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       # taz.de -- Debüt von Paul Watermann: Der Poetik des Versuchs verpflichtet
       
       > Paul Watermanns Debütroman steht der Lyrik näher als der Prosa.
       > „Moskovian Kinder“ ist ein Mix aus sinnlichen Miniaturen, Skizzen und
       > Rätseln.
       
   IMG Bild: Manchmal sitzen Jugendliche in Ecken, in die reiche Menschen nicht mal gucken
       
       Ein seltsamer Gedanke fällt einem bei der Lektüre entgegen, fällt aus den
       Seiten heraus: Jugend könnte vielleicht gar keine Zeitspanne in einem Leben
       sein, ja, viel besser als für eine biografische Phase würde der Begriff als
       Bezeichnung für spezifische Räume passen.
       
       Das Freibad wäre hier zu nennen, genau wie die Bushaltestelle oder die
       Parkwiese, doch würden nicht allein diese Orte zur „Jugend“ taugen, es
       müssten sich an ihnen außerdem bestimmte Konstellationen ergeben:
       dünnhäutige, klamme Menschen müssten sich gegenüberstehen, Blickachsen sich
       treffen und aneinanderschmiegen wie morsche Mikadostäbchen. Ginge einer
       weg, fiele ein anderer um.
       
       Es ist nicht leicht, vielleicht nicht möglich, alleine in der Jugend zu
       bleiben, weil es im Raum dieses Namens keine Schwerkraft gibt, weil er
       alles haltlos macht, alles stürzen oder fliegen lässt. Die eskapistischen
       Selbstversuche, denen sich die titelgebenden „Moskovian Kinder“ in Paul
       Watermanns Debüt hingeben, sind dementsprechend verzweifelt um Stabilität
       bemüht, und sei es dadurch, das unaufhörliche Schwanken der unzuverlässigen
       Welt um einen herum mit dem eigenen rauschbedingten Torkeln zu
       synchronisieren.
       
       Kotzend findet sich da etwa Leonie am Waldrand wieder, ihr Erbrochenes
       fällt auf trockenes Laub, sie riecht beides gleichermaßen stark und denkt:
       „Wie Zwillinge, die gleich aussehen, nur dass die eine Pornostar geworden
       ist und die andere in einem Büro arbeitet.“
       
       ## Einbeinige und „Safariboys“
       
       Watermann versammelt lose verbundene Prosaminiaturen, kleine Geschichten,
       Beobachtungen, Skizzen und Rätsel. Viele davon handeln von einer Gruppe
       junger Menschen, die trinken, träumen und versuchshalber lieben. „Die
       Kinder kommen vom Don, aus der Tatra, den lechzenden Steppen der Ukraine
       und manche kommen aus Liverpool. Sie verlieren ihre Unschuld an Nächte, in
       denen sie zusammengekauert in Ecken sitzen, in die reiche Menschen nicht
       mal gucken.“
       
       Da wäre etwa die einbeinige Leonie, ohne die alles 20 Prozent langweiliger
       wäre; da wären die kiffenden „Safariboys“; da wäre Leon, den die Einsamkeit
       ins Fußballtor getragen hat; da wäre Marie, die in Gedanken hinbekommt, was
       ihr im Leben schwerfällt. Ihnen allen ist der Humor eine nette große
       Schwester, die beruhigend über ihre Rücken streichelt. Und das, obwohl es
       sie selbst graust angesichts der ungeheuren Traurigkeit, die hier zwischen
       den Zeilen dräut. Um nicht in ihre Fänge zu geraten, nicht zwischen die
       Linien zu stürzen, tappen die Figuren höchst vorsichtig durch ihre kargen
       Existenzen.
       
       Watermann, geboren 1986 im niedersächsischen Melle, studierte zunächst an
       der Sporthochschule Köln und anschließend literarisches Schreiben am
       Literaturinstitut Leipzig. Sein Debüt „Moskovian Kinder“, herausgekommen im
       kleinen Berliner Gans Verlag, hat mit der russischen Hauptstadt nur wenig
       zu tun, ist aber ohnehin nicht mit dem groben Besteck der Hermeneutik
       erfassbar. Diese Prosa steht der Lyrik näher als dem Roman. Wichtiger als
       das Erzählen, also die Aneinanderreihung von Sätzen zum Zweck des Baus
       einer Sinneinheit, ist hier die Sinnlichkeit selbst, nicht also der
       Verlauf, sondern das Stolpern über die eine Stelle.
       
       Zu Fall bringen will dieser Band den Leser also, das Ziel ist klar, die
       Strategie jedoch flexibel. Watermann folgt einer Poetik des Versuchs, die
       Wörter aufeinanderprallen lässt, bis sie Sätze wie diesen bilden: „Liebe
       ist eine Möwe, die in einem Samtanzug deplatziert aussieht und der Tod ist
       genau das Gleiche.“ Schwer und zugleich leicht ist seine Prosa, ihre Wörter
       ähneln Steinbrocken und Spielzeugen. Lesend nimmt man beide in die Hände,
       lässt sie aufeinanderprallen und lauscht dem Echo nach. Es klingt, als wäre
       jemand vor langer Zeit hingefallen und dann wäre etwas kaputtgegangen.
       
       14 May 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Wolf
       
       ## TAGS
       
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