URI: 
       # taz.de -- Neues Buch „das abc der sissi tax“: Text nach Tax
       
       > Die österreichische Autorin Sissi Tax zielt mit ihrer Poesie auf die
       > Etablierung einer radikalen Schriftmündlichkeit ab. Ihr neues Buch
       > empfiehlt sich als Wörterbuch.
       
   IMG Bild: Schriftstellerin Sissi Tax hat die österreichische Literaturszene mitgeprägt
       
       Zum Stichwort „Wörterbuch“ notiert der US-amerikanische Aphoristiker
       Ambrose Bierce in seinem „Wörterbuch des Teufels“ (1911), dieses sei „eine
       üble literarische Erfindung, um das Wachstum einer Sprache zu behindern und
       sie hart und ungeschmeidig zu machen.“ Auch „das abc der sissi tax“ gibt
       sich als „wörterbuch“ zu verstehen. Die es geschrieben hat, Sissi Tax, hat
       die österreichische Literaturszene als Redakteurin der manuskripte lange
       Zeit mitgeprägt. Die 1954 in Graz geborene Autorin lebt seit vierzig Jahren
       in Berlin.
       
       Nach längerer Pause legt Tax eine stilistisch-ontologische Travestie vor,
       die sich in orgiastische Einschübe kleidet, in edle Albernheiten
       („sterzgelb“) und beherzte Anagrammierung („laskcihcs“ zu „schicksal“)
       verwickelt und nicht zuletzt durch geheimnisvolles Beschwören eines letzten
       Hemdes für heiteres Unbehagen sorgt. Ein „kleines durcheinander“ (Buch)
       stellt sich dem „großen schönen durcheinander“ (Welt) entgegen. Das
       kleinere der beiden beginnt abrupt, in den lakonischen Passagen dominiert
       die Lust an den sogenannten 'kleinen Worten‚ und Interjektionen: ach, auch,
       durch, hinzu, indes, o, ziemlich.
       
       Gesucht wird von Tax eine „erregung“, die alles betrifft: „mann und maus,
       kind und kegel, hegel und schelling, schilling und groschen, penny lane und
       kalauer“.
       
       Stabreimmassaker und Lautassoziationen fügen sich mit Lyrismen („prangende
       sternlein“) und einer Romantikpatina, wie etwa August von Platens
       Tristan-Kitsch oder Heinrich Heines Matratzengruft, zu einer wahren
       Kavalierstart-Prosa, deren quietschende Wort- und Verbkaskaden wie direkt
       aus dem [1][„Tristram Shandy“] entnommen scheinen; über das große und das
       kleine Durcheinander heißt es: „beiden steht der sinn nach einem geordneten
       durcharbeiten im sinn von durchatmen, durchbeißen und durchbogerln,
       durchbrechen, durchfallen, durchgehen und durchhalten, durchhauen,
       durchhecheln, durchheucheln […]“
       
       Ferne Ähnlichkeit hat „das abc der sissi tax“ mit Elisabeth Wandeler-Decks
       „Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher“ (2022). Dass solche Radikalpoesie
       nicht auf der Strecke blieb, ist letztlich Verdienst des Klagenfurter
       Ritter Verlags. Man muss schon nach Wien zu Klever gucken oder in Urs
       Engelers Roughbooks, um eine ähnlich große Schar Schreibender anzutreffen,
       die Utopie mit poetisch-essayistischer Artistik kombiniert.
       
       ## Verzicht auf Ebenmäßigkeit
       
       Vom gängigen Essay unterscheidet sich auch das „wörterbuch“ von Sissi Tax
       durch völligen Verzicht auf Ebenmäßigkeit, durch Pfeifen aufs
       Reputationsmanagement. Das Wort „gefallsucht“ taucht früh als
       Habitus-Marker auf. Ziel dieses Schreibens ist die Etablierung einer
       Schriftmündlichkeit. Sorgsam rhythmisiertes Quasseln („anna und koluth“)
       trifft auf Ewigkeitsthemen wie Identität, Lust, Altern, Trauer, Tod:
       „gewiss ist ja nichts außer dem gewissen etwas. und außer jenem
       inbegrifflich gewissen. und, dass gewissheit erst dann besteht, wenn zu
       spät erspäht.“
       
       Dieser auf Soziolekten, Mundart und Eigentlichkeitsjargon (Adorno über
       Heidegger) glorios errichtete performative Widerspruch wäre mit Gewinn für
       die Lesenden mittels eines QR-Codes zu einer Audiodatei ohrenfällig zu
       machen gewesen. Der „anarchisch-persönliche“ Impetus, mit dem der
       Klappentext berechtigterweise für das Buch wirbt, bleibt durch das
       Versäumnis etwas unterentwickelt. Dabei ist Text, nach Tax, nur eine
       Option: „die form verwerfend, setze ich auf die figur. […] freilich nur
       unter umständen. […] unter den schönen umständen, die schöne zustände
       bewirken […]“.
       
       Ambrose Bierce deklarierte für seinen Fake-Diktionär: „Das vorliegende
       Wörterbuch ist jedoch ein überaus nützliches Werk.“ Für „das abc der sissi
       tax“ trifft das ebenso zu, mehr noch: In der Bundesrepublik gibt es kaum
       Übung für die Zeit nach dem [2][Fall der vom politischen Konservatismus
       proklamierten „Brandmauer“ gegen rechts außen]. Die reflexhaften
       Sprechchöre auf den Demos gegen die Kollaboration zwischen CDU und AfD
       zeigten einen eklatanten Mangel an Treffsicherheit.
       
       Österreichs Intellektuelle, seit 2000 leidvoll erfahren im Umgang mit
       schwarz-blauen Regierungen, halten ästhetische Lektionen im Umgang mit dem
       hierzulande noch Undenkbaren bereit. Sissi Tax’ geschliffenes Büchlein
       gegen das Betulich-Werden von Gesellschaftskritik ist nicht weniger als
       Demokratiekunst.
       
       23 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Werkausgabe-von-Laurence-Sterne/!5489331
   DIR [2] /Politik-und-Philosophie/!6066684
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konstantin Ames
       
       ## TAGS
       
   DIR Lyrik
   DIR Poesie
   DIR Anarchie
   DIR Schriftstellerin
   DIR Literatur
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Friederike Mayröcker ist tot: In Engelszungen schreiben
       
       Für ihr aktuelles Buch wurde Friederike Mayröcker noch gefeiert. Nun ist
       die Wiener Schriftstellerin im Alter von 96 Jahren gestorben.
       
   DIR Bachmann-Preis für Tanja Maljartschuk: Klappe halten und nachdenken
       
       Auf den Tagen der deutschsprachigen Literatur gab es neben Tanja
       Maljartschuk eine weitere Gewinnerin: die Sprache selbst.
       
   DIR Werkausgabe von Laurence Sterne: Es itzt und dünkt sich allenthalben
       
       Großmeister der Abschweifung: Vor 250 Jahren starb Laurence Sterne,
       Verfasser des „Tristram Shandy“. Zum Jubiläum ist eine Werkausgabe
       erschienen.