URI: 
       # taz.de -- Tunesien räumt Flüchtlingscamps: Neue Feindbilder in Nordafrika
       
       > Am Strand von Sfax leben Tausende afrikanischer Migrant:innen unter
       > menschenunwürdigen Bedingungen. Jetzt haben nordafrikanische Länder mit
       > der Deportation begonnen.
       
   IMG Bild: Aus Westafrika und dem Sudan kommende Geflüchtete im tunesischen Sfax im April 2024
       
       Tunis taz | Tunesische Sicherheitskräfte haben am Mittwoch mit der Räumung
       von Flüchtlingslagern begonnen, in denen mehr als 30.000 Migrant:innen
       und Flüchtlinge leben. Zuvor war den aus den aus dem Sudan und Westafrika
       kommenden Menschen ein Ultimatum gestellt worden. Bis Mittwoch müsse man
       sich bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM) melden, und
       die Rückkehr in die Heimat zu organisieren, warnten Vorauskommandos in den
       12 Camps. Wer in den selbst organisierten Zeltstädten bleibe, würde in das
       Grenzgebiet nach Libyen oder Algerien deportiert.
       
       Seit fast zwei Jahren ist der 60 Kilometer lange Küstenstreifen nördlich
       der Hafenstadt Sfax Sammelpunkt derjenigen, die auf einen Platz in einem
       Boot nach Lampedusa oder Sizilien hoffen. Seitdem viele libysche Milizen
       von den Angehörigen inhaftierter Migrant:innen Geld erpressen, gilt
       Tunesien als die sicherste Route nach Europa.
       
       Doch seit August 2024, nachdem die Brüsseler EU-Kommission mit Präsident
       Kaïs Saied ein Migrationsabkommen unterzeichnete, fängt die tunesische
       Küstenwache fast alle Boote mit Migrant:innen an Bord ab.
       
       Gleichzeitig kommen über die algerische und libysche Grenze immer mehr
       Menschen an die Küste. Die Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung und
       den aus Subsahara-Afrika kommenden Menschen steigen. Noch während der
       Corona-Pandemie hatten beide Gemeinschaften einträglich zusammengelebt,
       auch weil die Migrant:innen als unterbezahlte Tagelöhner:innen
       [1][viele Betriebe im Servicebereich durch die Wirtschaftskrise geholfen
       hatten].
       
       ## Helfende kriminalisiert, medizinische Hilfe verboten
       
       Dann entfachte eine Wutrede des Präsidenten im vergangenen Sommer eine
       Welle der Gewalt, die Nationalisten mit Videos auf sozialen Medien
       geschickt vorbereitet hatten. Statt zusammen mit der EU eine geordnete
       Rückführung der Migrant:innen zu organisieren, bezeichnete Saied die
       Migration als Verschwörung fremder Mächte gegen die arabische und
       islamische Identität Nordafrikas. Nach gewaltsamen Übergriffen auf
       dunkelhäutige Menschen in Tunis und Sfax flohen Migrant:innen [2][in die
       endlosen Olivenhaine bei Sfax].
       
       Um in Algerien, Mali oder Libyen Wartende von der Reise nach Sfax
       abzuhalten, wurde der UN-Organsiation IOM de facto die Arbeitslizenz
       entzogen. Viele Aktivist:innen privater tunesischer Hilfsorganisationen
       aus Sfax wurden wegen angeblichem finanziellem Missbrauch von Spenden oder
       wegen des Empfangs von Geldern aus dem Ausland zu langjährigen
       Gefängnisstrafen verurteilt.
       
       „In den letzten Wochen durften uns auch die Apotheken keine Medikamente
       mehr aushändigen“, klagt Ibrahim Foufana, der in mehreren Lagern
       Feldkrankenhäuser aufgebaut hat. Der 26-jährige angehende Chirurg aus
       Guinea behandelt zusammen mit einem Freiwilligenteam seit dem letzten
       Sommer Verletzte, chronisch Kranke und hilft schwangeren Frauen bei der
       Geburt.
       
       In der „Kilometer 30“ genannten Zeltstadt ist Foufanas aus Plastikplanen
       und mit Klebebändern zusammengehaltenen Lazarett der einzige Anlaufpunkt
       für über 4000 Menschen. „Seitdem die tunesischen Krankenhäuser selbst
       hochschwangere Migrant:innen ablehnen, werden hier Kinder unter
       unglaublich schlechten hygienischen Bedingungen zur Welt gebracht“, sagt
       der junge Arzt.
       
       ## „Nicht Europas Grenzschützer sein“
       
       Durchschnittlich starben in den Lagern wöchentlich fünf Menschen an
       Infektionen oder Schwäche, berichtet das medizinische Personal gegenüber
       der taz in Al Amra, einem kleinen Fischerdorf, in dem es letzte Woche zu
       Straßenprotesten gegen die „Afrikaner“ gekommen war. „Für uns steigen wegen
       der bis zu 70.000 Migranten im Süden Tunesiens die Lebensmittelpreise“,
       klagt zum Beispiel Zied Melulli, der Gründer einer Bürgerinitiative für die
       Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Sfax. „Doch von der Finanzhilfe
       aus Brüssel ist gerade hier in der Provinz, wo das Zusammenleben lange gut
       funktioniert hatte, nichts angekommen. Wir sind es leid Europas
       Grenzschützer zu sein.“
       
       Die italienische Regierung hatte am Mittwoch angekündigt, Tunesien bei der
       „Repatriierung“ der Migrant:innen mit 20 Millionen Euro zu unterstützen.
       Die Bundesregierung unterstützt die Küstenwache und Nationalgarde mit
       technischem Gerät und Ausbildung.
       
