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       # taz.de -- Gedenken an das Dersim-Massaker: Ein weitgereister Stein
       
       > Die Dersim-Gemeinde erinnert ab Sonntag mit einem neuen Mahnmal an ein
       > Massaker, das der türkische Staat 1937 verübte – und bis heute
       > verschleiert.
       
   IMG Bild: Kemal Karabulut, Gründer der Berliner Dersim-Gemeinde, ließ den Stein vom Osten der Türkei nach Berlin transportieren
       
       Berlin taz | Am Ende einer zehnjährigen Auseinandersetzung steht für Kemal
       Karabulut ein Stein. Der zwei Tonnen schwere Felsblock, der jetzt in einem
       leicht vermüllten Park in Kreuzberg unter einer Plane verborgen liegt, hat
       eine weite Reise hinter sich. Karabulut hat ihn im Osten der Türkei aus dem
       Massiv des Munzur-Gebirges herausgeschlagen und über Istanbul mit dem LKW
       nach Berlin transportieren lassen. „Ich bin an der Arbeit für das Denkmal
       fast zugrunde gegangen“, sagt der Mann, als er andächtig die Abdeckung
       beiseite schiebt und einen Blick auf die Skulptur gewährt, die am Sonntag
       eingeweiht wird.
       
       Damit bekommt die Berliner Dersim-Gemeinde etwas, was es in den Augen
       vieler Menschen eigentlich nicht geben darf: einen festen Gedenkort für
       [1][ein Massaker, das die türkische Regierung in den Jahren 1937 und 1938
       im Osten des Landes verübte.] In der Provinz Tunceli brachte das Militär
       damals Zehntausende Menschen um, mit dem Ziel, die zazasprachige und
       alevitische Bevölkerung in der Region auszulöschen. Die genaue Zahl der
       Toten ist unbekannt, Schätzungen gehen von 14.000 bis 50.000 Toten aus. Die
       Akten zu den blutigen Geschehnissen liegen in Archiven in Ankara unter
       Verschluss – verdeckt von einer türkischen Staatsideologie, die ethnische
       Pluralität als Gefahr für die nationale Einheit betrachtet.
       
       Ein Tabu kreist auch um den historischen Namen der Provinz Dersim. 1935
       beschloss die türkische Regierung, dass die Region Tunceli zu heißen hat.
       Der Name trägt die Gewalt schon in sich: „bronzene Hand“ – besser
       verstanden als „eiserne Faust“. Schätzungen zufolge leben heute etwa
       200.000 Menschen mit Wurzeln in der historischen Provinz Dersim in
       Deutschland. Mit Vereinen in Berlin, Köln, Dortmund und Mannheim versuchen
       sie, ihre kulturelle Existenz am Leben zu erhalten.
       
       Der 65-jährige Karabulut ist Gründer der Berliner Gemeinde und koordiniert
       heute die Arbeit der vier deutschen Vereine in der Föderation der
       europäischen Dersim-Gemeinden. Das Mahnmal in Berlin sieht er als ein
       Lebensprojekt. „Dieser Stein hat gesehen, was der Staat verbergen will“,
       sagt er.
       
       Die Menschen in Dersim sehen sich als Alevit*innen. Sie pflegen eine
       animistische Glaubensphilosophie, in der der Natur göttliche Eigenschaften
       zugeschrieben werden. „Jare“ bezeichnen auf Zaza, der bis heute
       unterdrückten Sprache der Dersimer*innen, sagenumwobene Stätten, in
       denen etwa markante Felsformationen zur Andacht genutzt werden. An diese
       Tradition erinnert auch der Stein, der nun etwa 2.500 Kilometer
       nordwestlich seines Ursprungs in einem Kreuzberger Park neben dem
       Vereinshaus der Gemeinde aufgestellt wird.
       
       Stolz zeigt Kemal Karabulut den Felsblock, der verpackt in mehreren Lagen
       Folie wie ein mumifizierter Hinkelstein wirkt. Noch sind die Arbeiten
       nicht ganz abgeschlossen; in Istanbul wurde der etwa 1,70 hohe Felsblock
       gespalten, in sein Inneres wurde die anatomische Form eines Herzens
       gemeißelt. Nun sollen noch die Namen der Orte des Verbrechens hinzukommen,
       an denen in den Jahren 1937 und 1938 Menschen getötet wurden. Bei der
       Einweihung des Denkmals gibt der Stein dann sein Inneres preis: Über einen
       elektrischen Mechanismus lässt sich das Mahnmal öffnen und schließen, am 4.
       Mai soll das zum ersten Mal geschehen.
       
