URI: 
       # taz.de -- Nachwahl in Großbritannien: Wer zuletzt grinst …
       
       > Nigel Farages rechtspopulistische Reform UK will Labour erstmals einen
       > Wahlkreis abluchsen. In Runcorn & Helsby stehen die Chancen gut.
       
   IMG Bild: Selbstsicher: Reform-Kandidatin Sarah Pochin
       
       Runcorn taz | In der Wahlkampfzentrale von Reform UK im Einkaufszentrum von
       Runcorn, einem Bau, der innen wie außen wie in den 1970er Jahren
       eingefroren erscheint, herrscht Hochbetrieb zwischen Billigsupermärkten und
       Secondhandläden. Es wird eifrig telefoniert und an Laptops gearbeitet, auf
       Tischen sind Wahlmaterialien gestapelt. Im türkisfarbenen Ladenraum
       unterhalten sich Parteimitglieder mit neugierigen Menschen, die mit ihren
       Einkaufstaschen hereinkommen. Die rechtspopulistische Partei hat sich unter
       ihrem neuen Geschäftsführer Zia Yusuf, Sohn srilankischer Einwanderer und
       Techmillionär, neu aufgestellt: Es gibt ein gut besetztes Pressebüro,
       Wahlstrategen und professionellen Wahlkampf.
       
       [1][Der Wahlkreis Runcorn and Helsby] in Cheshire unweit von Liverpool gilt
       als einer der sichersten Labour-Wahlkreise Großbritanniens. Er erstreckt
       sich von ländlichen Gegenden bis zur [2][großen Ölraffinerie] am Ufer des
       Flusses Mersey. Am Donnerstag findet hier eine Nachwahl zum britischen
       Unterhaus statt – und Reform UK könnte gewinnen.
       
       Die Umfragen legen ein Kopf-an-Kopf-Rennen nahe, in der Toilette des
       Einkaufszentrums von Runcorn haben die Pissoirs bereits Schutzmatten in der
       Reform-Farbe Türkis.
       
       Dass es überhaupt zur Nachwahl kommt, liegt am bisherigen
       Labour-Abgeordneten [3][Mike Amesbury]. Der erst im Juli 2024 mit 53
       Prozent der Stimmen wiedergewählte Politiker musste im März zurücktreten,
       nachdem er zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, weil er
       in betrunkenem Zustand an einem Samstagmorgen einen Mann zu Boden geprügelt
       und ihn angebrüllt hatte: „Du wirst deinem Abgeordneten nie wieder drohen,
       verstanden?“ Das war das Ende seiner Karriere.
       
       ## Labour hat sich von seiner Basis entfremdet
       
       Labours Schrecken ist nun die ehemalige Laienrichterin [4][Sarah Pochin].
       Bei den Wahlen 2017 kandidierte sie für die Konservativen im
       Labour-Wahlkreis Bolton South East bei Manchester und wurde Zweite.
       Inzwischen ist sie zur rechten Konkurrenz Reform UK gewechselt.
       
       Sollte Pochin für Reform UK Runcorn and Helsby holen, wäre es ein Schock
       für die britische Politik. Kein Jahr ist Labours Triumph bei den
       Parlamentswahlen vom Juli 2024 her. Aber unpopuläre Sparmaßnahmen haben
       [5][die Wählerbasis entfremdet], sein uninspiriertes hölzernes Image ist
       Premierminister Keir Starmer nicht losgeworden, seine Sympathiewerte sind
       im Keller. Die Unzufriedenen wenden sich nicht den Konservativen zu, die
       Großbritannien vorher regierten. Sie gehen gleich zur Partei von Nigel
       Farage. In manchen landesweiten Umfragen liegt Reform UK inzwischen auf dem
       ersten Platz, ein Sieg in Runcorn and Helsby wäre die Bestätigung.
       
       Reform UK steckt alles in diese Nachwahl. Zahlreiche
       „Informationszeitungen“, die sich Runcorn and Helsby Voice oder Runcorn and
       Widnes Weekly News nennen, verbreiten Parteipropaganda: In den vergangenen
       zehn Jahren hätten sich 7,2 Millionen Nicht-Briten bei Großbritanniens
       Hausarztpraxen angemeldet, steht da. Auf Fotos grinst [6][Parteichef Nigel
       Farage] oder läuft mit Sonnenbrille durch die Gegend. Sein Name zieht am
       meisten, seine Ambition ist wenig bescheiden. Der 61-jährige Farage will
       der nächste britische Premierminister werden. Und noch nie standen seine
       Chancen so gut.
       
       ## Knackpunkt: Geflüchtete im Hotel
       
       Zum spontanen Fototermin mit der taz im Einkaufszentrum tritt
       Reform-Kandidatin Pochin selbstsicher und professionell auf: fester
       Händedruck, Blickkontakt, leichtes Lächeln, Posieren vor dem türkisfarbenen
       Parteiemblem. Einst hieß sie genauso professionell freundlich als
       Ehrenbürgermeisterin Flüchtlinge in der Region willkommen. Heute ist ihr
       Thema, wie das ihrer Partei, der Kampf gegen illegale Migration. Auf einem
       ihrer Flyer steht das Versprechen des letzten konservativen
       Premierministers Rishi Sunak, er werde „die Boote stoppen“.
       
