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       # taz.de -- Onlineplattform nebenan.de: Frag mal die Nachbar:innen
       
       > Die Nachbarschafts-Plattform ist eine Tauschbörse für Dinge. Sie hilft
       > Menschen aber auch, Einsamkeit zu überwinden.
       
   IMG Bild: Nachbarschaftsfest in Berlin
       
       Berlin taz | Eigentlich habe sie auf nebenan.de nur einen Garten gesucht,
       in dem sie Ruhe finden könne, schreibt Mia. S. der taz. „Ich war in einer
       heftigen Krise mit schlimmen Panikattacken und dachte mir, dass bestimmt
       niemand darauf reagiert.“ Aber dann meldete sich doch jemand über die
       Nachbarschafts-Plattform. „Mittlerweile sind wir Freunde, sie akzeptiert
       mich mit meinen Panikattacken, wir arbeiten viel zusammen im Garten und
       ich darf dort jederzeit hin. Ich habe ihre Freunde kennen gelernt und wurde
       von allen positiv angenommen … Als wäre es das normalste der Welt, dass ich
       dazugehöre.“
       
       Geschichten wie diese soll es dank nebenan.de zuhauf geben, so das
       Unternehmen Good Hood, das die Plattform betreibt. Im „Wirkungsbericht
       2024“ liefert das 2015 gegründete Berliner Start-up Zahlen: So sollen sich
       10 Prozent der regelmäßigen Nutzer:innen weniger allein fühlen, 83
       Prozent hätten sich in ihrer Nachbarschaft engagiert und 50 Prozent für
       gemeinsame Aktivitäten verabredet. 30 Prozent gäben an, darüber
       Gleichgesinnte gefunden zu haben.
       
       Das klingt ermutigend angesichts der Einsamkeit, mit der immer mehr zu
       kämpfen haben – laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Techniker
       Krankenkasse 14 Prozent der Menschen in Berlin und Brandenburg. Und
       beeindruckend für eine Zeit, in der man sich zunehmend in geschlossenen
       Blasen bewegt.
       
       Die Bekanntschaft mit Ingrid A. wäre ohne nebenan.de wohl kaum zustande
       gekommen, im Rollstuhl ist sie nur selten unterwegs. Die 69-Jährige meldet
       sich sofort auf das Gesuch nach einem Rollator – und verleiht ihn samt
       Anleitung und Geschichten aus ihrem bewegten Leben. Im Gegenzug kriegt sie
       die gewünschte Topfblume.
       
       ## Hilfe im Alltag
       
       Ingrid A. lebt allein. Wenn sie raus will, braucht sie Hilfe. Über
       nebenan.de finde sie diese eher nicht. „Die meisten Aktiven wohnen im
       Nachbarkiez“, sagt sie – auf nebenan.de ist man auch mit angrenzenden
       Kiezen vernetzt. Dass Leute für eine kranke Nachbarin um die Ecke
       einkauften, passiere häufig, erzählt Ingrid A. Sie wohne jedoch zu weit
       weg, als dass sie jemand zur beworbenen Chorprobe schiebe.
       
       Jetzt freut sie sich über eine Mikrowelle, die ihr eine Nachbarin
       vorbeibringen wolle. Also hat ihr Kommentar gefruchtet – A. hatte unter
       einem Mikrowellen-Gesuch „Ich brauche auch eine“ geschrieben. „Und weil
       mich die Frau eh schon länger kennen lernen will, haben wir uns jetzt zum
       Kaffee verabredet.“
       
       Auch bei Shardul G. (32) führt meist ein Ding zum ersten Kontakt, er
       schenkt und bekommt geschenkt. Er komme aus Indien, erzählt er der taz, für
       ihn sei nebenan.de der beste Weg, um Deutschen zu begegnen, sonst habe er
       dafür wenig Gelegenheit. „Die älteren Leute sind süß. Das Beste ist, dass
       sie kein Englisch können. Und sie haben Zeit, mit mir Deutsch zu sprechen.“
       
