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       # taz.de -- Die Wahrheit: Buch und Bier, das lob ich mir
       
       > Angesicht von Katastrophen und Kriegen kann selbst der hartgesottenste
       > Tresensitzer manchmal den Weltblues bekommen und nach Widerstand rufen.
       
       Raimund hatte seine zerlesene Ausgabe der „Ästhetik des Widerstands“
       mitgebracht. „Heute“, sagte er verschmitzt, als er sich an die Thjeke des
       Café Gum setzte, „ist Tag des Buches.“ Theo verdrehte die Augen. „Und im
       Asialaden in der Hölderlinstraße ist ein Sack Reis umgefallen“, brummte er.
       Anscheinend hatte ihm irgendwas die Petersilie verhagelt – wahrscheinlich
       hatte er beim Zeitunglesen eine Überdosis Trump, Musk oder Weidel
       abgekriegt.
       
       Raimund ließ sich nicht beirren. „Und Tag des Bieres!“, fuhr er fort.
       „Echt?“, sagte Luis. „Beides am selben Tag? Ist ja irre!“ Sie bestellten
       fröhlich eine Runde, und Raimund rief: „Buch und Bier, das lob ich mir!“
       
       Theo kochte vor Wut, und Luis schob provozierend hinterher: „Tag des
       Weines, Tag des Schweines, Tag des nicht ganz reinen Reimes.“ Natürlich
       explodierte Theo umgehend. „Habt ihr sie denn noch alle?“, fauchte er:
       „Halb Europa wird von Nazis regiert, der Klimakollaps steht vor der Tür,
       überall Hunger und Elend und Krieg, und ihr verplempert eure Zeit mit
       solchem Bullshit. Was seid ihr für erbärmliche Wichte, ihr …“
       
       Wir gingen hinter der Theke in Deckung und warteten, bis sein Zorn
       verraucht war. „Vielleicht gibt es ja immerhin einen Tag der Apokalypse“,
       sagte Luis beschwichtigend, als Theo nur noch knurrend dasaß und sein Bier
       hinunterstürzte. „Oder einen Tag des Ausgangs des Menschen aus seiner
       selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
       
       Theo fixierte ihn böse. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ – „Nicht doch,
       Mann“, sagte Luis, doch Theo schien überhaupt nicht überzeugt.
       
       „Gibt’s beides nicht“, sagte Raimund. „Kein Tag der Apokalypse. Kein Tag
       der Befreiung des Menschen und so weiter.“ Er scrollte auf seinem
       Smartphone durch eine Liste, die er sich aus dem Internet runtergeladen
       hatte. „High-Five-Tag, Tag der verlorenen Socke, Tag des Zweinutzungshuhns
       …“ – „Tag des Zweinutzungshuhns?“, unterbrach ihn Luis. – „Ja, 22. Januar.“
       – „Was für einen Nutzen kann ein Huhn denn haben, außer dass es Eier legt?“
       – „Keine Ahnung“, sagte Raimund, „vielleicht gibt es Menschen, die mit
       Hühnern reden. Oder spazieren gehen. Kuscheln womöglich. Oder es gibt
       Hühner, die Mau-Mau spielen können. Was wissen wir schon von Hühnern?“
       
       Wir hörten es aus Theos Richtung brummen und grollen. Es war klar, dass er
       im nächsten Moment wieder ausbrechen würde wie ein Vulkan, doch da sagte
       Raimund: „Aber es gibt einen Tag des Ungehorsams.“ – Theo stutzte. „Was?“ –
       „Ja“, sagte Raimund. „Und er ist an deinem Geburtstag.“ – „Echt? Ich hab am
       Tag des Ungehorsams Geburtstag?“ – „Yep“, nickte Raimund. „Was ja nun
       besser als jedes Horoskop erklärt, warum du dich nirgendwo unterordnen
       kannst und Autoritäten geradezu zwanghaft einen Vogel zeigst.“
       
       Und so wurde es doch noch ein langer und schöner Abend, an dem uns Theo
       später sogar noch seine Lieblingsstellen aus der „Ästhetik des Widerstands“
       vorlas.
       
       13 May 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
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