       Vor Ort geht es um die Beherbergung von 750 Asylsuchenden in einem
       Hotelkomplex in der Region. 2020 hatten Rechtsextreme vor dem Hotel
       protestiert und waren provozierend in das Gebäude eingedrungen. Bis die
       Polizei eintraf, stellten und filmten sie untergebrachte Personen.
       Reform-Chef Nigel Farage verspricht nun, als Premierminister werde er alle
       Illegalen außer Landes bringen. In diesem Wahlkampf fordert Reform UK auch
       eine Abkehr von Klimazielen und eine Wiedereinführung der von der
       Labour-Regierung abgeschafften Heizkostenbeihilfe für Rentner:innen.
       
       Als erfahrene Kommunalpolitikerin hat Pochin auch lokale
       Wahlkampfversprechen: „faire“ Mautgebühren für Einheimische für die
       Mersey-Brücke nach Liverpool, ein neues modernes Sportzentrum, ein Kino.
       Zitieren lässt sie sich allerdings nicht, auf Nachfragen gibt ihre
       Pressestelle keine Antwort.
       
       Dem ehemaligen Polizisten Andrew Perry bietet Reform UK die Gelegenheit für
       eine Protestwahl, damit die Konservativen wieder auf ihre Wähler:innen
       hören. Von Reform UK selber hält er eigentlich weniger: „Ich glaube, dass
       Reform UK erst noch ihren Markenwert beweisen müssen“, räumt er ein. Im
       Dorf Ince will der in der angrenzenden Ölraffinerie arbeitende Lee Barlow,
       60, auch Reform UK wählen. „Ich weiß, eigentlich sollten wir Arbeiter
       Labour wählen, aber Labour ist nicht mehr das, was die Partei mal war“,
       findet er.
       
       Dann gesteht Barlow, dass er sich Sorgen macht über die angeblich aus dem
       Nichts entstandene muslimische Gemeinschaft in seiner Geburtsstadt
       Ellesmere Port hinter der Ölraffinerie. „Wir sind kulturell nicht vereinbar
       und ich verstehe nicht, was die da wollen, denn Arbeit gibt es dort keine.“
       Bei der letzten Volkszählung zählte die Hafenstadt gerade mal 671 Personen
       muslimischen Glaubens, ein Prozent der Bevölkerung. Dennoch spricht nicht
       nur Barlow von türkischen Friseursalons, über die angeblich Geldwäsche und
       Drogenhandel laufe.
       
       Auch der Farmer Graham Hillyer, 73, auf seinem Hof auf einem Hügel über der
       Stadt Helsby, will Reform UK wählen. Während er seine Hühner füttert, im
       Hintergrund laufen Schafe und Kühe über die Felder, schimpft er über
       Labours Abschaffung der Erbsteuerbefreiung für Kleinbauern. Auch die
       Konservativen mag er nicht mehr, diesmal geht seine Stimme an Farages
       Partei. „Er spricht gut und hat seine Arbeit mit Brexit gut gemacht.“
       
       ## „Ich halte Reform UK für rassistisch“
       
       Doch andere geben sich weniger beeindruckt. Die 82-jährige Schneiderin Jane
       Esposito hat vor dem Vorgarten ihres Reihenhauses in Helsby ein Schild für
       die Grünen angebracht. Damit ist sie eine der ganz wenigen im gesamten
       Wahlkreis, die ihr Zuhause mit politischer Couleur markiert haben. Dabei
       wählt Jane gar nicht grün, sie hat schon per Briefwahl für Labour gestimmt.
       „Ich halte Reform UK für rassistisch und glaube, dass sie das staatliche
       Gesundheitssystem privatisieren würden. Obendrauf kommt deren Ansicht, dass
       wir keine Klimaneutralität brauchen“, erklärt sie.
       
       Die 30-jährige Serviceangestellte Lorna McAvoy will aus dem gleichen Grund
       Labour wählen. „Labour vermittelt mir derzeit kein Gefühl, dass sie noch
       für die Arbeiterklasse sind, reiche Menschen besteuern oder öffentliche
       Einrichtungen schaffen, aber es geht prinzipiell darum, Reform UK hier
       nicht siegen zu lassen.“
       
       In Daresbury, dem Geburtsort des „Alice im Wunderland“-Autors Lewis
       Carroll, erzählt Andy Cairns, 62, dass er eigentlich die Liberaldemokraten
       befürwortet, aber taktisch Labour wählen werde, gegen Reform UK. Der
       Projektmanager im Gesundheitswesen sagt, dass Farage große Sprüche mache,
       hinter denen nichts stecke. Von seinen Warnungen vor Überfremdung hält er
       nichts: „Ich gehe am Sonntag in die Kirche, und da kommen auch Flüchtlinge
       aus dem Hotel, von dem hier alle sprechen. Es sind Christen aus dem Iran,
       Irak und Syrien – alles rechtmäßige Flüchtlinge.“
       
