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       # taz.de -- Gedenken an das Ende Nazideutschlands: Putins Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg ist mehr Krieg
       
       > Russlands Regierung instrumentalisiert die Erinnerung an den
       > Nationalsozialismus. Auch die deutsche Erinnerungskultur hat blinde
       > Flecken.
       
   IMG Bild: Nicht dabei in Torgau: Soldaten marschieren während einer Probe für die Militärparade zum Tag des Sieges in St. Petersburg
       
       Einen Tag vor dem russischen Überfall auf die Ukraine stand ich mit einem
       Schoah-Überlebenden im Fahrstuhl. Er sagte: „Ich hoffe, wir wachen morgen
       nicht auf und es ist Krieg.“ Das war’s, er sagte Tschüss, wir gingen beide
       unserer Wege. In der Nacht schlief ich unruhig, am nächsten Morgen war
       Krieg.
       
       Wie kann und soll an den Zweiten Weltkrieg erinnert werden? Diese Frage
       stellt sich neu in einer Zeit, in der europäische, ukrainische Städte noch
       immer von Russland zerbombt werden, russische Soldaten in Absprache mit
       Verwandten am Telefon plündern, kulturelle Stätten zerstört werden,
       Schoah-Überlebende sich vor Raketen verstecken müssen.
       
       Wenn sich am 8. Mai das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal jährt,
       findet die Gedenkveranstaltung im Bundestag ohne die Botschafter Russlands
       und Belarus’ statt – eine Entscheidung, die in der seit über drei Jahren
       andauernden politischen Lage nachvollziehbar und notwendig ist.
       
       Die Empörung, besonders auf russischer Seite, ist groß und vorhersehbar:
       Man sieht sich als Opfer. Die russische Botschaft kündigt an, trotzdem nach
       Torgau reisen zu wollen – an jenen Ort, an dem US-amerikanische und
       sowjetische Truppen 1945 an der Elbe aufeinandertrafen.
       
       Bei Gedenkveranstaltungen kommen oft Nachfahren der Ermordeten, der
       Kämpfer, der Täter zusammen. Unterschiedliche Hintergründe, Erfahrungen,
       aber einen Konsens braucht es: Was aus dem Krieg gelernt wurde – und was
       nie wieder geschehen darf. Genau das fehlt.
       
       Der Kult um den „Großen Vaterländischen Krieg“ – der erst 1941 mit dem
       deutschen Überfall auf die Sowjetunion beginnt und den Hitler-Stalin-Pakt
       bewusst ausblendet – wurde unter Putin ins Absurde gesteigert. Die
       Erzählung geht ungefähr so: Das russische Volk allein (sic!) hat ein großes
       Opfer erbracht, um die Welt vom Nazismus zu befreien. Niemand will das
       anerkennen (sic!), deshalb prügeln wir ihnen das jetzt mit Bomben in ihren
       Schädel ein.
       
       Putin instrumentalisiert das Gedenken an den Sieg über den
       Nationalsozialismus, um den eigenen Angriffskrieg zu legitimieren.
       [1][„Denazifizierung“ wird als propagandistischer Vorwand bemüht], um den
       Krieg als Fortsetzung des antifaschistischen Kampfs zu tarnen. Eine
       Verdrehung, die nicht nur die Opfer der NS-Verbrechen beleidigt, sondern
       auch jene, die heute unter Putins Regime leiden.
       
       Stellen wir uns das mal vor: Eine Veranstaltung, die an die deutschen
       Kriegsverbrechen erinnert und mit dabei Vertreter eines Regimes, das die
       Ukraine vernichten will, sowie einer Diktatur, die ihre Bevölkerung für
       Freiheitsforderungen foltert und einsperrt. Klingt wie der Beginn eines
       sehr schlechten Witzes.
       
       Bis heute fehlt in Deutschland eine breitere Auseinandersetzung mit vielen
       Kapiteln dieses Kriegs. Viele Nachfolgestaaten der Sowjetunion, deren
       Bewohner in der Roten Armee kämpften und ebenfalls unter deutscher
       Besatzung litten, spielen im Gedenken eine kleinere Rolle. Dieses um ihre
       spezifischen Erfahrungen zu erweitern, ist längst überfällig – für ein
       ehrlicheres, umfassenderes Erinnern.
       
       Eine Teilnahme russischer Vertreter? Denkbar – aber nur, wenn sie sich
       glaubhaft vom Angriffskrieg distanzieren, sich gegen ihn engagieren und die
       Erinnerung nicht instrumentalisieren. Von russischen oder belarussischen
       Offiziellen ist das [2][aktuell nicht zu erwarten]. Es geht ihnen nicht um
       Gedenken, sondern um Macht, um ihr mörderisches Ego.
       
       Nichts weniger steht heute auf dem Spiel als die Wahrung der historischen
       Wahrheit. Niemand stellt die Verdienste der sowjetischen Bevölkerung
       infrage. Doch das Leid russischer Vorfahren darf nicht länger von einem
       Regime missbraucht werden, das selbst Kriegsverbrechen begeht.
       
       25 Apr 2025
       
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