       Auch Gleichaltrige hat Shardul G. über nebenan.de kennen gelernt. „Als ich
       einzogen bin, habe ich gefragt, ob jemand Werkzeug hat. Eine Person hat
       sich gemeldet“, erzählt er. „Als wir den Schrank zusammen aufgebaut haben,
       merkten wir, dass zwischen uns ein guter Vibe ist, und sind danach
       spazieren gegangen. Heute sind wir gute Freunde.“ Vier Freundschaften hat
       Shardul G. über das Netzwerk geschlossen. „In Indien gibt es sowas nicht“,
       sagt er, „aber da kennt man sich aber auch in der Nachbarschaft.“
       
       ## 3 Millionen Nutzer:innen
       
       Der Erfolg von nebenan.de – mit über drei Millionen Mitgliedern bundesweit
       – lässt über die hiesige Nachbarschaftskultur nachdenken. Für viele
       bedeutet die Annahme von Hilfe die Pflicht zu einer Gegenleistung – das
       wollen sie lieber nicht. Andere fürchten, der Nachbar könne ihnen zu sehr
       auf die Pelle rücken. Einmal habe sie einer jungen Familie kostenlos die
       Wohnung geputzt, berichtet Annett H.: „Ich dachte, vielleicht kriegst du
       einen Fuß rein und darfst mal aufs Baby aufpassen“, sagt sie. „Aber das war
       denen wahrscheinlich zu nah.“
       
       Annett H. ist nach einer Scheidung von Brandenburg nach Berlin gezogen, mit
       dem Single-Dasein kam das Gefühl der Einsamkeit. Auf einer Konzertkarte
       entdeckte sie den QR-Code von nebenan.de und meldete sich an. „Ich hab
       darüber eine tolle Gruppe für mein neues Hobby Billard entdeckt“, berichtet
       sie. „Das ist mein Highlight der Woche, wir treffen uns jeden Donnerstag.“
       
       Ob Kiezküche, Mieterveranstaltung oder Kreativnachmittag, durch nebenan.de
       weiß H. immer, was los ist im Viertel. Die Adventskalenderaktion hat ihr
       besonders gefallen. „Jeder hat einen Tag übernommen“, erzählt sie. „Ich
       habe Rumtopf in kleine Fläschchen gefüllt, andere haben Kaffee oder einen
       Keks reingemacht.“ Sehr hätten sie die „kleinen Dinge fürs Herz“ gerührt:
       „Manche haben einen guten Start in die Woche gewünscht, weil sie wussten,
       dass ihre Nummer an einem Montag dran ist.“
       
       Kleine Gesten mit großem Effekt finden sich häufig auf nebenan.de. So
       verteilte jemand selbstgebastelte Wichtel im Plänterwald und erntete dafür
       viele Daumen – die stehen auf nebenan.de für „Danke“. Gitta T. (73)
       schreibt eines Abends, dass die Heizung ausgefallen ist und sie friert.
       Jemand bietet einen Ölradiator an, den sie aber gar nicht will. „Ich wollte
       es einfach nur kundtun“, erklärt sie. Dass jemand auf ihren Post reagiere,
       tue ihr schon gut.
       
       Gitta T. ist schon seit 2016 dabei. Ein Sternchen ziert ihr Profilbild –
       sie ist ein sehr aktives Mitglied. Auf nebenan.de hat sie zum „perfekten
       Dinner“, Spieleabend und Seniorentreffen eingeladen. In ihre freudigen
       Erzählungen mischt sich allerdings auch Bitterkeit. „Ich habe gemerkt: Wenn
       ich nicht aktiv werde, kommt von den anderen nichts. Das ist manchmal ganz
       schön nervig“, sagt sie.
       
