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       # taz.de -- „Offene Wunde“ am Münchner Volkstheater: „Das sind keine Einzeltäter“
       
       > Fast neun Jahre nach dem Attentat im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) haben
       > Christine Umpfenbach und Tunay Önder ein dokumentarisches Theaterstück
       > konzipiert.
       
   IMG Bild: Christine Umpfenbach und Tunay Önder entwickelten das Stück auf Basis von Gesprächen
       
       Die taz traf sich zum Gespräch mit der Dokumentartheatermacherin Christine
       Umpfenbach und ihrer Co-Autorin Tunay Önder. 
       
       taz: Tunay Önder, Christine Umpfenbach, wie haben Sie beide sich
       kennengelernt? 
       
       Önder: Ich habe bei der Recherche für das NSU-Stück „Urteile“
       mitgearbeitet. Wir kennen uns schon seit 2010, da habe ich mich auf
       Christines Anzeige gemeldet, in der sie für ein Stück Gastarbeiterfamilien
       gesucht hat. Und so kamen wir zu ihr und sie hat uns … verbraten.
       
       taz: Sie und Ihre Eltern haben in dem legendären „Gleis 11“ mitgespielt,
       das in einem Bunker am Münchner Hauptbahnhof den Umgang mit der ersten
       Gastarbeitergeneration in Deutschland untersuchte? 
       
       Önder: Genau, mein Vater allerdings nur per Video, weil er damals in der
       Türkei war. Es war auch meine erste Begegnung mit dem Theater als Ort, an
       dem man selbst aktiv werden kann.
       
       taz: Frau Umpfenbach, welche Rolle spielt die Partizipation für Ihren
       eigenen Theateransatz? 
       
       Umpfenbach: Sie ist die Grundvoraussetzung für jedes Projekt. Dazu gehört
       auch, zu hinterfragen, was das eigentlich für ein Ort ist, an dem wir
       arbeiten. In diesem Fall: Was ist das Volkstheater? Welches „Volk“ geht da
       hin? Wer fehlt? Dadurch bin ich als Regisseurin auch immer stark mit mir
       selbst konfrontiert und mit den Fragen: Kann und darf ich einen bestimmten
       Stoff machen? Und wer muss noch dabei sein?
       
       Önder: Ich sehe in Christines Arbeiten immer ganz stark den Willen, auch
       schon im Zuge der Produktion gewisse Theaterroutinen zu durchbrechen.
       
       taz: Zum Beispiel? 
       
       Önder: Wenn wir im aktuellen Stück sagen, die Angehörigen der
       Anschlagsopfer wurden nicht gehört, dann müssen wenigstens wir sie wirklich
       hören und scharf aufpassen, im Produktionsprozess nicht den Rassismus zu
       reproduzieren, den wir anderen vorwerfen. Also laden wir alle schon vorab
       ins Theater ein, bringen sie mit den Menschen hier in Kontakt, essen
       gemeinsam. Es passiert viel mehr, als nur ein Stück auf die Bühne zu
       bringen.
       
       taz: Wie kam es konkret zu Ihrer gemeinsamen Arbeit über das OEZ-Attentat,
       praktisch der dritte Teil einer Theater-Serie über rechtsradikale
       Anschläge in Deutschland? 
       
       Önder: Ich bin in Kontakt mit der Initiative „München OEZ erinnern!“, in
       der auch einige Eltern und Großeltern der Opfer aktiv sind. Die kämpfen um
       Anerkennung, suchen die Öffentlichkeit, wollen auch ein Buch herausbringen.
       Deshalb habe ich Christine gefragt, ob wir ihnen ein Theaterstück
       vorschlagen sollen. Nachdem sie den Angehörigen gezeigt hat, wie sie
       arbeitet, haben sie ihr Go gegeben.
       
       taz: Frau Önder, wie wichtig war es für das Projekt, dass Sie selbst aus
       migrantischen Zusammenhängen kommen? 
       
       Önder: Ich glaube, dass ich aufgrund meiner Familiengeschichte weiß, was es
       heißt, im eigenen Geburtsort als Fremdkörper adressiert zu werden. Ich
       kenne die Kontinuität von Rassismus aus eigener Erfahrung. Und dazu gehört
       auch das Aufwachsen in einem sehr migrantisch geprägten Stadtteil. Ich bin
       in München-Milbertshofen groß geworden. Die BMW-Fabrik ist dort, die viele
       Gastarbeiter beschäftigt hat. Mein Vater war einer von ihnen, ebenso
       etliche Angehörige der Opfer. Das OEZ gehörte zu meiner Jugendzeit. Ich
       habe dort oft abgehangen.
       
       Umpfenbach: Ich hätte das alleine auch nicht gemacht. Es ist ein
       Riesenunterschied, ob ich als weiße Ü50-Frau auftauche oder ob da eine
       Tunay ist, die selbst in diesem Viertel aufgewachsen ist und die Sprache
       kann. Auch wenn es nicht nur um türkischstämmige Biografien geht.
       
       taz: War es denn diesmal leichter, mit den Angehörigen ins Gespräch zu
       kommen, weil diese das Reden darüber schon in der sehr rührigen Initiative
       geübt haben? 
       
       Umpfenbach: Mit einigen, ja. Allerdings nicht mit den Geschwistern der
       Anschlagsopfer, deren Sicht uns aber besonders wichtig war, weil sie eine
       besondere Perspektive liefert. Weil sie fast im gleichen Alter sind wie die
       Ermordeten und auch viel am Anschlagsort unterwegs waren.
       
       taz: Teilweise auch am Abend des 22. Juli 2016, richtig? 
       
