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       # taz.de -- Film „Der Meister und Margarita“ im Kino: Die Opposition im Mainstream aufweichen
       
       > Regisseur Michael Lockshin hat die Romansatire „Der Meister und
       > Margarita“ von Michail Bulgakow aus der Zeit des Stalinismus verfilmt.
       > Eine Kritik.
       
   IMG Bild: Der Meister (Jewgeni Zyganow) und Margarita (Julia Snigir): im Stalinismus konnte der Roman nicht erscheinen
       
       Ohne dass jemand zu sehen wäre, öffnet sich hinter dem Portier eines
       Luxusapartmentgebäudes im Moskau der 1930er Jahre die Haustür. Als der
       Portier den verdächtigen Bewegungen von Gegenständen folgt, mehren sich die
       Zeichen: ein heruntergefallenes Namensschild, ein Lift, der die Stockwerke
       hinaufgleitet.
       
       In der Wohnung des Literaturkritikers Latunsky wirbelt von unsichtbarer
       Hand geführt ein Fleischerhammer durch die Luft und zerlegt die
       Einrichtung. Als Latunsky sich schließlich einen Weg durch die Nachbarn
       bahnt, die empört auf das Wasser verweisen, das unter der Tür hervorquillt,
       steht er vor einem Bild der Verwüstung.
       
       Michael Lockshins „Der Meister und Margarita“ beginnt mit imposanten
       Bildern eines mit viel Aufwand historisierten Moskaus – und mit einem
       Vorgriff aufs Ende seiner Handlung um einen Schriftsteller, der in die
       Mühlen der stalinistischen Kulturpolitik gerät, nur um dann
       unerwarteterweise vom Teufel selbst Unterstützung zu bekommen.
       
       ## Werk und Autor verurteilt
       
       Für den Protagonisten (Jewgeni Zyganow) beginnen die Probleme, als sein
       Theaterstück „Pilatus“ ohne Kommentar plötzlich abgesetzt wird. Nur Stunden
       später wird er in der Schriftstellervereinigung zum Gegenstand einer
       inquisitorischen Anhörung, die vom ersten Moment an, in der der
       Versammlungsleiter den Kriker Latunsky um seine Stellungnahme zu „Pilatus“
       bittet, auf die Verurteilung des Werks und seines Autors hinausläuft.
       
       Am selben Abend lernt der Autor den mysteriösen Deutschen Woland (August
       Diehl) kennen, der als nunmehr einziger den Kontakt zu dem in Ungnade
       gefallenen Autor sucht.
       
       Wieder allein, lernt der Autor am nächsten Tag am Rande der Maiparade eine
       schöne Unbekannte (Yuliya Snigir) kennen, mit der er durch die Innenstadt
       Moskaus spaziert. Inmitten der computergenerierten nicht realisierten
       Bauten des Neuen Moskaus finden die beiden auf der Flucht vor ihrem
       bisherigen Leben – beziehungsweise aus diesem verstoßen – zueinander.
       
       ## Hochphase der stalinistischen Paranoia
       
       Gleich in seinem zweiten Film verschlug es Lockshin in die Verfilmung eines
       der bekanntesten Romane der sowjetischen Literatur. [1][Michail Bulgakows]
       „Der Meister und Margarita“ entstand während der Hochphase der
       stalinistischen Paranoia von 1928 bis wenige Monate vor Bulgakows Tod im
       März 1940. Aufgrund der kleinbürgerlichen Kulturpolitik des Stalinismus
       konnte der Roman wie die meiste Prosa Bulgakows zu dessen Lebzeiten nicht
       erscheinen.
       
       Ab November 1966, kurz nachdem Leonid Breschnew Generalsekretär der KPdSU
       geworden war, erschien der Roman in einer stark zensierten Fassung in der
       literarischen Monatszeitschrift Moskau und wurde auf der Basis dieser
       Fassung umgehend in zahlreiche Sprachen übersetzt, unter anderem auch ins
       Deutsche und Englische. 1973 erschien erstmals eine vollständige Ausgabe.
       Bulgakows Roman gilt bis heute als eine der besten Satiren der sowjetischen
       Literatur.
       
       ## Anspielungen auf Lebenswerk
       
       Lockshins Adaption von Bulgakows Roman durchwebt diesen mit Anspielungen
       auf Bulgakows Leben und Werk. So ist es nicht wie in der Vorlage ein Roman
       über Pontius Pilatus, der dem Autor die Verbannung aus der Gunst des
       stalinistischen Kulturbetriebs einbringt, sondern wie in Bulgakows
       Künstlervita ein Theaterstück.
       
       Der Vorgängerfilm des Regisseurs, dessen Langfilmdebüt „Silver Skates“,
       eröffnete im Oktober 2020 das internationale Filmfestival in Moskau. Der
       Weihnachtsblockbuster handelt von einem Schlittschuhkurier, der sich im
       Sankt Petersburg der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in die
       Tochter einer adligen Familie verliebt. Die harmlose Handlung entfaltet
       sich in den Winterklischees eines schneebedeckten, opulenten Sankt
       Petersburg und seiner Kanäle.
       
