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       # taz.de -- Ballett „Winterreise“ in Berlin: Das Stolpern seiner Schritte
       
       > Auf parallelen Bahnen: Das Staatsballett Berlin tanzt zu Schuberts
       > „Winterreise“, getaucht in viele Schattierungen von kühlem Grau.
       
   IMG Bild: Die großen Bögen von Spucks Choreografie sind anmutig und raffiniert
       
       „Barfuß auf dem Eise / wankt er hin und her, / und sein kleiner Teller,
       bleibt ihm immer leer.“ Es ist ein Bild zum Erbarmen, das der Dichter
       Wilhelm Müller 1824 in dem Gedicht „Der Leiermann“ zeichnete, Teil des
       Gedichtzyklus „Die Winterreise“. Schnee und Kälte, Eis und Wind grundieren
       in diesem Zyklus Emotionen der Trauer, der Einsamkeit und eines verlorenen
       Liebesglücks, das es nur in der Vergangenheit gab. In der Vertonung von
       Franz Schubert von 1827 wurden die Gedichte, die zu den abgründigsten der
       deutschen Romantik zählen, auch zu ihren beliebtesten. Aber auch zu einer
       so viel gehörten Musik, dass das selige Wiedererkennen den Zugang zur
       existenziellen Angst, die sie besingen, auch verstellen kann.
       
       Kann man daraus ein Ballett machen? Der Choreograf Christian Spuck wagte
       das 2018 am Ballett Zürich, dessen Direktor er damals war, und wurde dafür
       mit einem Preis ausgezeichnet. [1][Seit der Saison 2023/2024 ist er
       Intendant des Staatsballetts Berlin] und hat dieses Ensemble nicht nur
       personell ausgebaut zur größten Ballettcompagnie Deutschlands, sondern auch
       in kurzer Zeit aus einer langen Krise herausgeführt. Nach nur einem Jahr
       wurde das Staatsballett von einer Kritiker:innenjury zur Kompanie des
       Jahres gewählt.
       
       Schon deshalb lagen also die Erwartungen hoch, als Spuck für Berlin eine
       Neueinstudierung seiner „Winterreise“ ankündigte. Zumal man das Ensemble
       inzwischen auch in Inszenierungen erlebt hatte, etwa in [2][William
       Forsythe’ „One Flat Thing, reproduce]d“, in denen die Tänzer:innen in
       hohem Maße Individualität und Virtuosität unter Beweis stellen konnten.
       
       Doch von diesem Feuer einer vielfach gebrochenen und neu zusammengesetzten
       Grammatik des Balletts ist die „Winterreise“ weit entfernt. Es dominiert
       ein Wechselspiel zwischen Ensembleszenen und Duos. Schöne Bilder entstehen,
       wenn das Corps de Ballett große Körperlandschaften formt, die versinken und
       aufsteigen, sich ausdehnen und verengen, in Wellen bewegen. Und es ist
       nicht nur anmutig, sondern auch raffiniert, was die vielen Duos und
       manchmal Trios davor treiben: Wie die Männer die Frauen heben und drehen,
       jede Bewegung, jede sehnsuchtsvolle Linie dabei verlängern und in die Weite
       tragen, die Frauen schweben und fliegen lassen. Schön anzusehen, diese
       großen Bögen, aber dann doch auch etwas einseitig und konventionell in der
       Verteilung der Rollen für Frauen und Männer. Da ist das Ballett eigentlich
       schon weiter.
       
       Viele Schattierungen von Grau bestimmen Kostüme und das Bühnenbild in der
       Staatsoper Unter den Linden. Es gibt kleine illustrative Details, Krähen
       und Geäst sind manchmal an den Kostümen festgemacht, aber im Großen verhält
       sich die Choreografie weder illustrativ zu den starken sprachlichen Bildern
       der Lieder noch zu den Emotionen der Musik. Sie hält sie in einer Distanz,
       die Herz und Kopf herunterkühlt. Man schwimmt nicht davon mit den Emotionen
       der Musik.
       
       Die wird im Orchestergraben aufgeführt in einer Komposition für Tenor und
       kleines Orchester von Hans Zender. Diese Interpretation bricht das
       vertraute Klangbild auf, setzt dissonante und dramatische Akzente, baut
       Verzögerungen und Wechsel der Tonlagen ein, so dass sich das Wiedererkennen
       der Lieder mit einem Neuhören verbündet. Stolpernde Schritte, Müdigkeit,
       der körperliche Verfall des Wanderers, der sich fürchtet, doch nur dem Tod
       entgegenzulaufen, werden so akustisch und körperlich erfahrbar.
       
       Der Tenor Matthew Newlin steht zwischen den Musikern und wandert nur einmal
       zwischen den Tänzern umher. Manchmal scheint ihm der Wind die Worte zu
       rauben, einmal reißt Empörung über das erlittene Leid ihn aus der schönen
       Stimmung fort. So hat Zender die Dramatik des Zyklus aufgefächert.
       
       ## Kleinteiliges Spiel
       
       Von dieser Widerspenstigkeit der Musik, um den Gefühlen der gepflegten
       Melancholie nicht einfach zu erliegen, hätte man sich auch mehr in der
       Choreografie gewünscht. Zwar arbeitet [3][Christian Spuck] auch hier mit
       Brechungen, mit kleinen Disruptionen und Verschiebungen, aber das bleibt
       ein kleinteiliges Spiel, mehr ein groteskes Ornament am Rand, das die
       Bilder einrahmt.
       
       Zwar ist es gut, dass der Tanz die Musik und ihre Theatralik, die Lyrik und
       ihr Pathos weder zu illustrieren noch zu überhöhen versucht. Allein das
       Spannungsverhältnis zwischen der Sprache der Körper und dem Liedzyklus
       „Winterreise“ bleibt etwas zu ungenau.
       
       So reist man auf zwei parallelen Schienen durch den Abend, stimuliert und
       erregt von der Musik und auf Abstand gehalten von den tänzerischen
       Bildern.
       
       13 May 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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