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       # taz.de -- Der 1. Mai international: Kampf für gute Arbeit – weltweit
       
       > Arbeitnehmerrechte sind unter Druck. Zum 1. Mai wirft die taz einen
       > Blick in die Türkei, nach Polen, Italien, Frankreich, Argentinien und
       > China.
       
   IMG Bild: Gewerkschaftsprotest am 1. Mai 2024 durch Istanbuls innenstadt
       
       Diesmal geht es auch um İmamoğlu 
       
       Der 1. Mai ist in der Türkei nicht nur der Kampftag der Gewerkschaften,
       sondern der Opposition insgesamt. Um ihm die politische Brisanz zu nehmen,
       machte der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident Recep Tayyip
       Erdoğan den Tag 2009 zum gesetzlichen Feiertag. Er sollte damit zu einem
       Familien – und Frühlingsfest umfunktioniert werden. Doch das schlug fehl.
       
       Spätestens seit dem ersten landesweiten Aufstand gegen Erdoğan 2013 ist der
       1. Mai wieder zu einem Tag politischer Hochspannung geworden. Nach dem
       sogenannten [1][Gezi-Aufstand] hatte Erdoğan damals alle Demos rund um den
       zentralen Istanbuler Taksimplatz verboten, dem traditionellen
       Aufmarschplatz der türkischen Gewerkschaftsbewegung am 1. Mai. Und so
       spielen sich seit 2013 jedes Jahr die selben Szenen ab: Während die
       Gewerkschaften ihre Anhänger sammeln, um Richtung Taksimplatz zu
       marschieren, riegelt die Regierung den Platz schon am Vorabend weiträumig
       ab.
       
       Für die linken Gewerkschaften ist der Taksimplatz aber noch mehr. Er ist
       der Ort des größten Massakers in der modernen Türkei, an das sie mit ihren
       Aufmärschen erinnern wollen. Am 1. Mai 1977 wurde die dort stattfindende
       Kundgebung von Rechtsradikalen, mutmaßlich Grauen Wölfen, angegriffen. Die
       Killer schossen von den Dächern der umliegenden Häuser, die Massenpanik tat
       ihr Übriges. 34 Demonstranten wurden getötet.
       
       Dieses Massaker an den Gewerkschaftern wird im Nachhinein auch als Auftakt
       zu einem immer schwerwiegenderen bewaffneten Konflikt zwischen rechten und
       linken Gruppen gesehen, der schließlich im Militärputsch von 1980 endete.
       Nach dem Putsch wurden alle Gewerkschaften zerschlagen, die Funktionäre der
       linken Gewerkschaftsföderation DISK für Jahre ins Gefängnis gesteckt. Erst
       in den 1990er-Jahren wurde Gewerkschaftsarbeit wieder möglich, ist aber bis
       heute erschwert. Streiks sind legal so gut wie unmöglich, Kündigungen von
       aktiven Gewerkschaftern fast die Regel. Vor allem gegen diese Unterdrückung
       der Gewerkschaften wird am 1. Mai demonstriert.
       
       Der 1. Mai in diesem Jahr wird allerdings anders. Die linke
       Gewerkschaftsföderation DISK hat entschieden, ihre Demonstration nach
       Kadiköy, dem Zentrum der asiatischen Seite Istanbuls, zu verlegen. Man will
       nicht wieder den rituellen Kampf um den Taksimplatz aufführen, [2][sondern
       die Oppositionsbewegung zur Freilassung des im März verhafteten Istanbuler
       Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu unterstützen]. So wird am 1. Mai die gesamte
       Opposition gemeinsam für die Freiheit von İmamoğlu und den Hunderten
       anderen Gefangenen demonstrieren, die während der Aufmärsche seit März
       festgenommen wurden. Jürgen Gottschlich, Istanbul
       
       ## Die kämpfenden Frauen von Łódź
       
       Majówka heißen in Polen die drei Mai-Feiertage, auf die sich alle freuen:
       1. Mai – Tag der Arbeit, 2. Mai – Tag der Flagge und 3. Mai – Tag der
       Verfassung von 1791. Mit etwas Geschick und ausgleichbaren Überstunden kann
       man also eine ganze Woche zusätzlichen Urlaub abgreifen.
       
