert sich bis heute daran:
       Wir sind ein kaputtes Land, das unter Trudeau ruiniert wurde. Diese Vision,
       gekoppelt mit dem allgemeinen Unmut, manchmal auch Hass, gegenüber Trudeau,
       hat die Konservativen in der Bevölkerung beliebt gemacht. Wäre Trudeau noch
       einmal angetreten, hätte er keine Chance gehabt. Aber im Januar [2][gab er
       seinen Rücktritt bekannt]. Gleich darauf wurde Donald Trump in den USA
       vereidigt und kündigte Strafzölle an. Mitte März übernahm der ehemalige
       Zentralbankdirektor [3][Mark Carney] als Vorsitzender der Liberalen Partei
       und wurde Kanadas Premierminister. Anders als Trudeau ist Carney als Person
       kein Hassobjekt.
       
       taz: Und die Kanadier begriffen, dass sie keinen Kandidaten wollen, der
       Trump ähnelt? 
       
       Grant: Poilievres gesamte Strategie fiel über Nacht in sich zusammen. Wir
       spüren mittlerweile, dass Trumps Zölle auch Kanada treffen. Hunderte
       Arbeiter wurden bereits entlassen, die Produktion von Elektroautos im Werk
       der Cami Assembly bis Oktober eingestellt. Die Bedrohungslage für Kanada
       ist so akut, dass sich alles nur darum dreht. Die Liberalen liegen jetzt
       vor den Konservativen. Ausgerechnet Poilievre, der niemals so wirken
       wollte, als ob ihn mit den Liberalen irgendetwas verbindet, vertritt
       plötzlich den gleichen Ansatz gegen Trump wie die Liberalen. Aber er steckt
       in der Klemme: Er hat so viel Zeit in seine Botschaft eines kaputten
       Kanadas gesteckt, dass jede politische Neuausrichtung unaufrichtig wirken
       würde. In den letzten Tagen kamen auch immer mehr interne Kämpfe unter den
       Konservativen ans Licht, einflussreiche Politiker wie Doug Ford kritisieren
       Poilievre.
       
       taz: Kann Poilievre noch etwas retten? 
       
       Grant: Ich bezweifle es. Eines von Poilievres Lieblingsthemen war die
       landesweite CO₂-Steuer, die er unbedingt abschaffen wollte. Trudeau hatte
       sie 2019 für Privatpersonen und Industrie eingeführt, um Benzin, Diesel und
       Erdgas zu belasten. Er wollte Klimaschutz vorantreiben. Viele Kanadier
       empfanden die CO₂-Steuer trotz Steuerrückzahlungen als finanzielle
       Belastung. Nach seinem Amtsantritt schuf Mark Carney die Steuer für
       Verbraucher ab, beließ sie aber für Industrieabgaben wie Stahl, Zement, Öl
       und Gas.
       
       Er wählte damit einen Mittelweg, diese Entscheidung war aber auch ein Bruch
       mit der bisherigen Klimapolitik der Liberalen. Poilievre hat jetzt also
       selbst dieses Steckenpferd verloren. Er ist so verzweifelt, dass er
       plötzlich ohne Belege behauptet, Carney wolle die Steuer nach der Wahl
       wieder einführen. Poilievres bestes Mittel zum Sieg war der Unmut gegen
       Trudeau und die unliebsame CO₂-Steuer. Jetzt steht er mit leeren Händen da.
       
       taz: Bei der Fernsehdebatte am Donnerstag vor Ostern ging es um
       Kriminalitätsbekämpfung, Finanzierung von öffentlich-rechtlichen Medien und
       den Bau von Ölpipelines, um sich aus der Abhängigkeit von den USA zu lösen.
       Aber so richtig hatte niemand einen konkreten Plan, um Trumps Zollpolitik
       entgegenzutreten. 
       
       Grant: Poilievre versuchte so gut es geht, nicht wie Trump zu klingen.
       Wahrscheinlich ist es zu spät für ihn. Alle Parteien sprechen jetzt davon,
       interne Handelsbarrieren zwischen den Provinzen abzubauen, um kanadischen
       Binnenhandel anzukurbeln. Die populärste Strategie ist im Moment,
       Gegenzölle auf die USA zu erheben und dann mit US-Gouverneuren und
       Bürgermeistern zusammenzuarbeiten, um Trump zu einem Kurswechsel zu
       drängen.
       
       taz: Eine Provinz, die zuverlässig für die Konservativen stimmt, ist
       Alberta. Dabei befindet sich dort die gesamte Ölsandindustrie. Laut der
       kanadischen Handelskammer trifft die US-Zollpolitik fast keine Region so
       stark wie Albertas größte Stadt Calgary. Wie lässt sich dieser Widerspruch
       auflösen? 
       
