URI: 
       # taz.de -- Orthodoxie in Estland: Religion als Sicherheitsrisiko
       
       > Das Parlament stimmt Änderungen des Kirchengesetzes zu. Diese richten
       > sich an die orthodoxe Kirche im Land, die immer noch mit Moskau verbunden
       > ist.
       
   IMG Bild: Kriegsbefürworter mit Friedenstaube: für Patriach Kirill kein Widerspruch, am 7. April 2025 in Moskau
       
       Berlin taz | In ihrem Bemühen, einer weiteren Einflussnahme der Russischen
       Orthodoxen Kirche auf deren Gläubige in Estland einen Riegel vorzuschieben,
       macht die Regierung in Tallinn jetzt ernst: Am Mittwoch stimmte das
       estnische Parlament (Riigikogu), dem 101 Volksvertreter*innen
       angehören, für Veränderungen des mehr als 20 Jahre alten „Gesetzes über
       Kirchen und Pfarreien“. Von den 89 anwesenden Abgeordneten votierten 60 mit
       Ja und 13 mit Nein. 16 gaben ihre Stimme nicht ab.
       
       Innenminister Igor Taro zufolge, den der estnische öffentlich-rechtliche
       TV- und Radiosender Eeste Rahvusringhääling (ERR) zitiert, präzisiere der
       Gesetzentwurf die Regeln für die Verwaltung religiöser Vereinigungen. So
       würden beispielsweise wirtschaftliche Verbindungen zu religiösen Strukturen
       beschränkt, die mit Regierungen von Staaten verbunden seien, die Estland
       feindlich gesinnt seien.
       
       „Das Hauptanliegen des estnischen Staates ist es, die Sicherheit und
       verfassungsmäßige Ordnung zu gewährleisten und den hier lebenden Menschen
       Frieden und Ruhe zu garantieren. Wir werden dafür sorgen, dass die
       Religionsfreiheit gewahrt bleibt und dass Religion in Zukunft nicht gegen
       unseren Staat und unser Volk verwendet werden kann“, so Taro.
       
       Angesichts der veränderten Sicherheitslage bleibe den in Estland agierenden
       Strukturen keine andere Wahl, als die Verbindungen zum Moskauer Patriarchat
       abzubrechen und sich von den Narrativen und dem Einfluss des Kremls zu
       befreien. Als Bedrohung für Estland werden in diesem Zusammenhang Aufrufe
       zum Krieg, zu terroristischen Verbrechen, zur Gewalt oder Unterstützung
       militärischer Aggressionen angesehen.
       
       ## Stimmrecht bei Kommunalwahlen
       
       Des weiteren wird präzisiert, wer als Geistlicher in Estland tätig sein
       kann. Dies ist nicht möglich, wenn eine Person aus irgendeinem Grund keinen
       ständigen Wohnsitz in Estland hat oder ihr der Aufenthalt dort untersagt
       ist – zum Beispiel aus Sicherheitsgründen. Unabdingbar ist außerdem ein
       Stimmrecht bei Kommunalwahlen. Im März hatte das Parlament für eine
       Verfassungsänderung gestimmt, die die russische Minderheit (21,5 Prozent
       der Bevölkerung) und andere nicht-europäische Bürger*innen vom Wahlrecht
       bei Kommunalwahlen ausschließt. Laut Innenministerium müsse auch das
       Religionsgesetz entsprechend angepasst werden.
       
       Die religiöse Landschaft in dem baltischen Staat mit 1,37 Millionen
       Einwohner*innen ist komplex. Rund 60 Prozent sind konfessionslos. 16
       Prozent sind orthodoxen Glaubens, acht Prozent Protestant*innen. Derzeit
       gibt es zwei orthodoxe Kirchen: Die Estnische Apostolische Orthodoxe
       Kirche, die autonom ist und dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel
       untersteht und die [1][estnisch-othodoxe Kirche Moskauer Patriarchiat
       (EPZMP)], die seit einer Namensänderung am 2. April 2025 jetzt
       Estnisch-orthodoxe christliche Kirche (EPCHZ) heißt. Sie untersteht laut
       Statut weiter dem Moskauer Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche,
       Kyrill I.
       
       Spätestens seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine am
       24. Februar 2022, den Kirill I. als „heiligen Feldzug“ preist, haben sich
       die Beziehungen zwischen der estnischen Regierung und der EPCHZ stetig
       verschlechtert. Mehr als einmal war deren Oberhaupt, Metropolit Ewgeni (mit
       bürgerlichem Namen Waleri Reschetnikow) aufgefordert worden, sich vom
       Moskauer Patriarchen zu distanzieren.
       
       Vergeblich. Im Januar 2024 wurde Ewgenis Aufenthaltserlaubnis nicht
       verlängert – aus Sicherheitsgründen. Er habe bei öffentlichen Auftritten
       die Taten des Aggressors weiterhin unterstützt, wie es offiziell hieß.
       [2][Der Metropolit musste Estland verlassen].
       