       Dabei steht der Tag der Arbeit, der zu realsozialistischer Zeit ein
       staatlicher Feiertag mit Pflichtteilnahme an Propagandaveranstaltungen der
       Partei war, bei den Polen eigentlich gar nicht hoch im Kurs. Aber als
       erster Tag der Majówka ist er für viele der Auftakt für ein erstes
       Grillfest im Grünen und einen Kurztrip an die Ostsee, in die Tatra oder ins
       Ausland.
       
       Einige Tausend ArbeitnehmerInnen werden aber auch ganz traditionell am
       1.-Mai-Marsch in Łódź, der drittgrößten Stadt Polens, teilnehmen. Łódź
       stieg im 19. Jahrhundert zur Textilmetropole auf. In den riesigen Fabriken
       arbeiteten vor allem Frauen, denen die filigrane und kräftezehrende Arbeit
       an den Webstühlen leichter fiel als den meisten Männern. Diese verdingten
       sich zumeist auf dem Bau, in der Landwirtschaft und versorgten Haushalt und
       Kinder.
       
       Da die Arbeitsbedingungen in den Fabriken schlecht waren – der
       ohrenbetäubende Lärm und die vom Wasserdampf ständig feuchte Luft machte
       den Arbeiterinnen zu schaffen –, begannen sich die Frauen früh in
       Gewerkschaften zu organisieren. Anders als in Schlesien, wo die Kohlekumpel
       auf die Barrikaden gingen oder später an der Ostsee, wo die Werftarbeiter
       für höheren Lohn streikten, gingen die Textilmagnaten in Łódź meist schnell
       auf die Forderungen der Weberinnen ein. Die Maschinen mussten Tag und Nacht
       laufen, sonst lohnte sich das Geschäft nicht.
       
       Auch in 1970er- und 80er-Jahren, als die Gewerkschafts- und
       Freiheitsbewegung Solidarność im ganzen Land Triumphe feierte, waren es in
       Łódź die Frauen, die den Arbeitskampf anführten. Der Systemwechsel 1989 von
       einer sozialistischen Einparteienherrschaft hin zu einer pluralistischen
       Demokratie mit freier Marktwirtschaft und der gleichzeitige Aufstieg Chinas
       zum führenden Billiganbieter von Stoffen und Kleidung, löste in Łódź
       reihenweise Fabrikschließungen und Massenentlassungen aus. Die
       Textilmetropole Polens war pleite.
       
       Am Tag der Arbeit wird Łódź 2025 wieder im Rampenlicht stehen. Ganz Polen
       kann dann sehen, dass die Stadt auf dem besten Weg ist, [3][zur führenden
       Mode-, Film- und Kunstmetropole des Landes aufzusteigen]. Durch das breit
       angelegte Sanierungsprogramm wird aus der einst dreckigen Industriestadt
       eine moderne Kulturmetropole, die stolz ist auf ihre vielen
       Jugendstilhäuser, ihre AvantgardekünstlerInnen und ModedesignerInnen. Und
       auf ihre selbstbewussten Arbeiterinnentraditionen. Gabriele Lesser,
       Warschau
       
       ## Friedliche Aussichten – trotz Milei
       
       Mit einer Ankündigung hat die argentinische Regierung den
       Gewerkschaftsdachverband CGT in ein Dilemma gestürzt. „Donnerstag, 1. Mai:
       Tag der Arbeit. Freitag, 2. Mai: arbeitsfreier Tag für touristische
       Zwecke.“ Die Folge dieses Fin de Semana XXL, dieses viertägigen
       Wochenendes: Am 1. Mai sind viele schon unterwegs Richtung Kurzurlaub statt
       demonstrierend auf der Straße.
       
       Also soll die traditionelle Veranstaltung zum Tag der Arbeit dieses Jahr am
       30. April stattfinden, doch da müssen die meisten arbeiten. Der
       [4][diesjährige Marsch zum Monument „Canto al Trabajo“] (Ode an die Arbeit)
       dürfte deshalb im engsten Kreis begangen werden. Nur kleine linke Parteien
       und Organisationen haben zu einer Veranstaltung direkt am 1. Mai
       aufgerufen, und auch sie rechnen mit keiner allzu großen Teilnehmerzahl:
       Die Protestveranstaltung findet in einer überdachten und überschaubaren
       Sporthalle satt. Und so wird es in den Straßen von Argentiniens Hauptstadt
       Buenos Aires am 1. Mai ruhig und leer sein, während sich eine Blechkarawane
       mit jenen, die es sich leisten können, in Richtung der südlichen Badeorte
       am Atlantik bewegen wird.
       
