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       # taz.de -- Ausstellung über Reformbewegungen: Auf der Suche nach der inneren Transparenz
       
       > Die Ausstellung „Para-Moderne“ in der Bundeskunsthalle Bonn verfolgt die
       > Wege und Irrwege der künstlerischen Moderne nach 1900.
       
   IMG Bild: In Kutte oder nackt, Hauptsache nah an der Natur: Tanzende am Lago Maggiore bei Ascona (um Rudolf von Laban), 1914
       
       Wie lebt man richtig, wann zählt man zu den Guten? – Fragen, die im 20.
       Jahrhundert in ungekannter Dynamik alternative Lebensstile hervorbrachten.
       Sie sind Thema der Ausstellung „Para-Moderne“ in der Bonner
       Bundeskunsthalle. Die Guten, das sind solche wie der „Nature Boy“, den im
       Eingangsbereich die Jazzlegende Nat King Cole besingt, ein bezaubernder
       Einsiedler, fern der Großstadt, rein und unverdorben von den Anmaßungen der
       Moderne.
       
       Desgleichen wollten auch die jungen, wohlhabenden Aussteiger, die anno 1900
       den Schweizer Monte Verità besiedelten, frei sein, sich weiche, weite
       Kleider anlegen oder gleich ganz den Körper jener Sonne preisgeben, deren
       heilende Kraft um die Jahrhundertwende beschworen wurde. Natur statt
       Maschine, das ist das Credo der Reformbewegungen, die in Bonn unter dem
       Titel „Para-Moderne“ subsumiert werden.
       
       Dabei wirkt der erste, von Tischvitrinen zergliederte Raum sachlich kühl.
       An seinen Wänden viele Fotos: unbekleidete, befreit Springende und bärtige,
       langhaarige Männer in Kutten. In einem gescreenten Ausschnitt von Carl
       Javérs Film-Doku „Freak Out“ (2014) [1][über die Szene am Monte Verità],
       berichtet die 1926 in São Paulo verstorbene Mitgründerin Ida Hofmann aus
       dem Jenseits, davon, wie aktuell ihre Gründe, der Gesellschaft um 1900 den
       Rücken zu kehren, auch heute sind: Kapitalismus, Globalisierung,
       Konsumismus.
       
       Und was suchte man? Neue Formen des Zusammenlebens, Nähe zur Natur,
       Erweiterung des Bewusstseins. In einer Vitrine deuten
       Nietzsche-Devotionalien, etwa die kuriose Miniatur seiner Lebendmaske,
       darauf hin, dass den Suchenden just Gott abhanden gekommen war. Akribisch
       dokumentiert die Ausstellung neue Sinngestaltung, mal entlang der
       wissenschaftlichen Moderne, häufiger diese unwissenschaftlich
       interpretierend und noch häufiger auf esoterischen Pfaden.
       
       ## Man trifft auf Charismatiker aller Art
       
       Man trifft in Bildern auf Mary Wegman, die den Tanz revolutioniert, und auf
       Käthe Kruse, repräsentiert durch ein expressionistisches Selbstporträt und
       den Ur-Entwurf ihrer zum Umarmen gemachten Puppen. Ja, fühlen, erleben! Vom
       Gärtner Hermann Hesse sieht man den luftigen Arbeitsanzug. Ob
       avantgardistische Künstler wie Wassily Kandinsky oder Männer in Jesus-Pose,
       wie der dichtende Maler Gusto Gräser: Charismatiker sind die prägenden
       Figuren der Para-Moderne bis hin zu Joseph Beuys, der auch in der
       Ausstellung auftaucht.
       
       Massive und kleinere Wände gliedern den Raum wie ein Rückgrat mit Rippen.
       Ohnehin geht es unentwegt in dieser Schau um den menschlichen Körper. In
       ätherischer Anmut hält die lebensgroße Frauenfigur von Gustav Klimts selten
       verliehener „Nudas Veritas“ mit ihren in ferne Welten blickenden
       Türkisaugen dem Betrachter einen Spiegel vor: Sieh dich selbst!
       
       Seltsam unvermittelt wirken dazwischen aktuelle Kunstwerke wie Goshka
       Macugas Figur der Gründerin der Theosophischen Gesellschaft „Madame
       Blavatsky“ (2007), die in ein violettes Samtkleid gehüllt, in Trance auf
       den Lehnen zweier Stühle schwebt. In der Vielzahl der Exponate verliert
       sich die Kunst, wird zur Illustration inhaltlicher Thesen, die zugleich
       auch nie so recht auf den Punkt kommen können.
       
       Fast übersieht man das intensive Farbenspiel der wolkengleichen
       Abstraktionen auf František Kupkas Malerei um 1920. Sie zeigen seine Suche
       nach neuem Bewusstsein. Es ist möglich, sich in der Ausstellung zu
       verlieren, und dieser Eindruck korrespondiert sehr gut mit dem suchenden
       Glauben, der die Para-Moderne auf den ersten Blick von der
       skeptisch-wissenschaftlichen Moderne unterscheidet. Wo deren
       Röntgenstrahlen den Körper durchleuchten, strebten die Reformer nach
       innerer Transparenz.
       