       An einen Nachbarn erinnere sie sich jedoch gern: „Wolfgang stellte die
       Frage, wer mal im Cabrio mitfahren möchte. Oh, hab ich gedacht, das ist was
       für mich. Dann sind wir nach Müggelheim gefahren – er hat Essen und
       Getränke spendiert.“ Wolfgang habe jemand zum Reden gesucht, er habe eine
       schlimme Beziehung hinter sich gehabt. „Ich erzähl ja auch gerne, aber ich
       habe mucksmäuschenstill danebengesessen.“ Die nächste Cabriofahrt sei zur
       Semperoper nach Dresden gegangen, erzählt T., nicht ohne mit Bedauern
       hinzuzufügen: „Mehr ist leider nicht daraus geworden.“
       
       Wie in analogen Beziehungen gilt es auch auf nebenan.de die gegenseitigen
       Erwartungen abzugleichen und sich über das „Wie und Was“ zu verständigen –
       was nicht immer glückt, mitunter zu Enttäuschungen oder gar zu Übergriffen
       führt. Eine junge Frau schreibt: „Ich habe einmal Unterstützung bei der
       Reparatur eines Fahrrads und mit einem Schrank benötigt. Beim ersten Mal
       wollte mir der Typ die Welt erklären und hat von irgendwelchen sexy Frauen
       im Minirock berichtet. Beim Schrank hab ich den Typen nur schwer wieder aus
       der Wohnung bekommen, und er wollte sich unbedingt wieder treffen. Meine
       Erkenntnis: Ich zahle lieber für die Reparatur und spare mir dafür die
       Belästigung.“
       
       Auch von einem Betrugsfall wird berichtet: Ein Wellnessgutschein, auf dem
       Marktplatz von nebenan.de verkauft, entpuppte sich als längst eingelöst.
       Nebenan.de hat für solche Fälle einen Melde-Button. Geschehen sei aber
       bisher nichts, sagt die betroffene Frau, die Nachbarin sei nach wie vor in
       der digitalen Nachbarschaft unterwegs.
       
       ## Umgang mit Hatern
       
       So wie auch der Mann, der die Plattform immer wieder für Pöbeleien nutzt.
       „Manche Beiträge werden gesperrt, wenn ich etwas melde“, erklärt Silvia H.,
       die schon lange dabei ist. Dass der Störer nach einer Meldung verschwinde,
       passiere eher nicht. „Es ist aber gut zu sehen, dass jemand sofort
       widerspricht, wenn zum Beispiel was Rassistisches gepostet wird“, sagt sie.
       „Ich muss das gar nicht mehr oft machen. Wir sind mehr und auch bunter
       geworden.“
       
       Verglichen mit anderen sozialen Netzwerken halte sich die Zahl der Hater
       auf nebenan.de in Grenzen, sagen alle Befragten, der Ton sei meist sehr
       freundlich. Tatsächlich wimmelt es nur so vor Herzen und Daumen, da wird
       Mitgefühl gespendet, wenn eine Katze entlaufen ist, und applaudiert, wenn
       die Bürgerinitiative erfolgreich war. Auch gibt es ein großes „Dankeschön“,
       das man posten kann, wenn man Rat oder Hilfe erhalten hat. Vielleicht führt
       ja der Umstand, dass man Nachbar:innen jederzeit über den Weg laufen
       kann, zu diesem guten Umgang Zudem könnte der Gedanke, man könne die
       anderen ebenfalls einmal brauchen, eine gewisse Rolle spielen.
       
       Und auch kommerzielle Interessen spielen manchmal mit rein – lokale
       Gewerbetreibende tummeln sich auch bei nebenan.de, so wirbt Tobias Kallauch
       (58) hier etwa für seine Hundeschule. Aber auch als Bürger ist Kallauch auf
       nebenan.de aktiv. Eine Veranstaltung von Mehr Demokratie e. V. habe ihn
       darüber ins Grübeln gebracht, was er für ein besseres soziales Miteinander
       tun könne, erzählt er.
       
       Über nebenan.de sei er auf die Kirchengemeinde aufmerksam geworden, die
       dort für interkulturelle Veranstaltungen werbe. „Ich habe die Pfarrerin
       angeschrieben. Wir sind spazieren gegangen, und ich hab die Idee
       aufgebracht, im Pfarrgarten alle zwei Wochen Feuer zu machen. Das fand sie
       großartig.“
       
       Motiviert durch diese Erfahrung hat Tobias Kallauch seine Fühler gleich
       wieder ausgestreckt: Eine Gruppe hat gepostet, dass sie
       Mitstreiter:innen für die Gründung eines Nachbarschaftszentrums sucht.
       Da will er jetzt mitmachen.
       
       15 May 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karlotta Ehrenberg
       
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