       ## Der Tag, an dem die Welt unterging
       
       Das Datum markiert den Beginn dessen, was die Nachkommen heute als Tertele
       bezeichnen: der Tag, an dem die Welt unterging. Im Beisein von
       Republikgründer Mustafa Kemâl Atatürk gab das Regierungskabinett in Ankara
       am 4. Mai 1937 im Geheimen den Marschbefehl für bis zu 50.000 Soldaten in
       die Provinz Tunceli mit dem Ziel, die „Dörfer gänzlich zu vernichten und
       ihre Einwohner zu deportieren“.
       
       Auch Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gökçen, nach der in Istanbul ein
       Flughafen benannt ist, nahm an der Bombardierung der Region teil. Die
       Soldaten gingen mit größter Gewalt vor, zerstörten ganze Dörfer, Männer,
       Frauen und Kinder wurden massenhaft erschossen. Laut Berichten vergaste das
       Militär auch Menschen, die in der zerkarsteten Landschaft Zuflucht in
       Höhlen gesucht hatten.
       
       [2][2011 nahm der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep
       Tayyip Erdoğan in einer Ansprache Stellung zu den Ereignissen] und
       entschuldigte sich im Namen des Staates. „In den Jahren 1937, 1938 und 1939
       spielt sich in Dersim dann tragischerweise ein großes Drama ab. Aus der
       Luft, vom Boden, mit Kanonen, darüber hinaus sogar mit Gasbomben, wird in
       Dersim alles, was sich bewegt, seien es Kinder, seien es Frauen,
       abgeschlachtet“, sagte er in einer vielbeachteten Rede, in der er auch aus
       Archivmaterial zitierte.
       
       Erdoğan forderte, das die oppositionelle CHP für den Massenmord im Osten
       des Landes die Verantwortung übernimmt. Die Organisation des Staatsgründers
       Atatürk war bis 1945 die einzige im Land zugelassene Partei. Kritiker sahen
       in dem Vorstoß Erdoğans einen Versuch, die Opposition zu spalten und ihren
       damaligen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, ein Alevite aus Tunceli, an die
       Wand zu drängen. Passiert ist seit Erdoğans Erklärung: nichts. Die
       staatlichen Archive blieben verschlossen, ein Amtsgericht in Tunceli hatte
       im Jahr 2020 gar ein wissenschaftliches Dersim-Zentrum in der Stadt mit der
       Begründung verboten, die dortige Arbeit laufe der nationalen Einheit
       zuwider.
       
       ## Aufarbeitung in Deutschland
       
       „Die Aufarbeitung ist etwas, was hier in Deutschland passieren muss, weil
       in der Türkei nicht damit zu rechnen ist“, sagt Ismail Küpeli. Der
       Wissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum ist seit einem halben Jahr
       damit beschäftigt, Videomaterial von Überlebenden des Massakers zu sichten
       und für ein wissenschaftlich zugängliches Online-Archiv aufzubereiten. Die
       Zeitzeug*innen schildern laut Küpeli brutale Erlebnisse: „Es geht um
       die Gewalt, um Massenerschießungen und um die Deportationen der Menschen in
       den Westen der Türkei.“
       
       Die Aufnahmen gehen auf eine Initiative der Dersim-Gemeinden und des
       damaligen Bundestagsabgeordneten aus Duisburg, Hüseyin Kenan Aydın (Linke),
       zurück. Sie hatten es sich 2008 zur Aufgabe gemacht, die wenigen
       Überlebenden des Massakers ausfindig zu machen und ihre Erzählungen
       aufzunehmen, bevor es zu spät ist. Sie trafen die damals 70- bis
       80-jährigen Frauen und Männer in der Türkei, aber viele von ihnen auch in
       Deutschland. Von den 400 teils mehrstündigen Interviews wählt das Team von
       der Ruhr-Uni nun 100 Gespräche aus und erstellt deutsche und türkische
       Transkriptionen – für dieses Oral-History-Projekt gab es im Sommer 2024
       über die geschäftsführende Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) eine
       Förderung in Höhe von 580.000 Euro über zwei Jahre.
       