       Der Film entstand mit erheblicher Unterstützung der russischen Behörden und
       löste einen Miniskandal aus, als die Farbe, mit der die Holzplanken, die
       das Eis stabilisierten, das Wasser der Kanäle der Stadt vergiftete. Trotz
       eines reduzierten Kinostarts in Zeiten der Pandemie feierte der Film
       Erfolge und wurde im Zuge dieser Erfolge von Netflix erworben, wo der Film
       ebenfalls gut lief.
       
       Mit diesem Siegeszug im Rücken wurde er von dem Produktionskonsortium aus
       russischen Oligarchen und der Kinostiftung des russischen Staats für Regie
       von „Meister und Margarita“ gewonnen, die unterdessen vakant war. Das
       Projekt hatte 2018 begonnen und ursprünglich hatten die Produzenten Ruben
       Dishdishyan (bisher vor allem durch nicht selten patriotische
       Historienfilme bekannt) und Igor Tolstunov (ein Fernsehproduzent) den
       russischen Blockbuster-Regisseur Nikolai Lebedew für die Regie vorgesehen.
       Als dieser 2020 ausstieg, übernahm Lockshin und schrieb gemeinsam mit Roman
       Kantor ein neues Drehbuch. Der Film wurde 2021 gedreht.
       
       ## Universal stieg aus der Produktion aus
       
       Nachdem Russland im Februar 2022 seine Kampfhandlungen gegen die Ukraine in
       den bis heute andauernden genozidalen Krieg ausgeweitet hatte, stieg
       Universal aus der Produktion aus, und der Kinostart verzögerte sich immer
       wieder, bevor der Film schließlich im Januar 2024 in russischen Kinos
       anlief und im März in Yale seine internationale Premiere feierte.
       
       Lockshin wurde 1981 in den USA als Sohn des Krebsforschers Arnold Lockshin
       geboren. Sein Vater, langjähriges, aktives Mitglied der kommunistischen
       Partei der USA, verlor Ende der 1980er Jahre unter unklaren Umständen seine
       Arbeit und ging mit seiner Familie in die UdSSR, wo er Asyl beantragte.
       Michael Lockshin studierte in Moskau und wechselte anschließend nach
       London, wo er als Werbefilmer arbeitete. Seit 2021 lebt er in Los Angeles.
       
       „Der Meister und Margarita“ wurde in Russland nach seinem Kinostart
       überschwänglich aufgegriffen, und nicht selten wurden dem Film Parallelen
       zum Russland unter Putin unterstellt. Nur ein paar nationalistische Eiferer
       geiferten, was egal wäre, würde Russland nicht von nationalistischen
       Eiferern mit Drang zum Vernichtungskrieg regiert.
       
       Das größere Problem aber ist: „Der Meister und Margarita“ ist kein
       besonders gutes Werk. Es ist als Phänomen interessanter denn als Film.
       Lockshin inszeniert Bulgakows Roman wie die Schlittschuhfahrer im
       Vorgängerfilm und versteht keine Sekunde, dass es mehr bräuchte als gute
       Ausstattung und schöne Kulissen, um der Komplexität des Romans auch nur
       halbwegs gerecht zu werden. Lockshin schafft es, einen gut
       zweieinhalbstündigen Film zu inszenieren, ohne eine einzige filmische Idee
       zu haben. Es ist fast schon folgerichtig, wenn er für die letzte halbe
       Stunde seines Films auf einen Schauwert setzt, mit dem männliche Regisseure
       halbgare Filme noch immer zu retten versuchen, und seine Hauptdarstellerin
       sich auszieht.
       
       ## Generischer Blockbuster
       
       Lockshins Film sieht so aus, wie ihn Nikolai Lebedew vermutlich auch
       gedreht hätte: ein generischer, mittelguter Blockbuster ohne jede Relevanz
       für die Gegenwart, produziert vom Mainstream des russischen Films. Gerade
       weil er kein sinnvoller oppositioneller Film ist, hätte dem Film nichts
       Besseres widerfahren können, als von russischen Nationalisten angegriffen
       zu werden.
       
       „Der Meister und Margarita“ ist eine russische Großproduktion, die – ganz
       im Stile von Koproduktionen überall – durch die Einbeziehung von
       westeuropäischen Schauspielern – dem deutschen Schauspieler August Diehl
       als Woland und dem dänischen Schauspieler Claes Bang als Pontius Pilatus –
       seine Vermarktungschancen verbessern wollte.
       
       Nachdem Putin seinen Krieg gegen die Ukraine und Europa seit 2022
       eskaliert, waren diese Chancen stark gesunken. Nun hat der Film doch noch
       seinen Weg in deutsche Kinos gefunden. Wer trotz Sonne und zahlreichen
       besseren Filmen, die in den nächsten Wochen in die Kinos starten kann,
       nichts Besseres zu tun hat, kann hingehen. Alle anderen können es guten
       Gewissens lassen.
       
       1 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Science-Fiction-von-Michail-Bulgakow/!5022034
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
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