       Diese friedlichen Aussichten für den 1. Mai überraschen angesichts der
       radikalen Sparpolitik der nicht mehr ganz so neuen Regierung des libertären
       Präsidenten Javier Milei. Die führte bereits zur Streichung von
       Zehntausenden von Arbeitsplätzen und [5][zum Rückgang der Reallöhne und
       Renten und damit der Kaufkraft der Einkommen]. Doch so wie der Wahlsieg von
       Javier Milei die gesamte politische Landschaft wie ein Erdbeben erschüttert
       hat, hat er auch die Gewerkschaften getroffen – auch wenn Milei erst vor
       wenigen Wochen den dritten Generalstreik während seiner siebzehnmonatigen
       Amtszeit erleben musste.
       
       Wie die traditionellen Parteien sind auch die Gewerkschaften bei vielen
       diskreditiert. Einige ihrer Bosse sind seit Jahrzehnten im Amt oder ihre
       Nachfolge wurde innerfamiliär geregelt. Gleichzeitig gleichen viele
       Einzelgewerkschaften eher Sozial- und Krankenversicherungsunternehmen, die
       ihre eigenen Interessen verfolgen, anstatt als kämpferische Organisationen
       für die Rechte der Arbeitnehmer einzutreten.
       
       Dies war nicht immer der Fall. Im Jahr 1890 wurde der 1. Mai in Buenos
       Aires zum ersten Mal mit Demonstrationen gefeiert, die hauptsächlich aus
       dem damaligen sozialistischen Lager kamen. Seit 1925 ist der 1. Mai ein
       gesetzlicher Feiertag im Land, der laut Gesetzestext „die Pflicht der
       öffentlichen Hand beinhaltet, ihn zu einem heiteren und glückverheißenden
       Tag der sozialen Solidarität und des geistigen Friedens zu machen“. Ein
       Satz, der auch aus der eingangs erwähnten Ankündigung der Regierung von
       Milei stammen könnte. Jürgen Vogt, Buenos Aires
       
       ## Stress in der Goldenen Woche
       
       Wer beim Tag der Arbeit im selbsternannten „Arbeiterparadies“ China an
       Fahnen schwingende Demomärsche denkt, könnte falscher nicht liegen. Wenig
       fürchtet die Parteiführung mehr als Menschenansammlungen, die politische
       Forderungen stellen. Doch zumindest eine Gemeinsamkeit gibt es zum
       deutschen Feiertag: Die chinesischen ArbeiterInnen können am 1. Mai
       ebenfalls entspannen. Genauer gesagt haben sie dieses Jahr sogar bis zum 5.
       Mai frei.
       
       Das Kalkül hinter den sogenannten „Goldenen Wochen“, von denen Ende der
       90er Jahre drei im Jahr eingeführt wurden, war ein rein ökonomisches. Die
       Parteiführung wollte damals mit verlängerten Wochenenden [6][den schwachen
       Binnenkonsum] ankurbeln. Das Wohl der ArbeiterInnen stand nur an zweiter
       Stelle. Der Tag der Arbeit bedeutet für viele ChinesInnen denn auch vor
       allem eins: Stress. Wenn 1,4 Milliarden Menschen auf einen Schlag Ferien
       machen, ist der Andrang auf die Zug- und Flugtickets riesiger als das
       begrenzte Angebot.
       
       Doch der Bevölkerung bleibt wenig anderes über, als mitzudrängeln.
       Schließlich gibt es kaum Alternativen zum Verreisen. Die meisten Chinesen
       haben lediglich Anspruch auf fünf bezahlte Ferientage im Jahr. Und selbst
       die, die öfter freinehmen dürften, tun dies nicht – aus „Respekt“ gegenüber
       den Vorgesetzten. Der soziale Druck, als Faulenzer dazustehen, ist immens.
       
       Die Arbeitskultur passt längst nicht mehr zu einer Volkswirtschaft, die in
       vielen Zukunftstechnologien führend ist und neben dem produzierenden
       Gewerbe auch den Dienstleistungssektor stärken möchte. Insbesondere die
       urbanen Millennials leiden unter einem kollektiven Burn-out und anlässlich
       des Tags der Arbeit posaunen sie ihren Unmut oft auf den sozialen Medien
       hinaus.
       
       Die Staatsführung scheint allmählich einzulenken. Denn sie hat begriffen,
       dass die kollektive Überarbeitung nicht förderlich ist, um die
       demografische Alterung der Gesellschaft zu stoppen. Die Geburtenrate hat
       sich während der letzten zehn Jahren halbiert. Das bedeutet natürlich auch,
       dass die wirtschaftliche Produktivität schon bald sinken wird.
       
