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       # taz.de -- Kaschmir: Krieg nach Drehbuch
       
       > Die militärische Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan folgt
       > der Logik der kontrollierten Eskalation – genau darin liegt die Gefahr.
       
   IMG Bild: Indische Soldaten stehen Wache, während eine Frau auf einen Markt im indisch kontrollierten Kaschmir geht, am 7.5.2025
       
       Jetzt also auch noch [1][Indien und Pakistan], als gäbe es nicht schon
       genug Kriege gleichzeitig auf der Welt. Beide Staaten sind auf Eskalation
       programmiert, die wechselseitigen Propagandatrommeln laufen auf Hochtouren,
       der Ausgang ist offen.
       
       Der Krieg verläuft wie [2][nach einem vorbereiteten Drehbuch]. Als Rache
       für einen Terroranschlag auf Urlauber im indischen Kaschmir am 22. April,
       für den Indien Pakistan verantwortlich macht, wurden erst Grenzen
       geschlossen und Wasserabkommen gekündigt. Am Mittwoch 7. Mai flog Indien
       Raketen auf Pakistan, offiziell gegen Terrorstützpunkte. Pakistan schoss
       mindestens einen indischen Kampfjet ab. Indien beschoss die pakistanische
       Luftabwehr. Pakistan beschoss den indischen Flughafen Jammu. Das alles in
       nur 48 Stunden.
       
       Das Drehbuch heißt: kontrollierte Eskalation. Auf jeden Angriff des Gegners
       folgt ein stärkerer eigener Angriff. Es geht nicht um bloße „Vergeltung“,
       erklären indische Militäranalytiker, sondern um „Abschreckung“ – bei
       Vergeltung wird proportional zurückgeschossen, bei Abschreckung
       überproportional. Das ist rational, erprobt und durchdacht.
       Militärhistoriker des 19. Jahrhunderts dürften ihre helle Freude an diesem
       Krieg haben, der ihnen in Echtzeit vorführt, wie man es früher in Europa
       machte. An wenigen Orten auf der Welt ist das „alte Denken“ aus jener Zeit
       so perfekt konserviert wie in den Denkfabriken und Militärakademien des
       indischen Subkontinents.
       
       Und doch passt dieser Krieg perfekt in die Welt des verrückten Jahres 2025.
       In einer Zeit der allgemeinen Enthemmung in den internationalen Beziehungen
       ist die Logik der kontrollierten Eskalation alternativlos. Nur so wird man
       respektiert. Du greifst mich an, ich schlage doppelt so hart zurück, so
       lautet die Formel. Netanjahu und Erdoğan beherrschen das im Schlaf. Trump
       betreibt so seine gesamte Außen- und Handelspolitik. Putin steigert das zur
       Gangsterlogik: Ich schlage als Erster zu, und zwar doppelt so hart, wie du
       es je könntest. Die ganze Welt weiß, wie das geht.
       
       ## Provozieren, Zähne zeigen, abwarten
       
       Es gibt also Gründe, sich keine allzu große Sorgen zu machen. Wer die Logik
       der kontrollierten Eskalation beherrscht, weiß auch ganz genau, wie man im
       richtigen Moment innehält, ohne in der Sache nachzugeben: provozieren,
       Zähne zeigen, abwarten. Indien und Pakistan haben ihre Kriege zumeist
       gestoppt, bevor es richtig schlimm wurde wie 1971, als Ostpakistan sich als
       „Bangladesch“ von Pakistan abspaltete, Pakistan in Indien einmarschierte
       und Tausende auf beiden Seiten starben, bevor Pakistan die Waffen streckte.
       
       Aber genau darin liegt auch die Gefahr. Wer die Logik der kontrollierten
       Eskalation beherrscht, weiß eben auch ganz genau, wie man sie entfesselt
       und außer Kontrolle setzt. Bis heute sinnen Pakistans Generäle auf
       Revanche für 1971, und bis heute ist Indien seitdem [3][überzeugt, einen
       Krieg gewinnen zu könne]n. Die geopolitischen Vorbereitungen darauf gehören
       zum Selbstverständnis beider Länder.
       
       Pakistan geriet vollends unter die Fuchtel seines Militärs; es suchte
       „strategische Tiefe“, unterstützte die Taliban in Afghanistan und näherte
       sich China an. Indien glitt in einen intoleranten Hindunationalismus
       ab; es suchte die militärische Überlegenheit und knüpfte mal Verbindungen
       zu Russland als Waffenlieferanten und mal zu den USA, die Alliierte gegen
       China brauchen. Die geopolitischen Spiele im Asien des 21. Jahrhunderts
       ähneln denen in Europa des 19. Jahrhunderts, nur dass die Spieler keine
       „Schlafwandler“ sind wie im berühmten Buchtitel des Historikers Christopher
       Clark über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1914 bis 1918: Sie
       wissen, was sie tun.
       
       Der Erste Weltkrieg geriet nicht außer Kontrolle, weil einzelne
       Kriegsparteien überstürzt in die Schlacht zogen, sondern weil das Spiel der
       Bündnisse in Europa eine unkontrollierbare Kette von Kriegsausweitungen
       nach sich zog. Auch in Asien ist die gefährlichste Nachricht dieser Tage
       nicht in den Schlagzeilen zu finden, sondern in der Bestätigung, dass es
       Pakistans Luftwaffe gelang, mit ihren chinesischen Kampfjets französische
       Kampfjets der indischen Luftwaffe abzuschießen. Und zwar in einer Aktion,
       in der keine Seite den eigenen Luftraum verließ.
       
       Zum ersten Mal hat China sein Militärgerät damit erfolgreich unter echten
       Bedingungen gegen hochmodernes europäisches Militärgerät getestet. Die
       Lehren daraus sind offensichtlich und beängstigend. In Taiwan wird man das
       genau studieren. Indien könnte nun die Eskalation beschleunigen und
       Pakistan vorbeugend in die Knie zwingen wollen. Und schon stünde die Welt
       mitten in einem großen Krieg, der die Kriege [4][in der Ukraine] und i[5][m
       Nahen Osten] in den Schatten stellen könnte. Das verrückte Jahr 2025 ist
       noch jung.
       
       10 May 2025
       
       ## LINKS
       
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