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       # taz.de -- Neues Album von Postrocker David Grubbs: Beim Holzhacken entstanden
       
       > „Whistle from Above“, das neue Album von David Grubbs, bietet den Sound
       > des anderen Amerikas. Experimente und Klanggedichte treffen auf Postrock.
       
   IMG Bild: David Grubbs hat einen eigenen Begriff von Schönheit
       
       Kann David Grubbs der Schönheit nicht trauen? Mit einem folkmusikalischen
       Motiv, einer Pendelmelodie, in die sich eine Abweichung schleicht, eröffnet
       der US-Multiinstrumentalist sein neues Soloalbum „Whistle from Above“. Im
       Koffer hat er elektrische Gitarre, Piano, Lap Steel und Elektronik. Das
       Titelstück entwickelt partielle Unruhe, hinzu kommt ein rauer, elegischer
       Streicherton. Die zehnsaitige Fiddle, ein Instrument der irischen und
       norwegischen Folklore, spielt Cleek Schrey. Der Erforscher traditioneller
       wie experimenteller Musik ist einer von fünf Gästen bei Grubbs.
       
       Als Egotrip sollte man sich „Whistle from Above“ nicht vorstellen, obwohl
       das Album in ländlicher Abgeschiedenheit beim Holzhacken entstanden ist.
       [1][Der gemächliche Wintertraum, mit dem das Video zum zweiten Stück „The
       Snake on Its Tail“ beginnt, lässt kaum vermuten, dass David Grubbs
       ursprünglich von Punk und Hardcore kommt.] Aber bald stehen in der weißen
       Ebene nicht mehr nur kahle Bäume, Scheunen und Kirchen, sondern rauchen
       Industrieschlote und blinken rote Rücklichter im Schneetreiben. Die Unruhe
       in der Musik ist nicht mehr latent, sondern mit Feedback und dem agilen
       Schlagzeugspiel von Andrea Belfi präsent.
       
       Wie alle von Grubbs’ Gästen sind Belfi und der bald darauf einsteigende
       Trompeter Nate Wooley in Improvisation und Jazz versiert. Im Trio mit
       Grubbs spielen beide einen Noiserock, in dem ein klassischer
       Hardrock-Höhepunkt versteckt ist. Diese eigenständige Mischung aus
       Americana und Anarchie zeichnete auch das Klangbild von [2][Gastr del Sol
       aus, jener um David Grubbs und Jim O’Rourke] kreisenden Band aus dem
       Chicago der mittleren und späten neunziger Jahre.
       
       Gastr del Sol gehören zu einer der spannendsten Musikgeschichten jenes
       Jahrzehnts, das zumeist mit Grunge und Techno assoziiert wird. Postrock
       lautet der, wie oft in solchen Fällen, so treffende wie diffuse Begriff. Er
       bündelt Bands, die in einem Atemzug genannt werden dürfen, aber nicht in
       eine Schublade gesteckt werden sollten: [3][Mit Tortoise, The Sea and Cake]
       oder eben Gastr del Sol ließ sich entdecken, was seit Velvet Underground,
       Captain Beefheart oder John Fahey interessant ist, der Raum, in dem die
       Direktheit von Rock und Folk auf die Finesse von Jazz und experimenteller
       Musik trifft.
       
       Was da entstand, war oft, aber nicht immer instrumental und episch.
       Wiederentdecken lässt es sich auf „We Have Dozens of Titles“, einer 2024
       erschienenen Raritätensammlung von Gastr del Sol. „Hung in the Sky of the
       Mind“, mit sieben Minuten das längste Stück auf „Whistle from Above“, kann
       als Reminiszenz an diese Zeit und zugleich ein Weiterdenken ihrer Konzepte
       gehört werden. Grubbs spielt ein sparsames, dabei deutliches Piano, Rhodri
       Davies eine perlende Schoßharfe, während sich der Horizont langsam zuzieht
       und in Minute fünf überraschend wieder aufreißt.
       
       ## Die Musik zeigt Zähne
       
       Mit „Scrapegrace“, der unheimlich wirkenden Kombination einer wiederholten
       Gitarrenfigur Grubbs’ und dem Cellospiel des griechischen Künstlers Nikos
       Veliotis, schließt die A-Seite des Albums. Bis hier war „Whistle from
       Above“ eine faszinierende Folge folkgrundierter Instrumentals mit Tendenz
       zum Freak out. Bevor das Album auf der B-Seite verstärkt Zähne zeigt, hat
       Grubbs „Poem Arrives Distorted“ gesetzt, eine Studie in Atmosphäre und
       Verdichtung, Innehalten und Beschleunigung.
       
       [4][Das Klanggedicht mit Störfaktor verweist darauf, dass David Grubbs auch
       als Autor hervorgetreten ist und seine Veröffentlichungen in Berlin in der
       Buchhandlung „pro qm“ vorgestellt hat.] Der Laden im ehemaligen
       Scheunenviertel in Berlin-Mitte führt Literatur zu Stadt, Politik und
       Ästhetik, kurz gesagt zur Lebenswelt im Spätkapitalismus. An dessen Puls
       hat David Grubbs das Ohr, ohne plakativ zu werden.
       
       Wie ein musikalischer Werkstattbericht mutet „Later in the Tapestry Room“
       an, eine Collage disparater Signale und Stimmen. „Queen’s Side Eye“, wieder
       im Trio mit Cleek Schrey und Nate Wooley, greift die Einstiegsstimmung des
       genau gebauten Albums auf, fungiert als Ruhe vor dem Sturm und ist der
       passende Soundtrack zum Coverbild des Künstlerduos Jennifer und Kevin
       McCoy: „Ducks, Mist, Irrigation“, Enten, Nebel, Bewässerung in einer
       perspektivischen Collage.
       
       Für das Rückcover wurde David Grubbs schreiend fotografiert. Der Künstler
       klappt „Whistle from Above“ zu mit „Synchro Fade Pluck Stutter Slip“, einem
       Blitz, dem es die Sprache verschlagen hat. Von oben kommt tatsächlich nur
       noch ein Pfeifen.
       
       David Grubbs, den man zum anderen Amerika zählen darf, ist vor Kurzem in
       Großbritannien aufgetreten. Im Juni kommt er nach Barcelona. Deutschland
       darf hoffen. Und was die Eingangsfrage anbelangt: David Grubbs’ Vorstellung
       von Schönheit ist seine. Besser drum.
       
       16 Apr 2025
       
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