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       # taz.de -- Schach in Deutschland: Die Gegner einfach überrollt
       
       > Bei der deutschen Meisterschaft dominiert Vincent Keymer das Turnier. Er
       > ist bereit für die Weltspitze.
       
   IMG Bild: Schachexpress im gelben Sakko: Vincent Keymer bei einem Grand-Slam-Turnier im Februar 2025
       
       [1][Vincent Keymer] ist aktuell der einzige deutsche Schachspieler, der auf
       Augenhöhe mit der Weltspitze spielen kann. Nichtsdestotrotz war es durchaus
       riskant für ihn, an der deutschen Meisterschaft teilzunehmen:
       Schachturniere haben oft das Gepräge eines Pokalspiels.
       
       Verliert der Favorit durch eine Verkettung unglücklicher Umstände, oder sei
       es nur, weil er einen schlechten Tag hat, unkonzentriert ist, sich zu
       siegessicher wähnt, dann verliert er derart viele Ratingpunkte, dass es ihn
       nicht nur das Spiel kostet, sondern eventuell auch den Anschluss an die
       Weltspitze. Heißt: das Recht, sich mit den Besten zu messen. Vincent Keymer
       hat trotzdem beschlossen, um die deutsche Schachmeisterschaft zu spielen,
       obwohl obendrein zeitgleich besser dotierte Turniere stattgefunden hätten.
       
       Es kommt noch eines dazu. Im [2][Schach] ist es wie beim Bergsteigen: je
       höher man steigt, desto dünner die Luft. Genau deswegen konnte Vincent
       Keymer eigentlich nur verlieren in dieser deutschen Meisterschaft; die im
       Übrigen nur ausnahmsweise die Crème de la Crème des deutschen Schachs
       versammelte. Darunter aufstrebende Talente wie Leonardo Costa, zarte 17
       Jahre alt, oder alte Haudegen wie Dennis Wagner, und aber auch die Gebrüder
       Svane, beide in Rufweite zur Weltspitze.
       
       Aber vor allem: Matthias Blübaum, der dieses Jahr Einzel-Europameister
       wurde und an guten Tagen jeden Topspieler vor unlösbare Probleme stellen
       kann. Diesmal bekam er die unlösbaren Probleme gestellt: Keymer saugte
       Blübaums König hinaus ins offene Feld und zwang ihn förmlich zu einem
       relativ simplen Rechenfehler, der Blübaum dann am Ende das Spiel kostete.
       Dass dieser sich derart hat ins Bockshorn jagen lassen, ist die eigentliche
       Botschaft: Vincent Keymer hat ihn auch psychologisch dominiert.
       
       Zwei Spielrunden vor Schluss hat Keymer sie alle abgehängt, im letzten
       Spiel Matthias Blübaum ausgetrickst, als wären dessen Nerven eine
       Balalaika. Er steht bei 6,5 von 7 möglichen Punkten und hat jetzt das
       Turnier in einer Art dominiert, wie es sie in der Geschichte des deutschen
       Schachs selten gab. Noch vor dem Spiel gegen Blübaum sagte der deutsche
       Bundestrainer der Männer, Jan Gustafsson: „Er rollt wie ein Zug über diese
       Meisterschaft.“
       
       ## Eine neue Schachspieler-Generation
       
       Das allein wäre schon erstaunlich genug. Aber es ist nicht nur das: Er
       rollt wie ein Zug über das gesamte deutsche Schach. Und gerade weil er
       dieses Turnier derart dominiert (bisher konnte ihm nur Dennis Wagner ein
       Unentschieden abtrotzen, alle anderen Partien hat er gewonnen, ohne dafür
       Glück zu brauchen) und er mit seinen Siegen zurück in die Top 20 der
       Weltrangliste gelangte und er obendrein erst 20 Jahre alt ist: da stellt
       sich die Frage: what’s next?
       
       Es gibt aktuell eine ganze Generation junger Schachspieler, die knapp
       hinter [3][Magnus Carlsen] (dem vermutlich besten Schachspieler aller
       Zeiten) stehen: da wären vor allem Nodirbek Abdussatórov, Alireza Firouzja
       und das indische Dreigestirn Arjun Erigaisi, Praggnanandhaa und Gukesh, der
       amtierende Weltmeister. In der Zeit, in der jene ihren Weg in die
       Weltspitze vollendeten, machte Keymer gerade parallel zum Schachspiel sein
       Abitur. Erst seit knapp über einem Jahr ist er überhaupt Profi: und auch
       wenn er davor schon mit der Weltspitze mithalten konnte, kann er sie jetzt
       erst angreifen.
       
       Das ist auch der Grund, warum die deutsche Meisterschaft dieses Jahr derart
       gut besetzt ist: durch eine Änderung im Reglement gibt es hier Punkte zu
       gewinnen, die dazu berechtigen könnten, im Turnier der Herausforderer für
       den nächsten Weltmeistertitel zu spielen. Die Souveränität, mit der Vincent
       Keymer gerade über seine Gegner hinüberrollt, zeigt auch seinen Ehrgeiz,
       ganz oben mitzurochieren.
       
       Sein Ausnahmetalent hat er angesichts der international eher zweitklassigen
       Nachwuchsförderung schon gezeigt. Das heißt nicht, dass es automatisch für
       mehr reicht. Aber möglich wäre es.
       
       22 May 2025
       
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