       Grant: Öl ist bisher meines Erachtens nach weniger von den Zöllen betroffen
       als die Autoindustrie in Ontario. Alberta hat eine lange antiliberale
       Geschichte, die noch in die Zeit zurückreicht, in der Justin Trudeaus Vater
       Pierre Premierminister war. Die Wahrnehmung dort ist, dass die Liberale
       Partei Ontario, Quebec und die östlichen Provinzen bevorzugt. Am besten
       zeigt sich diese Einstellung im Hinblick auf die CO₂-Steuer. Menschen in
       Alberta sind überzeugt davon, die Steuer sei dazu da, ihnen zu schaden.
       Dabei war es ihr eigener Premier, der 2007 als Erster die Steuer einführte
       und Großunternehmen ins Visier nahm. Weltweit sind die Ölpreise seitdem
       massiv gefallen und das schadet Alberta. Aber es wird nichts an ihrem
       Wahlverhalten ändern.
       
       taz: Die USA haben Kanada [4][Zölle] auferlegt, die je nach
       Produktkategorie variieren. 10 Prozent ist der globale Basiszoll auf alle
       Importe, 10 Prozent gibt es auf Öl-, Gas- und Mineralienimporte und 25
       Prozent auf Kfz-Teile wie Stahl und Aluminium. Aber vieles davon ist durch
       die Freihandelszone USMCA geschützt. Wie viel von der kanadischen Panik ist
       viel Lärm um nichts? 
       
       Grant: Es herrscht ein Gefühl der Verunsicherung im ganzen Land, auch weil
       Trump die Regeln gefühlt alle paar Tage ändert. Nicht nur General Motors
       hat schon Leute entlassen. Auch um Honda kursieren Gerüchte, dass
       Produktion in Kanada und Mexiko reduziert und in den USA steigen soll.
       Honda verneint das bisher. Die Situation ist also insgesamt nicht nur eine,
       in der man sich die Bedrohung einbildet.
       
       taz: Wenn Trudeau und die CO₂ -Steuer kein Thema mehr sind, was sind dann
       jenseits von Trumps Zollpolitik die Themen im Wahlkampf? 
       
       Grant: Ein Riesenproblem sind die Lebenshaltungskosten. Damit hängt das
       Thema Migration zusammen, wenn auch weit weniger kontrovers als in den USA
       oder in Europa. Der Konsens, den es noch vor zehn Jahren gab, ist
       gebröckelt. Früher sah eine große Mehrheit der Kanadier Einwanderung als
       eine gute Sache, wirtschaftlich wie kulturell. Der Sinneswandel liegt aber
       nicht an den Einwanderern selbst, sondern daran, dass wir nicht genug bauen
       und deshalb nicht genug bezahlbaren Wohnraum haben und man einen Sündenbock
       braucht.
       
       taz: Kanada gehört zu den Ländern mit den höchsten Pro-Kopf-Emissionen
       weltweit. Ist Klimawandel kein Wahlkampfthema? 
       
       Grant: Insgesamt fühlen sich Kanadier nicht besonders verantwortlich für
       den Klimawandel. Sie sagen: Wir sind so wenige, wir fallen nicht ins
       Gewicht, schaut nach China, Indien oder in die USA! Keiner ist bereit,
       etwas am eigenen Lebensstil zu ändern. Wenn du Leute direkt fragst, sind
       sie besorgt um den Klimawandel. Aber niemand wird seine Wahlentscheidung
       danach ausrichten. Vergangene Woche las ich, wie Paris seine Innenstadt
       fußgängerfreundlicher gemacht hat und Fahrer von SUVs besteuert. Hier wäre
       das absolut undenkbar.
       
       taz: Viele Wähler der sozialdemokratischen Partei NDP werden
       voraussichtlich die Liberalen unterstützen, um ihnen den Sieg zu
       garantieren. Hat das Konsequenzen für die Sozialpolitik im Land? 
       
       Grant: Die Kräfteverhältnisse werden sich verschieben. Die NDP und der Bloc
       Québécois, der für eine Unabhängigkeit Québecs von Kanada eintritt, werden
       schrumpfen. Die Grüne Partei könnte auf ein oder zwei Sitze kommen. Seit
       die Liberalen bei den Wahlen 2021 mit einer Minderheitsregierung regierten,
       war die NDP wahrscheinlich eine der einflussreichsten kleineren Parteien in
       der Geschichte Kanadas. Das könnte sich nun ändern und das ist
       problematisch. Mark Carney steht am rechten konservativen Rand des
       liberalen Spektrums. Wenn die NDP nichts mehr zu sagen hat, können die
       Liberalen so tun, als ob sie sich für soziale Wohnungspolitik und
       Klimagerechtigkeit einsetzen, auch wenn das nur eine Illusion ist. In
       einigen Provinzen wie in British Columbia, Manitoba, Saskatchewan und
       Ontario wird die NDP aber ihre starke Präsenz behalten.
       
       Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes war die
       Hauptstadt von Alberta falsch angegeben. Außerdem haben wir den kanadischen
       Regierungschef falsch benannt. Das ist jetzt korrigiert.
       
       23 Apr 2025
       
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