       Aber selbst Labour-Kandidatin Karen Shore, ehemalige Lehrerin und bisherige
       stellvertretende Leiterin des Kommunalrates in Cheshire West, spricht sich
       im Wahlkampf [7][gegen die Unterbringung der Asylbewerber:innen in dem
       Hotel] aus. Der Grund: Sie können sich dort nicht selbst versorgen, es gibt
       keine Kochstellen. Das Innenministerium hat nun rechtzeitig vor den Wahlen
       angekündigt, die Unterbringung von Flüchtlingen dort zu beenden, womöglich
       um dem Thema den Wind aus den Segeln zu nehmen.
       
       Im Labour-Wahlkampfbüro in einem gemieteten Bürokomplex in einem
       Industriegebiet am Stadtrand, wo emsig Freiwillige zwischen Stapeln von
       Wahlkampfmaterialien ein und aus gehen, erscheint Shore mit warmer
       Ausstrahlung. Dies sei eine Wahl zwischen ihr, die wirklich hart für die
       Gegend arbeite, und dem Chaos von Nigel Farage, fasst sie die Lage
       zusammen. Wie ihre Reform-Konkurrentin, lässt sich allerdings auch die
       Labour-Kandidatin nicht direkt zitieren. In ihrem Namen übermittelt ihr
       Pressebüro eine Erklärung: „Echte Veränderungen kommen nur von mir, wie
       mehr Gesundheitstermine, ansprechbare Wachtmeister, wahre Regenerierung
       unserer Stadtzentren.“
       
       Wird das genügen, um gegen die Partei des ewig grinsenden Nigel Farage zu
       bestehen? In der All Saints Church in Daresbury, dort, wo Andy Cairns zur
       Sonntagsandacht geht, erinnert eine Glasmalerei aus dem Jahr 1935 [8][an
       den berühmten Kinderbuchautor Lewis Carroll]: Neben der schreienden
       Herzkönigin, dem Hutmacher, der Raupe Absolem und dem weißen Kaninchen
       sieht man die hinter allem steckende dreist grinsende Cheshire Cat – die
       Grinsekatze, deren Grinsen bleibt, auch wenn die Katze verschwunden ist.
       
       30 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://en.wikipedia.org/wiki/Runcorn_and_Helsby_(UK_Parliament_constituency)
   DIR [2] https://en.wikipedia.org/wiki/Stanlow_Oil_Refinery
   DIR [3] https://en.wikipedia.org/wiki/Mike_Amesbury
   DIR [4] https://x.com/SarahForRuncorn
   DIR [5] /Britische-Labour-Regierung-in-Noeten/!6062574
   DIR [6] /Comeback-von-Nigel-Farage/!6017715
   DIR [7] https://labourlist.org/2025/03/runcorn-helsby-karen-shore-labour-candidate-by-election-asylum-seekers/
   DIR [8] https://daresburycofe.org.uk/about-us/lewis-carroll-window/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
       ## TAGS
       
   DIR Großbritannien
   DIR Labour
   DIR Nigel Farage
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Großbritannien
   DIR Wahlen in Großbritannien
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Flüchtlingspolitik
   DIR Großbritannien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR EU-britischer Gipfel in London: Des Brexits neue Kleider
       
       Neue Abkommen zwischen Großbritannien und der EU sollen den Neustart in den
       Beziehungen einläuten. Es geht um Hund und Katze, Migration und Munition.
       
   DIR Teilwahlen in Großbritannien: Rechter Höhenflug auf Kosten von Labour und Tories
       
       „Reform UK“ gewinnt Regionalwahlen in England sowie eine Nachwahl zum
       Unterhaus. Die Rechtspopulisten wollen nun die Migrations- und Klimapolitik
       der Labour-Regierung blockieren.
       
   DIR Teilwahlen in Großbritannien: Nigel Farage kann feiern
       
       Die Rechtspopulisten von Reform UK gewinnen eine Nachwahl zum britischen
       Parlament und holen auch weitere Erfolge. Aber Labour verliert nicht
       überall.
       
   DIR Nach den Krawallen von Southport: Nichts mehr wie vorher
       
       Das Massaker und die rechten Krawalle in Großbritannien sind einen Monat
       her. Das Entsetzen ist noch groß, die Solidarität aber auch.
       
   DIR Rechter Mob in Großbritannien: Stichwortgeber für die Schande
       
       Rechte Gewalttäter attackieren Flüchtlingsunterkünfte in ehemaligen Hotels.
       Die Ressentiments, die dazu führten, schürt die Politik selbst.
       
   DIR Vor den Wahlen in Großbritannien: Britischer Pott
       
       Die Kohleregion Bolsover war jahrzehntelang in Labour-Hand. Bis 2019. Nun
       will Labour den Wahlkreis zurückerobern.