       ## Auch Hitler darf nicht fehlen
       
       Die Künstlerinnen des 1919 gegründeten Siedlungsprojekts Loheland tanzen in
       ihren Fotoexperimenten schwerelos, sie gestalteten transparente Fotogramme
       von Pflanzen, die ebenso wie ihre Kostüme und geometrisch strukturierten
       Wandteppiche auch heutigen Kunst-Hipsterblicken schmeicheln. Eine Ruhe vor
       dem Sturm.
       
       Im nebenan liegenden Raum trifft man auf das Antlitz des entsetzlichsten
       aller Charismatiker – Hitler. Wo der Nationalsozialismus viele jener
       Reformentwicklungen unterdrückte, baute er zugleich auf den Ballast ihrer
       wabernden Welterklärungen. Nicht selten, [2][wie etwa bei Rudolf Steiner],
       sind es elitäre und antisemitische Ideen. In der von ihm entworfenen,
       monochrom gelben farbtherapeutischen Hohlkugel will sich dann auch kein
       Wohlbefinden einstellen.
       
       Bereits 1906 schwärmte Monte Verità-Mitgründerin Ida Hofmann vom
       „Kulturmenschen im Sinne der Zuchtwahl“. Wer also sind noch gleich die
       Guten? In Sophie Nys’ begehbarer Installation „Die Hütte“ (2007), einem auf
       88 Prozent verkleinerten Nachbau des Holzhauses, in dem Martin Heidegger
       schrieb, hören wir Thomas Bernhards Abrechnung mit dem Philosophen aus
       „Alte Meister“: „Dieses nichts ist ohne Grund, ist das Lächerlichste […]
       Aber den Deutschen imponiert das Gehabe.“
       
       Auf seltsame Weise geleiten diese Worte zur augenfälligsten These der
       Ausstellung: Jedes Revival des Monte Verità erwähnt seit den 1970ern die
       nicht nur äußerliche Nähe seiner Aussteiger zu den kalifornischen Hippies.
       Tatsächlich zog es einst einige der Heilung suchenden Sonnenanbeter,
       Welten-Reformer und Lebenskünstler an die goldene Küste, wo ihr Tun
       Aufsehen erregte und Spuren hinterließ.
       
       ## Von den Alpen bis nach Kalifornien
       
       Ab hier folgt die Schau inhaltlich der in Los Angeles lebenden Autorin Lyra
       Kilston in ihrem 2019 erschienenem Buch „Sun Seekers“, Kilston trug auch
       ein Kapitel zum Ausstellungskatalog bei. Man blickt auf Bilder [3][moderner
       Glasarchitektur in Kalifornien] und lernt, dass ihre bürgerliche Eleganz
       dieselben Bedürfnisse bedient wie der schräge Fitnessfanatiker und
       Proto-Hippie Gypsy Boots, den man in Groucho Marx’ TV-Show herumkaspern
       sieht.
       
       Man begegnet in Fotos Eden Ahbez, Rennrad fahrender Eremit im Jesuslook,
       der in den 1940ern jenes Lied „Nature Boy“ schrieb, mit dem Nat King Cole
       die Ausstellung eröffnet. Eine Wand mit Plattenhüllen zeigt, wie viele
       Popstars eine Version des Songs aufgenommen haben. Plakate des Jugendstils
       verdeutlichen ihren Einfluss auf die flirrenden Poster der Rockszene San
       Franciscos, von denen einige wirkliche Raritäten zu bestaunen sind.
       
       Hier finden Post-Moderne und Para-Moderne zusammen. Doch was aus
       US-amerikanischer Sicht eine lehrreiche Erkenntnis ist – der Einfluss der
       europäischen Reformbewegungen und ihrer Manien –, führt in der deutschen
       Perspektive zu einem Missverständnis. Auch wenn einstige Rockfans versonnen
       Janis Joplin, Jimi Hendrix und The Who in den ausgewählten Ausschnitten des
       Films vom Monterey-Rock-Festival von 1967 genießen, so hatten die Hippies
       etwas, was Bernhard zu Recht den Deutschen absprach: Die Hippies liebten
       das Spiel, sie wollten nicht alles erklären, Dinge konnten ohne Grund sein
       und bleiben.
       
       Dies ist ein fundamentaler Unterschied zur 68er-Bewegung, in der die
       Langhaarigen ebenfalls auf die Esoterik ihrer Lookalikes in den
       Reformbewegungen rekurrierten. Längst ist vieles davon in der Mitte der
       Gesellschaft angekommen, mal bereichernd, mal auch nach 125 Jahren noch
       gefährlich irrlichternd, doch stets verleiht es Gewissheit, zu den Guten zu
       gehören.
       
       24 Apr 2025
       
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