       Dementsprechend sind die Unternehmen angewiesen, ihren Angestellten eine
       bessere Work-Life-Balance zu bieten. Das führt auch dazu, dass in vielen
       Büros nach 22 Uhr automatisch die Lichter abgedreht werden – um zu
       vermeiden, dass sich einige „vorbildliche“ Arbeiter aus falsch verstandener
       Aufopferung die Nächte um die Ohren schlagen. Fabian Kretschmer, Seoul
       
       ## Megakonzert statt politischen Drucks
       
       Auch dieses Jahr werden am 1. Mai Zehntausende in Mailand, Turin, Neapel,
       Palermo, Rom und kleineren Städten Italiens auf die Straße gehen. Sie
       folgen dem Aufruf der drei großen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL.
       Auf dem Papier stellen die drei Bünde eine Macht dar. Immerhin elf
       Millionen Menschen gehören ihnen an, neben zahlreichen Rentner*innen
       sind darunter knapp sieben Millionen Arbeitnehmer*innen – ein für
       europäische Verhältnisse ordentlicher gewerkschaftlicher Organisationsgrad
       von gut 30 Prozent.
       
       Das sieht nach gewerkschaftlicher Einheit und Stärke aus. Doch das Bild
       trügt. Sowohl in der Tarifpolitik als auch im politischen Raum sind die
       Arbeitnehmerorganisationen seit Jahren in der Defensive. Italien
       verzeichnet die mieseste Lohnentwicklung aller OECD-Staaten. Während die
       Reallöhne zwischen 1990 und 2020 überall sonst stiegen, gingen sie in
       Italien um rund 3 Prozent zurück. Und auch die durch die hohe Inflation
       ausgelösten Reallohnverluste seit 2022 vermochten die Gewerkschaften nicht
       auszugleichen. [7][Giorgia Melonis Rechtsregierung] will von Dialog nichts
       wissen.
       
       In der Tarifpolitik setzen die wirtschaftlichen Daten den
       Arbeitnehmer*innen zusätzlich zu. Italien hat seit gut drei
       Jahrzehnten innerhalb der EU die schlechteste Entwicklung beim Wachstum des
       BIP und bei der Produktivität. Darüber hinaus weist es eine kleinteilige,
       zersplitterte Firmenstruktur auf, in der kleine Klitschen dominieren und
       die Gewerkschaften meist gar nicht präsent sind.
       
       Im politischen Raum wiederum sind die drei Bünde tief gespalten. Der größte
       Bund, die linke CGIL, fährt ebenso wie die drittgrößte Organisation, die
       UIL, einen klaren Antiregierungskurs, während die in katholischer Tradition
       stehende CISL von Opposition gegen Meloni nichts wissen will. Das zeigt
       sich beim Ruf nach der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, laut
       vorgetragen von der CGIL und der UIL, von der CISL dagegen abgelehnt.
       Ebenso bei der von der CGIL angestrengten Volksabstimmung, die auf die
       Abschaffung diverser Gesetze zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zielt.
       Auch wenn alle drei Organisationen am 1. Mai wieder gemeinsam auf die
       Straße gehen, ist ihr Verhältnis unterkühlt. Politischer Druck lässt sich
       so nicht aufbauen.
       
       Doch ein Erfolg ist den drei Bünden schon jetzt gewiss: das „Concertone“,
       ein Megakonzert mit freiem Eintritt, zu dem sie am 1. Mai auf der riesigen
       Piazza San Giovanni in Rom aufrufen. Dutzende italienische Popstars werden
       den ganzen Tag über rund 500.000 meist jungen Zuschauer*innen einheizen.
       Wenigstens dieses von den Gewerkschaften ausgerichtete Großereignis erfreut
       sich ungebrochener Popularität. Michael Braun, Rom
       
       ## Getrennt, aber allesamt gegen Macrons Rentenreform
       
       „Vergessen wir nicht, dass der 1. Mai nicht der Tag der Arbeit ist, den
       Pétain (der Chef der Kollaboration mit den Nazi-Besetzern von 1940 bis
       1945) ins Leben gerufen hat, sondern der internationale Tag des Kampf für
       die Arbeiterrechte und der internationalen Solidarität“, erinnert Fabrice
       Lerestif, Sekretär der FO-Gewerkschaftsverband in der Bretagne seine
       Kolleginnen und Kollegen. „In einer Welt, in der die Lüge triumphiert, in
       der Trump den Friedensnobelpreis verlangt, Putin Lektionen in Sachen
       Demokratie erteilt und Marine Le Pen sich auf den Kampf von Martin Luther
       King beruft“, hält er es für notwendig, die wahre Geschichte des 1. Mai zu
       verteidigen. In seiner Stadt Rennes, einer Hochburg der sozialen Bewegungen
       in Frankreich, demonstrieren die Gewerkschaften und Linksorganisationen
       einheitlich.
       
