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       # taz.de -- Die Wahrheit: Endstation Kinderzimmer
       
       > Immer später zieht Europas Jugend von Zuhause aus. Viele kehren alt zu
       > den noch älteren Eltern zurück.
       
   IMG Bild: Gleich ist es da: Das Boomerang-Kind“ im elterlichen Wohnzimmer
       
       Gern wird hierzulande über die Jugend in Italien gespöttelt, die im
       Durchschnitt erst mit über 30 Jahren aus dem „Hotel Mama“ auscheckt. Doch
       die tut das nicht aus Faulheit oder Spaß. Denn die Gesellschaft macht es
       den „Bamboccioni“, den Riesenbabys nicht gerade leicht, flügge zu werden.
       Wohnraum ist knapp, dazu kommen hohe Jugendarbeitslosigkeit, niedrige
       Einkommen und Wuchermieten.
       
       Aus ähnlichen Gründen verschiebt sich in ganz Europa das Auszugsalter der
       lieben Kleinen immer weiter. Auch in Deutschland. Türmten die Adoleszenten
       früher meist derart fluchtartig, dass hinter ihnen noch die volle
       Kaffeetasse auf dem Tisch dampfte, unterscheidet man heute bloß noch in
       „Nesthocker“, „Madenkinder“ und „Klettenkinder“.
       
       Analog bricht sich ein neuer Extremtrend Bahn: Altersarmut ist der Grund,
       dass nicht nur junge, sondern vermehrt auch alte Gören in ihre einstigen
       Jugendzimmer zurückkehren. Für diese „Boomerang-Kinder“ wird das Elternhaus
       zum eigenen Altersheim. Denn wo der Lohn so eben noch für die Miete
       reichte, reichen Grundsicherung und Rente dann wirklich nicht mehr aus. So
       bleibt als letzter Ausweg, wieder bei den Eltern anzuklopfen, die wegen der
       gestiegenen Lebenserwartung zum Glück oft noch leben.
       
       Auch der arbeitslose Rolf-Günter Bräsekamp (62) ist zu seinen Eltern in die
       Hochhaussiedlung am Kasseler Stadtrand zurückgezogen. In seinem Zimmer
       sieht alles noch exakt so aus wie bei seinem Auszug vor fast 45 Jahren.
       Noch immer liegt eine offene Packung Tempotaschentücher neben dem
       Jugendbett, auf dem er beinahe Renate Wollmann (Nachhilfe Reli, Latein)
       geküsst hätte. Über dem Bett hängt ein Poster der „Bay City Rollers“; im
       Ikea-Regal steht neben dem „Westermann“-Schulatlas, in dem noch gepunktet
       die Grenzen des Deutschen Reichs von 1937 eingezeichnet sind, eine
       angebrochene Flasche Berentzen Appel; auf dem Dual-Plattenspieler verstaubt
       eine „Led Zeppelin“-LP. Man fühlt sich wie in einem Museum für die
       Siebzigerjahre.
       
       ## Im Angesicht der Schlumpfsammlung
       
       „Es ist wie endgültig nach Hause zu kommen“, sagt Bräsekamp. Nachdenklich
       streift sein Blick die Schlumpfsammlung auf dem Nachtkästchen:
       Hammerschlumpf, Postschlumpf, Schlumpfinchen – alle noch da. „Oder nee,
       eher wie die Rückkehr in den warmen Mutterschoß. Ich hätte niemals
       ausziehen dürfen – das war doch alles sinnlos. Ausbildung, Beruf, Familie,
       Scheidung. Was habe ich mir nur dabei gedacht?“
       
       Aber natürlich hat sich einiges geändert, allein dem Alter geschuldet:
       Rolf-Günter gibt sich jede Nacht mit seinem alten Vater die Klinke zur
       Klotür in die Hand. Ansonsten genießt er alle Freiheiten: „Meine Eltern
       haben mir sogar einen eigenen Schlüssel gegeben. Damit kann ich rein und
       raus, wann ich will.“
       
       Herwig Bräsekamp (92) freut sich über die Rückkehr seines Sohnes. „Alle
       unsere Freunde haben ihre Kinder jetzt bei sich zu Hause. Es ist wie
       früher. Rolf-Günter kommt von der Kneipe spät nach Hause und schläft dann,
       bis Mutti ihn zum Mittagessen weckt. Er haut noch genau so rein wie
       damals.“ Es sei, bestätigt die Mutter, als schließe sich der Kreis des
       Lebens. „Wenn unsere Tochter Erika zu uns zurückzieht, nachdem ihr Mann
       gestorben ist, sind wir endlich wieder eine Familie.“
       
       Ein noch neueres Phänomen sind die sogenannten „Omarangkinder“ wie Hermann
       Klapproth. Seit seine Eltern mit noch nicht mal hundert Jahren verstorben
       sind, ist er auf einmal unerwartet Vollwaise, und allein von seiner Rente
       kann er sich die Miete im Kinderzimmer seines Elternhauses nicht mehr
       leisten. Doch zum Glück sind da noch seine Großeltern Hans (122) und Trude
       (119) Klapproth, die den Enkel in ihrer Wohnung aufnehmen können.
       
       „Ich war schon immer am liebsten bei Oma und Opa“, gesteht der 68-Jährige.
       „Hier erfüllt sich ein ewiger Kindheitstraum.“ Ein eigenes Zimmer hat er
       dort nicht, doch jeden Abend nach dem Fernsehkrimi wird für ihn die
       Wohnzimmercouch bezogen. Wenn der ehemalige Fremdenlegionär schlecht
       träumt, darf er zu Oma und Opa in die Besucherritze. Oma kocht jeden Tag
       Schokoladenpudding, und oft gehen sie in den Zoo.
       
       Dabei muss selbst der Tod von Eltern und Großeltern nicht das Ende des
       verlängerten Abhängigkeitsverhältnisses sein. Vielen bleibt ob des
       Wohnmarkts nichts anderes übrig, als in einer Multivitalitäts-WG weiter mit
       ihren toten Eltern, Großeltern und Urgroßeltern zusammenzuleben. Was im
       Volksmund die sogenannten „Zombiekinder“ sind, kennt die
       Sozialwissenschaft unter dem Namen „Norman-Bates-Kinder“. Diese teilen die
       Wohnung dann neu in Kinderzimmer sowie Sterbe- und Skelettzimmer für die
       verschiedenen Generationen auf. Die WG hält idealerweise bis zum eigenen
       Ableben. Denn wer lässig auf redundante Amtsschimmeleien wie Totenschein
       und Sterbeurkunde pfeift, kassiert auch weiter die Rente seiner
       Altvorderen. Muss ja auch, um die Wohnung zu halten, denn schließlich erben
       nicht alle reich.
       
       16 May 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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