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       # taz.de -- Konzeptkunst in Kassel: Historische Quellen kreativ ausgeschöpft
       
       > Der mexikanische Konzeptkünstler Mario García Torres schaut auf die
       > Vergangenheit der Kunst. Nun wird er im Fridericianum in Kassel
       > ausgestellt.
       
   IMG Bild: Xoco está aburrido (Xoco is bored) heißt diese Installation von Mario García Torres aus dem Jahr 2021
       
       Was hat David Bowie mit den [1][Pet Shop Boys], Electro mit Industrial und
       was hat Cardi B mit Bad Bunny zu tun? Wer im Fridericianum Kassel vor den
       weißen Schautafeln mit Diagrammen steht und sich einen Reim auf die
       Zusammenhänge zwischen Musiker:innen, Tänzen oder Genres zu machen
       versucht, die mit einem Gewirr von Pfeilen und Linien verbunden sind, dem
       dämmert: Die scheinbare Übersichten auf Mario García Torres’ schwarz-weißen
       Siebdrucktafeln stellen keine endgültige Musikgeschichte dar. Wer gleich in
       Lernhaltung verfällt, wenn etwas im Museum nach Schule aussieht, ist in
       diesem Institut falsch.
       
       Auf den Tafeln hat der 1975 im mexikanischen Monclova geborene Künstler
       seine eigene musikalische Sozialisation aufgezeichnet, sein individuelles
       Universum der Wechselwirkungen zwischen Musikrichtungen und
       Interpret:innen, die ihn im Lauf seines Lebens geprägt haben. Eine finale
       Lektion gibt es hier nicht. Was aber bei den Betrachtenden hängen bleibt,
       ist ein Gefühl für Kanon, Einflüsse und Aneignungen.
       
       Torres’ jüngste, in den letzten zwei Jahren entstandene, Arbeit wirkt wie
       ein [2][Musterbeispiel der Konzeptkunst]. Sie enthüllt zugleich das
       künstlerische Selbstverständnis des 1975 Geborenen. „Kunst ist für mich
       kein Soloprojekt“, erklärt der Mann, der gern Partikel des Werks
       historischer Künstler:innen aus der Arte Povera oder der Konzeptkunst
       zu neuen Geschichten formt, „Kunst ist eine Mixtur aller Einflüsse“.
       
       Wenn Torres seine Ausstellung „A History Of Influence“ nennt, ist damit
       nicht Unterordnung oder Unterwerfung gemeint, sondern eher das kreative
       Aufsaugen und Sich-Auseinandersetzen mit dem Kontext, in den jeder Mensch
       gestellt ist. Historische Quellen derart einfallsreich auszuschöpfen, muss
       nicht öde, sondern kann humorvoll sein.
       
       Die historischen Fotos des Schweizer Fotografen Balthasar Burkhard von dem
       Künstler Mario Merz, die Torres im Archiv des legendären Kurators Harald
       Szeemann im Getty-Center in Los Angeles aufgestöbert hat, hat der Künstler
       animiert und mit Techno-Sounds überlegt. Auf der wandgroßen Installation im
       Mittelsaal des Fridericianum tanzt der Altmeister der Arte Povera,
       Teilnehmer der documenta-Schauen 5 bis 7 und der documenta 9, in der heute
       nicht mehr existierenden Kasseler Bar „Zur Standuhr“.
       
       Mit der documenta-Stadt verbindet Torres eine ganz eigene Geschichte. Im
       selben Saal wie bei der documenta 13, an der er 2012 teilnahm, zeigt er
       noch einmal seine Arbeit „¿Alguna vez has visto la nieve caer? – Hast du
       jemals den Schnee fallen sehen?“ In dem 74-minütigen Film-Essay, halb
       Dokumentation, halb Fiktion, dokumentiert er seine jahrelange Suche nach
       dem geheimnisvollen „One Hotel“, das der Arte-Povera-Künstler Alighiero
       Boetti von 1972 bis 1979 im afghanischen Kabul betrieb, wo er auch einige
       seiner berühmten Bildteppiche „Mappa“ fertigen ließ.
       
       Als Carolyn Christov-Bakargiev, die damalige documenta-Chefin, von seiner
       Recherche hörte, lud sie ihn ein und ließ die Herberge renovieren. Es war
       ein historischer Moment in der Geschichte der documenta, [3][als kurz nach
       der d13-Eröffnung in Kassel Torres in dem winzigen Haus in Kabul eine
       Ausstellung eröffnete.]
       
       Dass es ihm mit dieser Wiederaufnahme eines alten Motivs nicht um Nostalgie
       geht, zeigt er mit einer mithilfe von KI produzierten Zeichnung des leeren
       Hinterhofs des One Hotel. Er ruft den Zusammenhang von Konzeptkunst und
       figurativer Malerei und die Abwesenheit Boettis auf.
       
       2025 feiert die documenta nach der mühsamen Aufdeckung der
       [4][NS-Kontinuitätslinien der ersten documenta-Schauen] und [5][dem
       Antisemitismusstreit] vor drei Jahren einen schwierigen 70. Geburtstag.
       
       Torres’ Ausstellung komplettiert die kritische Aufarbeitung der
       „Weltkunstschau“ derzeit um die Erinnerung an ihre unbestreitbaren
       Verdienste. Deswegen hat Torres vor seine Diagramme die gleichen weißen,
       heute ikonischen Plastikvorhänge gehängt, mit denen Arnold Bode 1955 die
       Innenräume des ausgebombten Fridericianums auskleidete. Sollten
       Kunstliebhaber:innen einmal ihre „History Of Influence“ in Diagramme
       fassen: die heute umstrittene documenta zählte gewiss dazu.
       
       6 May 2025
       
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