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       # taz.de -- Viviane-Sassen-Ausstellungen im Italien: Ihr unwirklicher Schlagschatten
       
       > Die Fotografin Viviane Sassen versteht sich als Bildhauerin, die mit
       > Licht arbeitet. In Reggio Emilia ist ihre ins Surreale reichende
       > Fotokunst zu sehen.
       
   IMG Bild: „Belladonna“ von Viviane Sassen (2010)
       
       Die Schlange, die sich aus Hunderten von auf- und aneinandergereihten
       Herrenjacketts durch den Raum windet, gibt gleich eine Vorstellung von der
       Idee, die Viviane Sassen für die von ihr selbst kuratierte Ausstellung
       „This Body Made of Stardust“ in der Sammlung Maramotti verfolgt. Die
       niederländische Fotografin interessiert sich für genau diesen skulpturalen
       Moment. Denn sie sieht sich selbst als eine Bildhauerin, die mit Licht
       statt mit Stein oder Metall Körper formt.
       
       Deshalb wählte sie die Arbeit „From Generation to Generation“ (2001) der
       finnischen Künstlerin Kaarina Kaikkonen aus der Kunstsammlung aus, die
       ursprünglich von Achille Maramotti (1927–2005) aufgebaut wurde. Der Jurist
       und Bankier hatte 1951 das Modelabel Max Mara erfolgreich auf den
       internationalen Markt gebracht und konnte sich seit den frühen 1960er
       Jahren seiner Leidenschaft für zeitgenössische Kunst widmen.
       
       Auch die anderen Werke aus der Sammlung, die Viviane Sassen in ihre Schau
       kuratiert hat – Fabrizio Prevedellos Beton-Stele „Cornerstone“ (2019),
       TARWUKs multiple Körperplastik „KLOSKLAS_74HRz.kkot (2021)“ und Evgeny
       Antufievs weißer Stoffkörper „Untitled“ (2013) – sind bildhauerische
       Arbeiten.
       
       ## Dreidimensional im Raum
       
       Viviane Sassen selbst hat ihre Fotografie zuletzt mit der Serie von
       Fotocollagen unter dem Titel „Cadavre Exquis“ wirklich dreidimensional in
       den Raum erweitert. Anders als [1][André Breton], Yves Tanguy, Jacques
       Prévert und [2][Marcel Duchamp,] die unter Cadavre exquis ihre Mitte der
       1920er Jahre entwickelte Methode verstanden, kollektiv, aber ohne Kenntnis
       der Beiträge der anderen, Bilder oder Texte zu produzieren, entstehen
       Sassens „köstliche Leichen“ in alleiniger Regie.
       
       Willkür und Zufall kann nur die Auswahl der Teile bestimmen, die Sassen in
       ihrem umfangreichen Archiv findet, um sie zu tatsächlich surrealen
       Körperhybriden räumlich übereinanderzublenden.
       
       Die Ikonografie und das Konzept des memento mori prägen die Ausstellung,
       wobei die Frage nach dem toten Körper, dem Leichnam, die Bilder deutlich
       beherrscht. Sei es ganz einfach in Form eines Sargs an undefiniert-urbanem
       Ort in der Fotografie „Coffin/Addis“(2015–2023), einer Grube in roter Erde
       in „Nadir“ (2007) oder der Goldfolie der Leichensäcke in „Three Kings
       (revisited)“ (2018).
       
       Letzterer Begriff deutet darauf hin, dass Viviane Sassen für ihre bislang
       umfangreichste Ausstellung in Italien nicht einfach auf eine Auswahl aus
       ihrem seit 2008 veröffentlichtem Werk zurückgreift. Vielmehr findet sie die
       gezeigten Fotografien im Prozess des ständigen Durcharbeitens ihres
       Archivs, wobei sie dann einzelne Bilder überarbeitet, collagiert, aber auch
       bemalt und übermalt.
       
       ## Malerische Eingriffe machen Unikate daraus
       
       Manche Aufnahmen werden durch den malerischen Eingriff zu Unikaten wie etwa
       die erwähnten „Drei Könige“, die auf einem komplett übermalten Hintergrund
       liegen. Bei anderen Aufnahmen wie „Chronos“ (2019), dem Bild eines halb
       abgeschlagenen Penis einer antiken Marmorstatue, bringt sie einen kleinen
       Farbklecks auf die Fotografie auf, beobachtet den Verlauf und fotografiert
       das Ergebnis. Das neue digitale Negativ ist dann Grundlage verschiedener
       Farbdrucke.
       
       Die unabdingbare Feier des Lebens im memento mori gelingt Sassen im
       großartigen Bild des kleinen Knaben, wie er aus dem tiefschwarzen
       Schlagschatten der Fotografin, für den sie berühmt ist, hervortritt und
       leuchtet: „Lucius“ (2010), der (in Abwandlung des berühmten Filmtitels von
       Alan Tanner) im Jahr 2025 etwa 20 Jahre alt sein wird. Dem gilt auch das
       großartige Motto „Being Twenty“ der 20. Ausgabe der Fotografia Europea. Das
       jährliche Fotografiefestival hatte jetzt am Wochenende in Reggio Emilia
       eröffnet.
       
       Zwanzig Jahre. Da leuchtet heute nichts. Da ist kein Sternenstaub.
       Stattdessen Gewalt, Überwachung und Kontrolle. Das ist der überwältigende
       Eindruck beim Rundgang über die Fotografia Europea. Selbst das Experiment
       kleiner Technopartys, die jenseits der bekannten Großveranstaltungen und
       damit illegal stattfinden, geht immer mit Gewalterfahrung einher, wie Vinca
       Petersons Serie „Raves ab Riots“ zeigt.
       
       Noch härter werden diejenigen angegangen, die [3][Maßnahmen gegen den
       menschengemachten Klimawandel fordern], so Michele Borzoni und Rocco
       Rorandelli, die für ihr Langzeitfotoprojekt „Silent Spring“ Klimaaktivisten
       begleiten. Freiheit wird den Zwanzigjährigen auf vielfältige Weise
       verwehrt. Und sei es, dass sie sich wie selbstverständlich für die Pflege
       kranker Familienmitglieder aufopfern, wie es Federica Sasso in berührenden
       Porträts dokumentiert.
       
       Die Pressereise zu den Ausstellungen wurde von Collezione Maramotti
       unterstützt.
       
       30 Apr 2025
       
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