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       # taz.de -- Berlinale-Sieger „Oslo-Stories: Träume“: Opfer schreiben anders
       
       > Ein stiller Triumph ist Dag Johan Haugeruds Berlinale-Sieger „Oslo
       > Stories: Träume“. Der Film erzählt von erster Liebe und dem Schreiben
       > darüber.
       
   IMG Bild: Drei Generationen Frauen (v. l. n. r.): Kristin (Ane Dahl Torp), Johanne (Ella Øverbye) und Karin (Anne Marit Jacobsen)
       
       Wir leben in lauten Zeiten, in denen diejenigen den Diskurs bestimmen, die
       mit steilen und großmundigen Thesen andere übertönen können. Dass in dieser
       lärmenden Umgebung auf einem Festival wie der [1][Berlinale ein so leiser
       und privater Film wie Dag Johan Haugeruds „Oslo Stories: Träume“
       („Drømmer“)] den Goldenen Bären gewinnen konnte, stellte eine Überraschung
       dar. Zumal sich die Berlinale gern mit dem Image des politisch engagierten
       Filmemachens schmückt, das seine Finger in die Wunden dieser Welt legt und
       auf die großen Krisen der Gegenwart aufmerksam macht.
       
       „Träume“ aber spielt im satten Norwegen und handelt von etwas, das man in
       seiner Alltäglichkeit und Universalität fast banal nennen könnte. Eine
       17-Jährige verliebt sich in ihre Lehrerin, wird von ihr zurückgewiesen und
       versucht die Erfahrung dann dadurch zu bewältigen, dass sie sie als
       Erzählung niederschreibt. Ihre Mutter und Großmutter lesen ihren Text und
       ziehen je eigene Schlüsse daraus. Es wird viel geredet. Männer kommen nur
       am Rande vor. Der Film aber entfaltet einen besonderen Charme, wie er
       selten geworden ist im Kino.
       
       Wie oft der Fall bei kleinen, so bescheiden wie jetzt „Träume“
       erscheinenden Filmen, stellt sich das Kleinmachen als Strategie heraus.
       Statt laut zu tönen, schleicht sich Haugeruds Film nämlich mit leisen
       Schritten ins Bewusstsein und erobert die Aufmerksamkeit – gerade weil man
       so genau hinsehen und hinhören muss, zieht er einen in den Bann.
       
       Die Tatsache, dass der Film Teil einer Trilogie ist ([2][„Oslo Stories:
       Liebe“ startete vor wenigen Wochen], „Oslo Stories: Sehnsucht“ kommt am 22.
       Mai ins Kino), trägt zur Attraktion bei, indem implizit mit der Frage
       gelockt wird, was den Zusammenhang ausmacht. Wie für „Liebe“ gilt dabei
       auch für „Träume“: Jeder Film steht eigenständig für sich und ist auch ohne
       Kenntnis der anderen zu verstehen.
       
       Johanne (Ella Øverbye) heißt die 17-Jährige im Zentrum des Films, und dass
       ihre neue Lehrerin (Selome Emnetu) sich als Johanna vorstellt, schafft
       verständlicherweise aus ihrer Sicht eine erste, besondere Verbindung
       zwischen ihnen. Man hört Johannes Stimme aus dem Off erzählend die Szenen
       ergänzen, die der Film uns zeigt. Es braucht einige Zeit, bis man begreift,
       dass man es dabei mit mehreren Ebenen zu tun hat: Was Johannes Stimme
       wiedergibt, ist bereits das zur Geschichte umgeformte Geschehen; die Szenen
       selbst sind noch ambivalent und für Deutung offen.
       
       ## Die eigene Empfindsamkeit entdecken
       
       Mit der Schilderung dessen, was zwischen der Teenagerin und der jungen
       Lehrerin tatsächlich geschieht, ob überhaupt etwas „geschieht“, lässt sich
       der Film so seine Zeit. Stattdessen geht es zunächst um Johannes Entdeckung
       der eigenen Empfindsamkeit. Ohne ihrem Verliebtsein ein Etikett zu geben,
       berichtet sie von den sinnlichen Erlebnissen, die sie plötzlich überkommen
       und ihr die eigene Gefühlswelt als fremdes Terrain erscheinen lassen, das
       sie neu erkunden muss.
       
       Etwa die erstaunliche Fähigkeit im eigenen Körper die Präsenz der anderen
       zu spüren, also zu wissen, wann die andere in der Nähe ist, noch bevor man
       sie gesehen hat. Dazu sieht man Johanne im Schulhof stehen und mit
       Freundinnen sprechen, während hinter ihrem Rücken für sie unsichtbar im
       Hintergrund Johanna dem Schuleingang zustrebt. Ist die Intensität, die
       Johanne beschwört, nur eingebildet?
       
       Während das Manuskript, das Johanne zur Erforschung ihrer Gefühle verfasst,
       bereits in andere Hände gerät, geht die Erzählung aus ihrer Perspektive
       erst noch weiter: Immer wieder sucht Johanne die Zufallsbegegnung mit
       Johanna, ohne zu wissen, was sie sich von einer Annäherung eigentlich
       verspricht.
       
