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       # taz.de -- Altersvorsorge: In 100 Jahren braucht es kein Rentensystem mehr
       
       > Aktien, betriebliche Vorsorge, Sparbuch: Ein Zeitreisender erklärt, wieso
       > das in Zukunft alles nicht mehr nötig ist und welche Vorteile das
       > mitbringt.
       
   IMG Bild: Wenn der Rollator Trauer trägt – das Ende der Rente?
       
       Vor Kurzem fragte mich ein Student in einem US-amerikanischen
       Online-Seminar, ob die allgemeine Krankenversicherung, die in einem meiner
       Bücher erwähnt wird, ein utopisches Konzept von mir sei. Ich war irritiert
       über die Frage – immerhin hat [1][Otto von Bismarck] die
       Krankenversicherung für Arbeiter bereits 1883 eingeführt – und sagte, dass
       Krankenversicherungen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollten.
       Betretenes Schweigen im Videocall.
       
       Davon erzähle ich Felix, der mich aus dem Jahr 2125 besuchen kommt, um mir
       bei meinen Texten zu helfen. Beim Thema Krankenversicherung zuckt er nur
       mit den Schultern. „Ja klar gibt’s die in 100 Jahren noch – wir sind ja
       nicht bescheuert.“
       
       „Und wie ist das generell mit Arbeit und Rente und der sozialen
       Absicherung?“
       
       „Du musst verstehen, dass wir ein aufgeklärtes sozialökonomisches Gefüge
       haben“, sagt er. „Das, was in deiner Zeit als Work-Life-Balance bezeichnet
       und von vielen Älteren verlacht wird, ist in Wirklichkeit die zentrale
       Frage unserer Zeit, in der Wohlstand und Produktivität nicht mehr von der
       Arbeitskraft einer einzelnen Person abhängig sind.
       
       Eine Gesellschaft ist wie ein Orchester. Es kann nur gut klingen, wenn alle
       mitspielen und ihren Teil bestmöglich ausfüllen. Natürlich bekommen die
       Solisten den Applaus. Aber weder sie noch der Dirigent können alleine eine
       Symphonie spielen – man braucht schon das ganze Ensemble dafür. In eurer
       Gesellschaft ist es noch so, dass jeder Einzelne für die Menge der Noten
       bezahlt wird, die er spielt. Wir dagegen wissen, dass die Gesellschaft wie
       ein Orchester funktioniert und es allen zugutekommt, wenn jedes Mitglied
       des Ensembles bestmöglich gefördert wird. Und das können die Menschen nur –
       um ins reale Leben zurückzukommen – wenn das Gleichgewicht zwischen Leben
       und Arbeit gesund ist. Wenn sich Leute nicht in einem [2][Bullshitjob]
       aufreiben, von Urlaub zu Urlaub leben und die Rente herbeisehnen.
       
       Bei uns ist es hoch angesehen, wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt
       merkt, dass man in einem anderen Bereich glücklicher und besser für die
       Gesellschaft wäre. Es ist also jederzeit möglich, umzuschulen oder den
       Bereich zu wechseln, zum Beispiel für eine gewisse Zeit [3][Care-Arbeit] zu
       übernehmen, ehrenamtlich oder künstlerisch tätig zu sein.
       Selbstverständlich haben wir ein [4][bedingungsloses Grundeinkommen]. Auch
       ohne Lohnarbeit muss niemand in Armut leben.“
       
       „Die Rente ist also sicher“, frage ich grinsend.
       
       „Ich glaube, die meisten wissen nicht mehr, was die Rente ist, weil sie ein
       Konzept von Arbeitsleben und Nach-Arbeitsleben nicht mehr kennen. Aber eine
       Sache kann ich dir noch verraten: Manche Leute haben keine Lust auf dieses
       weichgespülte Zukunftsmodell und wollen lieber mit einem großen Knall
       abtreten. Wer weiß, dass er sterben muss, und nicht lange dahinsiechen
       will, kann in einem finalen Kampf abtreten.“
       
       „Mit wem soll er denn kämpfen? Mit den Pflegern?“
       
       „Nein, mit anderen Senioren.“
       
       „Das ist ja furchtbar!“
       
       „Für dich vielleicht, aber nicht für Menschen, deren Zeit sowieso bald zu
       Ende geht. Bei der Wahl zwischen Einschlafpille und glorreichem Zweikampf
       gibt es einige, die lieber im Kampf fallen wollen. Ich sage nicht, dass ich
       ein Fan davon bin, ich sage nur, dass es möglich ist. Und wer weiß,
       vielleicht bin ich in 60 Jahren ja auch so weit, dass ich lieber als
       Gerontogladiator in den Ring steige als ins Sterbebett.“
       
       26 Apr 2025
       
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