       ## Metropolit schweigt
       
       Beim Weltkonzil des Russischen Volkes (WPNS) unter Kyrills Schirmherrschaft
       im März 2024 wurde ein Dokument verabschiedet. Das gesamte Gebiet der
       heutigen Ukraine müsse in die Einflusszone Russlands einbezogen werden,
       hieß es darin. Zudem erklärte Kirill, dass die postsowjetischen Länder
       (einschließlich Estland) sich in diesen Einflussbereich begeben sollten –
       was einer faktischen Forderung ihrer Auflösung als unabhängige Staaten
       gleichkommt.
       
       Die EPCHZ distanzierte sich von den Äußerungen, Metropolit Ewgeni hüllte
       sich in Schweigen. Kurz darauf kündigte der damalige Innenminister Lauri
       Läänemets die Möglichkeit an, dass der Staat die Einstellung der
       Aktivitäten jener Gemeinden und Klöster auf dem Rechtsweg anstreben werde,
       die weiter der direkten Gerichtsbarkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche
       unterstünden. Eine Eskalation solle jedoch vermieden werden.
       
       Im vergangenen August nahm die EPCHZ eine Satzungsänderung vor und tilgte
       einen Passus über die Unterordnung unter Moskau. Das reichte einem
       Bezirksgericht in Tartu nicht aus. Kurz darauf stellte der Wortführer der
       EPCHZ, Bischof Daniel, klar, dass seine Kirche sich nicht der Estnisch
       Apostolischen Orthodoxen Kirche anschließen werde und an Metropolit Ewgeni
       festhalten wolle.
       
       Letzter Schritt in der Auseinandersetzung ist besagte Namensänderung vom 2.
       April. In einer Stellungnahme der EPCHZ heißt es: „Der neue Name
       unterstreicht unsere Mission – allen Einwohner*innen Estlands zu dienen
       und gleichzeitig die jahrhundertealten Traditionen der Orthodoxie in
       Estland kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Wir streben danach, ein offener
       und integraler Teil der estnischen Gesellschaft zu sein.“
       
       ## Das Gesetz könne zu Unruhen führen
       
       An kritischen Stimmen zu den jüngsten Gesetzesänderungen mangelt es nicht.
       Das neue Gesetz könne zu Unruhen oder sogar Ausschreitungen unter den
       russischsprachigen Einwohner*innen des Landes führen, glaubt Martin
       Helme, Vorsitzender der oppositionellen rechtspopulistischen Estnischen
       Konservativen Volkspartei EKRE. In Estland sei es in letzter Zeit normal
       geworden, dass jemand „Putin, Putin“ rufe und man sofort und mit
       Leichtigkeit die Verfassung mit Füßen trete. Doch darin sei ganz klar die
       Religionsfreiheit festgeschrieben.
       
       Wadim Belobrowzew von der sozialpopulistischen Estnischen Zentrumspartei
       (sie sieht sich als Vertreterin der Interessen russischspachiger
       Est*innen im Parlament) hält das Gesetzesprojekt für verfassungswidrig.
       Der Grundsatz der Religionsfreiheit werde verletzt, das führe zu einer
       Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Der Staat solle sich nicht in die
       Angelegenheiten der Kirche einmischen, zietiert die Deutsche Welle
       Belobrowzew.
       
       Jetzt ist der Präsident Alar Karis am Zug, der das Gesetz unterzeichnen
       muss. Sollte es in Kraft treten, hat die EPCHZ zwei Monate Zeit, um ihre
       Statuten der neuen Gesetzeslage anzupassen.
       
       Laut des estnischen Webportals Postimees gehe die Anzahl derjenigen, die
       Maßnahmen zur Trennung der EPCHZ vom Moskauer Patriarchat für
       gerechtfertigt halten, zurück. Dies geht aus einer von der Staatskanzlei in
       Auftrag gegebenen Umfrage hervor. Waren 2024 noch 60 Prozent der Befragten
       dafür, lag dieser Wert im März bei 55 Prozent.
       
       12 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Orthodoxe-Kirche-in-Estland/!5913124
   DIR [2] /Religion-in-Estland/!5986726
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
       ## TAGS
       
   DIR Estland
   DIR Russisch-Orthodoxe Kirche
   DIR Religion
   DIR GNS
   DIR Social-Auswahl
   DIR GNS
   DIR Orthodoxie
   DIR Kirchentag 2023
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Religion in der Ukraine: Nächstes Kapitel im Kirchenkampf
       
       Das ukrainische Parlament beschließt ein Verbot der Ukrainisch-Orthodoxen
       Kirche (Moskauer Patriarchat). Mit Widerstand ist zu rechnen.
       
   DIR Lettischer Pastor über Krieg: „Das ist Russophobie“
       
       Die lettische anglikanische Kirche sei liberal, sagt Pastor Valdis
       Tēraudkalns. Er ist gegen ein Schwarz-Weiß-Denken im Krieg.
       
   DIR Differenzen mit Patriarch Kyrill I.: Orthodoxe unter sich
       
       Ein neues lettisches Gesetz veranlasst die Loslösung der
       lettisch-orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat. Dort ist man stramm
       auf Kremlkurs.