       In Paris dagegen feiern die großen Gewerkschaftsverbände (CGT, FO, CFDT und
       UNSA) den 1. Mai, wie oft schon in der jüngeren Vergangenheit, getrennt.
       Was aber nicht bedeutet, dass sie sehr unterschiedliche Forderungen im
       Kampf für die Rechte der Werktätigen stellen. Ganz im Gegenteil bleiben die
       Gewerkschaften zumindest in einem Punkt einig und geschlossen in ihrer
       Mobilisierung zum Widerstand: Die Regierung, und mit ihr Staatspräsident
       Emmanuel Macron, müsse auf die sehr unpopuläre Rentenreform von 2023
       zurückkommen und die pauschale Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters
       zurücknehmen.
       
       Das heißt indes nicht, dass alle prinzipiell gegen eine Reform wären, die
       langfristig die Finanzierung des Systems sicherstellen soll. Vor allem die
       traditionell zu Kompromissen bereite CFDT, die ursprünglich aus der
       christlich-sozialen Arbeiterbewegung hervorgegangen ist, wäre bereit, mit
       den Arbeitgebern und der Regierung über die Beitragszahlungen der
       Sozialpartner oder auch die Bedingungen für den Ruhestand zu diskutieren.
       
       Die klassenkämpferischen Gewerkschaften, allen voran die 130-jährige CGT
       (Confédération Générale Travail) und die von dieser im Kalten Krieg
       abgespaltene und ursprünglich „antikommunistische“ Force Ouvrière (FO)
       machen aus der Rückkehr zum Rentenalter mit 62 und der Ablehnung jeglicher
       Verschlechterung der Bedingungen für die Altersvorsorge der
       Arbeiter*innen eine Existenzfrage. Die CFDT ist heute vor der CGT und
       FO der mitgliederstärkste nationale Bund.
       
       Aufgrund ihrer Geschichte wollen vor allem die auf ihre politische
       Unabhängigkeit bestehenden Gewerkschaften des viertgrößten Verbands UNSA
       (Union des syndicats autonomes) eindeutig politische Forderungen oder
       Proteste wie zum Beispiel gegen die Aufrüstung und „Kriegswirtschaft“ in
       Abgrenzung zu den übrigen Gewerkschaftstendenzen nicht unterstützen. Im
       Gegensatz zur UNSA ist der Verband Solidaires (zum Teil entstanden aus dem
       von der CFDT ausgeschlossenen linken Flügels) politisch sehr links
       engagiert.
       
       Allen Gewerkschaften gemeinsam ist seit vielen Jahren das Problem des sehr
       geringen Organisationsgrads. Waren nach dem Krieg rund 30 Prozent der
       Arbeitnehmer Mitglied eine Verbands, waren es 1980 nur noch 15 und heute
       wie seit rund 20 Jahren gerade noch knapp 10 Prozent. Diese schwache
       Repräsentativität erklärt es auch teilweise, dass in Frankreich nie ein
       wirklicher sozialer Dialog zustande kam, in dem die Gewerkschaften wirklich
       das nötige Gewicht hatten. Alles wird so zu einer Frage der auf der Straße
       und mit Streiks „gemessenen“ Kräfteverhältnisse.
       
       Wirklich stark bei eindrucksvollen Aktionen sind die Gewerkschaften im
       öffentlichen Dienst, insbesondere bei der Bahn und den städtischen
       Verkehrsbetrieben sowie im Bildungssektor. Das erlaubt es ihnen, die
       Regierungspolitik (wie bei der Reform des Arbeitsrechts und des
       Rentenalters) in wochenlangen Konflikten herauszufordern. Da die Regierung
       bei den Bildungsausgaben sparen will, ist eines sicher: Die nächste
       Streikbewegung kommt demnächst. Rudolf Balmer, Paris
       
       1 May 2025
       
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