       Schließlich klingelt sie spontan bei der Lehrerin an der Tür. Aber als die
       ihr aufmacht, kann sie ihre Gefühle nicht in Worte fassen und fängt an zu
       weinen. Woraufhin Johanna, ganz die Pädagogin, anbietet, zur Entspannung
       Johanne das Stricken beizubringen, ein Hobby, für das sich die erwachsene
       Frau begeistert, wie man sowohl ihrer selbst gestrickten Kleidung wie ihrer
       mit Wolle in allen Farben und Formen ausgestatteten Wohnung ansehen kann.
       
       ## Den Text als Text lesen
       
       In dieser im Wortsinn bestrickenden Umgebung erfährt Johanne eine von
       unbestimmter Erotik aufgeladene sinnliche Annäherung an Johanna. Das
       Näherkommen findet jedoch ein jähes Ende, als eines Tages eine andere Frau
       zu Gast ist bei der Lehrerin und Johanne schmerzlich vor Augen führt, dass
       die erwachsene Frau ein eigenes Leben führt. Die Teenagerin fühlt sich
       augenblicklich gedemütigt und als Schülerin klein gemacht. Und irgendwie
       macht Johanna wiederum den Eindruck, als wäre sie darüber sogar ein
       bisschen erleichtert.
       
       Von all dem erfahren sowohl Johannes Mutter Kristin (Ane Dahl Torp) als
       auch Großmutter Karin (Anne Marit Jacobsen) im parallelen Handlungsfaden
       durchs Lesen von Johannes Text. Die beiden Frauen reagieren völlig
       verschieden. Kristin macht genau das, was Johanne vermeiden wollte: Sie
       „labelt“ und spricht vom „queeren Erwachen“ ihrer Tochter, und je weiter
       sie mit dem Lesen kommt, desto größer wird ihre Sorge, ob die 17-Jährige
       nicht zum Opfer eines Groomings geworden ist, also einer unlauteren
       Verführung durch die ältere Frau und Lehrerin.
       
       Großmutter Karin, selbst eine anerkannte Poetin, besteht auf der
       Interpretation des Textes selbst: So schreibe kein Opfer. Überhaupt sei das
       Manuskript so gut geschrieben, dass sie es ihrer Verlegerin zeigen wolle.
       
       ## Über „Flashdance“ streiten
       
       Johannes Geschichte zieht immer weitere Kreise, löst die verschiedensten
       Gefühle aus und verwandelt sich dabei von reiner Erinnerung zu einer
       literarischen Erzählung. Der 60-jährige Regisseur Haugerud hat selbst
       Romane geschrieben, bevor er mit dem Filmemachen anfing. Das glaubt man
       seinem Drehbuch in gewisser Weise anzumerken, weniger in den Dialogen, die
       von erfrischend-mündlicher Leichtigkeit und wunderbar beobachteter
       Zeitgenossenschaft sind, als vielmehr in den raffinierten Metaverbindungen
       der einzelnen Handlungsstränge.
       
       So spiegelt sich Johannes Erforschen der eigenen Gefühle durch Schreiben
       im melancholischen Nachdenken ihrer Großmutter, die als feministische
       Alt-68erin auf eigene Erlebnisse zurückschaut und auf die Enkelin und ihren
       Erfolg auch ein wenig neidisch ist. In einer der lustigsten Szenen des
       Films gehen Karin und Kristin zusammen im Wald spazieren und streiten sich
       über die Interpretation von „Flashdance“, dessen Frauenbild Karin damals
       für so rückständig hielt, dass sie ihrer Tochter Kristin, die den Film
       unbedingt sehen wollte, nicht nachgeben konnte.
       
       Jede Generation, so zeigt Haugerud ganz ohne mahnenden Zeigefinger, ist
       geprägt durch eigene ideologische Vorurteile über Männer- und vor allem
       Frauenbilder.
       
       Dass literarisches Schreiben und die Wirkung, die es auf die Erinnerung
       hat, zum Thema wird, macht „Träume“ zu einem besonderen Kapitel in
       Haugeruds „Oslo Stories“-Trilogie, die sich den Themen Beziehungen,
       Begehren und Identität verschrieben hat. Wieder wird viel geredet, das aber
       mit einer cineastischen Qualität, die es leicht macht, den Figuren
       zuzuhören.
       
       Sosehr sie sich dabei um Ehrlichkeit bemühen, hat man als Zuschauer:in
       doch das Vergnügen, unmittelbar mitzuerleben, wie Sprechen, Handeln und
       Empfinden immer drei verschiedene Dinge sind. Aber man verspürt keine
       Schadenfreude, sondern fühlt bei den Irrtümern mit und freut sich für ihre
       Erfolge.
       
       6 May 2025
       
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   DIR Barbara Schweizerhof
       
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