       ## Deportation an die algerische Grenze
       
       Am Freitag morgen hatten sich mehrere hundert Migranten bei einer
       Delegation gemeldet, die in Westen von IOM zur Zeltstadt „Kilometer 30“
       gekommen war. Doch statt in das von den Vereinten Nationen standardisierte
       Rückführungsprogramm aufgenommen und nach mehreren Wochen Wartezeit in die
       Heimat geflogen zu werden, setzten Beamte der Nationalgarde sie in Busse,
       die sie an die algerische Grenze transportierten. In anderen Lagern
       zerstörten die Sicherheitskräfte die Zelte der Bewohner, die in Panik
       flohen. „Niemand ist mehr sicher,“, berichtet Saiko Jeng vom Kilometer 31.
       „Selbst vor IOM-Mitarbeitern haben wir Angst.“
       
       In der Nähe der algerischen Grenzstadt Tebessa werden seit Monaten aus Sfax
       deportierte Migranten von Straßenbanden aufgelesen und an die algerische
       Polizei übergeben. Diese bringt die oft ausgehungerten Menschen an die
       Grenze zum Niger, von wo sie sich sich mit einem 15 Kilometer langen
       Fußmarsch durch die Sahara in das IOM-Center in der Stadt Assamaka
       durchschlagen.
       
       ## Libyen schließt sich den Pushback-Plänen an
       
       Am Mittwoch hat sich nun auch die libysche Regierung dem großen
       Pushback-Plan Tunesiens und Algeriens angeschlossen. Salem Geith, der
       Sprecher der „internen Sicherheitsagentur“ (ISA), einem
       Inlandsgeheimdienst, verkündete ein Arbeitsverbot für 10 internationale
       Nichtregierungsorganisationen, die Flüchtlinge und Migrant:innen mit
       Lebensmitteln und Medikamenten helfen.
       
       Dem Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC), Ärzten ohne Grenzen, Terre des
       Hommes und anderen Hilfsorganisationen wird vorgeworfen, die Menschen in
       Libyen ansiedeln zu wollen. Vier Millionen Illegale Migranten würden zur
       Zeit in Libyen leben, behauptete Innenminister Emad Trabelsi kürzlich vor
       Journalisten in Tripolis und warnte. „Europa müsse helfen die libyschen
       Grenzen zu sichern oder man werde das Problem wie die Nachbarländer lösen.“
       
       4 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Menschenrechtsverletzungen-in-Libyen/!6073239
   DIR [2] /Vertreibung-aus-Sudan/!6039071
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mirco Keilberth
       
       ## TAGS
       
   DIR Tunesien
   DIR Libyen
   DIR Migration
   DIR Mittelmeerroute
   DIR Geflüchtete
   DIR Social-Auswahl
   DIR Minderjährige Geflüchtete
   DIR Algerien
   DIR Algerien
   DIR Tunesien
   DIR Tunesien 2011
   DIR Minderjährige Geflüchtete
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Geflüchtete
   DIR Tunesien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Lage von minderjährigen Geflüchteten: Unbegleitet auf der Flucht
       
       Viele Minderjährige fliehen allein übers Mittelmeer. Was NGOs, eine
       Psychologin und ein Seenotretter von ihrer Arbeit mit ihnen berichten.
       
   DIR Abwehr von Flüchtlingen: Algerien als Afrikas Abschotter
       
       Systematische Razzien, zehntausendfache Abschiebung in Nigers Sahara-Wüste:
       Algeriens Autokraten halten Afrikaner von Europa fern.
       
   DIR Abwehr von Flüchtlingen: Wie Tunesien für Europa die Drecksarbeit macht
       
       Zu Tausenden werden afrikanische Migranten gewaltsam an der Reise nach
       Europa gehindert und stattdessen nach Algerien gekarrt. Die EU begrüßt es.
       
   DIR Politischer Prozess in Tunesien: 13 bis 66 Jahre Haft für mehrere Oppositionelle
       
       Laut Staatsanwaltschaft sollen sie den Sturz des autoritären Präsidenten
       Kais Saied geplant haben. Die Anwälte der Verurteilten kritisieren die
       Intransparenz des Verfahrens und halten es für unrechtmäßig.
       
   DIR Justiz in Tunesien: Schauprozess gegen Kritiker des Staates
       
       In Tunesien wird ein Verfahren wegen „Verschwörung“ zum Gradmesser
       politischer Freiheit. Präsident Said gewährt sie seinem Volk immer weniger.
       
   DIR Schließung trotz Betreuungsnotstand: Unwillkommen in Berlin! Klappe die nächste
       
       Eine etablierte Unterkunft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in
       Kreuzberg muss Ende April schließen. Die Mitarbeiter sind fassungslos.
       
   DIR Afrikanische Flüchtlinge in Tunesien: Sie haben vom Nötigsten zu wenig
       
       Zehntausende Flüchtlinge leben um Sfax in Tunesien ohne Schutz oder
       UN-Hilfe, viele aus Sudan. Jetzt droht ihnen die Abschiebung Richtung
       Algerien.
       
   DIR Migrant:innen in Tunesien: Abschiebung um jeden Preis
       
       Tausende Migrant:innen und Geflüchtete harren nahe der tunesischen
       Küstenstadt Sfax in Lagern aus. Nun sind Gewaltvideos im Netz aufgetaucht.
       
   DIR Migration in Nordafrika: Richtungswechsel in der Sahara
       
       Eine Staatenallianz in Nordafrika will die Migration nach Europa stoppen.
       Tausende sind nun auf der Sahararoute in Richtung Süden unterwegs.