       Umpfenbach: Ja. Sie hätten selbst unter den Opfern sein können, haben mit
       dem Bruder oder der Schwester oft das Zimmer und die Klamotten geteilt. Sie
       waren so eng miteinander verbunden, dass es sehr schwer für sie ist,
       überhaupt darüber zu reden, selbst mit den Eltern, die sie nicht noch mehr
       belasten wollen. Sie müssen unfassbar stark sein in diesem Schmerz.
       
       taz: Sie haben sich dafür entschieden, die Geschichte des Attentats und des
       Weiterlebens danach aus der Perspektive der Geschwister zu erzählen. Kommen
       da auch konkrete Erinnerungen und Schmerzen zur Sprache, von denen selbst
       die Eltern bis dahin nichts wussten? 
       
       Önder: Ja, aber in homöopathischen Dosen, würde ich sagen.
       
       Umpfenbach: Es wird nicht so ein Voyeurismus bedient.
       
       taz: Trotzdem: Wie viel Verantwortung ist das, den Schmerz von anderen in
       Kunst zu verwandeln? 
       
       Umpfenbach: Wir haben eine Wahnsinnsverantwortung, machen uns aber auch
       einen Wahnsinnskopf. Was den Text angeht, fragen wir die Angehörigen immer
       wieder: „Ist das okay, darf das so gesagt werden? Fehlt etwas?“ Das ist ein
       sehr intensives Arbeiten, bei dem wir uns bis zum Schluss fragen, ob wir es
       hinkriegen, dass alle zufrieden sind. Was uns bestärkt, ist der Wille der
       Angehörigen, dass ihre Geschichte auf die Theaterbühne kommt. Und in meinen
       vorherigen Projekten habe ich diesen Prozess der künstlerischen Übersetzung
       oft als heilsam erlebt.
       
       taz: In der freien Szene arbeiten Sie sonst viel mit Laien auf der Bühne,
       in „Offene Wunde“ werden aber alle Personen von Schauspieler*innen
       verkörpert … 
       
       Umpfenbach: Bei solchen Themen kann man eigentlich keine Betroffenen auf
       die Bühne schicken oder nur dann, wenn man sie wirklich jeden Abend
       betreuen kann. Beim Remake von „Urteile“ war der Bruder eines der Opfer im
       Video dabei. Jetzt übernehmen fünf Schauspieler*innen die Rollen von
       acht Geschwistern, aber wir arbeiten auch mit Fotos und Einspielern der
       Originalstimmen anderer Familienangehöriger.
       
       Önder: Die Schauspieler*innen referieren auch die Chronologie der
       politischen Ereignisse, also wie sich nach der Angst vor einem
       islamistischen Terroranschlag das Amok-Narrativ durchgesetzt hat und wie
       lange es gedauert hat, bis der letztendlich auch von der Polizei als
       rechtsmotivierter Anschlag angesehen wurde.
       
       taz: Nun hatte der Täter selbst einen migrantischen Background, was es für
       die Ermittler vielleicht komplizierter gemacht haben mag. Wie war das bei
       der Arbeit zum Stück? 
       
       Önder: Ich finde es null kompliziert. Einfach jeder kann Fascho sein. Es
       war schwer zu übersehen, dass der Täter einen wirklichen Hass hatte. In der
       letzten Datei, die er auf seinem Desktop gespeichert hat, stand: „Ich werde
       jetzt jeden Deutschen Türken auslöschen egal wer“. Was will man denn
       bitteschön noch mehr hören?
       
       Umpfenbach: Beim NSU war die Analyse ganz klar: Behördenversagen,
       Presseversagen, Gesellschaftsversagen. Beim Oktoberfestattentat war es
       etwas komplizierter, aber man wusste auch, was da schiefgelaufen ist. Hier
       ist es noch komplizierter, weil da ein junger Mensch selber verletzt und
       gekränkt war. Das kann man nicht unter den Tisch kehren. Uns war es deshalb
       ausnahmsweise wichtig, den Täter vorkommen zu lassen.
       
       Önder: Aber der Name von Anders Breivik, auf den er sich sehr stark bezogen
       hat, fällt nicht, um dem Hype in rechten Chatgruppen nicht noch mehr Wasser
       auf die Mühlen zu gießen, in denen dem Münchner Attentäter ein virtuelles
       Denkmal als „Non-White Hero“ errichtet wurde.
       
       taz: Eine besonders gruselige Variante des „guten Ausländers“. Und so viel
       zum gängigen Narrativ des „verwirrten Einzeltäters“. 
       
       Önder: Das ist mir auch noch wichtig zu sagen: Das sind keine Einzeltäter,
       auch wenn sie nicht mehr wie beim NSU alle im gleichen Hymer-Wohnmobil
       sitzen. Man organisiert sich heute nur anders, im Netz – und international.
       
       taz: Das Stück endet mit der Frage „Wie geht es weiter?“ Ist die in Sachen
       Prävention vielleicht schwieriger zu beantworten denn je? 
       
       Umpfenbach: Ja, da sagte uns der Pressesprecher des LKA: Keine Chance, wir
       können nicht das ganze Netz durchforsten, das geht nicht. Aber generell
       gilt es, genau hinzuschauen, wenn jemand sich extrem isoliert und einsam
       ist.
       
       Önder: Die O-Töne der Eltern am Schluss weisen auf die Leerstellen hin, die
       es ernst zu nehmen gilt, insbesondere seitens der Ermittlungs- und
       Sicherheitsbehörden, aber auch in Schulen: nämlich rechte Gewalt als solche
       anzuerkennen und ebenso die Gefahr, der insbesondere nicht-weiße Deutsche
       ausgesetzt sind. Die Hoffnung ist, dass man mit diesem Stück dahingehend
       auch etwas aufbricht.
       
       21 Apr 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Leucht
       
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