       Hüseyin Kenan Aydın will bei der Aufarbeitung nicht länger auf die Türkei
       warten. „Der Staat ist unfähig, die Ereignisse aufzuklären, weil er etwas
       zu verbergen hat.“ Umso bedeutsamer sei das gesammelte Interviewmaterial.
       „Wir Dersimer schaffen unser eigenes Archiv, damit wir uns nicht mehr auf
       die Dokumente des Täters verlassen müssen“, sagt er.
       
       ## Anerkennung des Massakers als Genozid
       
       Parallel zu dem Gedenken in Berlin koordiniert Aydın mit mehreren
       Dersim-Initiativen eine Veranstaltung in Köln, in der sie die Anerkennung
       des Massakers als Genozid fordern. Andere Hinterbliebene bezeichnen die
       Ereignisse ebenfalls längst als Völkermord. „Der Genozid von Dersim war
       kein lokales Missverständnis, sondern ein Verbrechen mit Strategie und
       System“, sagt der Berliner Kemal Karabulut.
       
       Politikwissenschaftler Ismail Küpeli sieht eine Bewertung des Massakers als
       Genozid ebenfalls als naheliegend. Zunächst müsse jedoch mehr geforscht
       werden. Eines lasse sich aber jetzt schon sagen: „Die frühere Auffassung,
       dass es sich um die Niederschlagung eines Aufstands in Dersim handelte, ist
       eindeutig widerlegt.“
       
       Bis heute werde die massive Gewalt immer wieder damit gerechtfertigt, dass
       es in Dersim zu einer groß angelegten Revolte gegen den türkischen Staat
       gekommen sei. Laut Küpeli seien sehr kleine Ereignisse wie das Kappen einer
       Telefonleitung oder das Niederbrennen einer Holzbrücke in der Region als
       Vorwand dafür genutzt worden, längst vorhandene Pläne für die
       Vernichtungsoperationen in die Tat umzusetzen. „Es gab keinen Versuch, die
       Täter zu verhaften, stattdessen wurde die ganze Bevölkerung zum Ziel des
       Militärs.“ Dafür sei die Provinz mit dem Tunceli-Gesetz bereits vorher, im
       Jahr 1935, einem Militärgouverneur mit weitgehenden Vollmachten unterstellt
       worden.
       
       In Köln soll bei der Gedenkveranstaltung auch die designierte
       Staatsministerin im Auswärtigen Amt, die CDU-Politikerin Serap Güler,
       sprechen. Sie wollte sich auf Anfrage nicht dazu äußern, welchen Platz die
       Erinnerung an das Dersim-Massaker in Deutschland haben sollte.
       
       ## Gedenkkultur in postmigrantischer Gesellschaft
       
       In Berlin hatte die Gemeinde die Arbeiten [3][zum Denkmal schon 2015
       begonnen]. Doch neben dem Widerstand von türkisch-nationalistischen Gruppen
       gab es auch Ablehnung vonseiten der Union. Der damalige Kreuzberger
       CDU-Kommunalpolitiker und heutige Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus,
       Timur Husein, etwa hatte die Befürchtung geäußert, dass „andere
       Opfergruppen wie Bosnier oder Tschetschenen“ ebenfalls mit Forderungen nach
       Gedenkorten an den Bezirk herantreten könnten.
       
       [4][Politikwissenschaftler Küpeli] findet, dass man sich dieser Diskussion
       stellen müsse. Viele der Gewalterfahrungen, um die es bei dem Gedenken an
       Dersim gehe, ließen sich auch auf andere Orte übertragen. „Das Denkmal und
       den Jahrestag könnte man für eine Diskussion nutzen, die über Dersim
       hinausgeht.“ Es gehe darum, wie die Erinnerungskultur in der
       postmigrantischen Gesellschaft insgesamt organisiert werden könne.
       
       Kemal Karabulut freut sich, dass in Berlin die Erinnerung an die
       Geschehnisse nun einen festen Platz bekomme. „Dieser Stein ist mehr als ein
       Mahnmal, er ist der Anfang für Gespräche, die lange vermieden wurden“, sagt
       er.
       
       4 May 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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