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       # taz.de -- Urteil nach jahrelangem Missbrauch: Sie lassen sich nicht brechen
       
       > Ein Vater missbraucht 9 seiner Kinder. Trotz Ermittlungen passiert lange
       > nichts: auch, weil ihn ein Lügendetektor entlastet. Nun gibt es ein
       > Urteil.
       
   IMG Bild: Jennifer Arndt und zwei ihrer Schwestern. „Ich dachte immer, ich geb meinen Körper, damit meine Geschwister das nicht müssen“
       
       Bevor Jennifer Arndt ihre Stiefel anzieht und losgeht, zu diesem vielleicht
       wichtigsten Termin ihres bisherigen Lebens, schließt sie noch eine Wette
       ab. Sieben Jahre. So lange, glaubt sie, wird ihr Vater ins Gefängnis
       müssen. Dafür, dass er sie und ihre Geschwister über Jahrzehnte missbraucht
       hat. Gedemütigt, manipuliert, geschlagen, vergewaltigt.
       
       Jennifer Arndt wirft zwei Euro in den Beutel mit dem Wetteinsatz. Zwei
       ihrer Schwestern wetten mit, außerdem zwei Freunde, die Jennifer Arndt
       heute begleiten. Dann zieht sie ihre Jeansjacke an, hängt sich die
       Handtasche um und läuft los zum Landgericht Chemnitz.
       
       Es ist Donnerstag, Ende März 2025. Sechs Jahre hat Jennifer Arndt ihren
       Vater nicht mehr gesehen. Sie wird ihm heute wieder begegnen, vermutlich,
       so wünscht sie es sich, zum letzten Mal in ihrem Leben. Sie wird hören, was
       er ihr angetan hat. Zum ersten Mal wird sie auch hören, was er ihren
       Geschwistern angetan hat und einer Schulfreundin.
       
       Das Urteil, das das Gericht über ihren Vater fällt, wird deutlich über das
       hinausgehen, was Jennifer Arndt gewettet hat.
       
       Der Mann auf der Anklagebank hat sechzehn Kinder mit drei Frauen gezeugt.
       Mindestens neun davon hat er missbraucht. Außerdem eine Schulfreundin
       seiner Tochter Jennifer Arndt. Er hat erreicht, dass die Kinder jahrelang
       geschwiegen haben. Er hat alle auflaufen lassen, die etwas geahnt haben.
       Drei Ermittlungsverfahren hat er überstanden, Krisengespräche im Jugendamt
       konnten ihm nichts anhaben. In der Boulevardpresse galt er als der
       „Super-Papa“.
       
       Henry Schreibe hat alle getäuscht – und alle haben sich täuschen lassen.
       
       Mehr als [1][16.000 Fälle] von Kindesmissbrauch wurden im Jahr 2024 in
       Deutschland erfasst. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Der
       Fall von Chemnitz ist einer von ihnen, und doch ist er besonders. Zum
       einen, weil sein Ausmaß so gewaltig ist. Mindestens zehn missbrauchte
       Kinder über 22 Jahre hinweg. Alle, die an diesem Verfahren beteiligt sind,
       sagen, so etwas hätten sie noch nicht erlebt.
       
       Was den Fall ebenfalls besonders macht, ist eine Ermittlungsmethode, die
       hier zum Einsatz kam. Das Verfahren heißt [2][Polygrafentest], besser
       bekannt als Lügendetektor. Eine Maschine wie aus einem alten Krimi. Damit
       sollte geklärt werden, ob der Vater seine Kinder missbraucht. Der Test kam
       zu dem Schluss: Nein, das tut er nicht. Damit schien der Vater
       rehabilitiert.
       
       Sechseinhalb Jahre nach dem Test, im Februar 2025, hat das Landgericht nun
       doch den Prozess gegen Henry Schreibe eröffnet. Ein Sohn hatte einem
       Erzieher von dem Missbrauch erzählt, schließlich haben auch die anderen
       Kinder umfassend ausgesagt.
       
       Henry Schreibe, heute 65 Jahre alt, hat zu Prozessbeginn gestanden. Er hat
       die Taten gegenüber einer Psychiaterin und einem Psychologen eingeräumt.
       Aus der Haft hat er Briefe an Familienmitglieder geschrieben, in denen er
       sich entschuldigt für den „Mist“, den er „verbockt“ habe. Es tue ihm leid,
       sagt er vor Gericht. Er schäme sich.
       
       Was in diesen Wochen Anfang des Jahres in Chemnitz verhandelt wird, ist
       auch die Geschichte eines Systems, das darauf angelegt ist, Kinder zu
       schützen – und versagte.
       
       Für Jennifer Arndt hat der Prozess dafür gesorgt, dass sie einem Teil ihrer
       Geschwister heute wieder nähersteht. Und dass sie Worte dafür findet, was
       Henry Schreibe ihr und ihnen angetan hat. Jennifer Arndt und zwei ihrer
       Schwestern haben beschlossen, sich von der Gewalt nicht kaputtmachen
       lassen. Auch deswegen gehen sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit.
       
       Jennifer Arndt hat eigentlich einen anderen Nachnamen. Auch alle anderen
       Namen der Familie in diesem Text sind geändert.
       
       An einem der ersten Frühlingstage dieses Jahres sitzt Arndt in einem Café
       in Erfurt. In einer Woche soll das Urteil gegen ihren Vater fallen. Um das
       Handgelenk von Jennifer Arndt baumelt ein Armband, „Fuck AfD“ steht darauf.
       Die 29-Jährige ist das älteste Kind von Henry Schreibe. Sie hat ihre
       Familie früh verlassen, 2011 war das, da war sie 15. Mittlerweile lebt sie
       in Erfurt, ist selbst Mutter von drei Kindern. Sie arbeitet als Erzieherin
       in der Kinder- und Jugendhilfe.
       
       Wie es ihr geht, eine Woche vor dem Urteil? Jennifer Arndt zieht Luft durch
       die Zähne, lässt die Schultern sinken. „Nervös“, sagt sie. Sie hat den
       Prozess bisher nur aus der Ferne verfolgt. Ihr Anwalt hat ihr berichtet,
       sie kennt die Artikel in der Lokalpresse. Zur Urteilsverkündung will sie
       nach Chemnitz fahren. „Für mich wird das ein bisschen wie eine Beerdigung.
       Ich verabschiede meinen Vater für immer.“
       
       Vor einem knappen Jahr wurde der Vater von Jennifer Arndt festgenommen, sie
       hat erst später davon erfahren. Denn Arndt hatte zuletzt weder Kontakt zu
       ihrem Vater noch zu den meisten ihrer Geschwister. Nach der Festnahme
       schrieb ihr eine ihrer Schwestern, es sei viel passiert, vielleicht sollten
       sie mal wieder sprechen?
       
       Jennifer Arndt ist nach Chemnitz gefahren, hat nach und nach ihre
       Geschwister und Halbgeschwister getroffen. Die kleineren haben sie nicht
       erkannt. Wer ist die Frau, hätten sie gefragt, als Jennifer Arndt vor ihrer
       Tür stand. Mit ihren zwei erwachsenen Schwestern Maria und Franziska
       spricht sie jetzt viel. Über die vergangenen Jahre, ihre Kindheit, den
       Vater, die Mutter, die anderen Geschwister. Über den Missbrauch, den jede
       von ihnen erlebt hat, sprechen sie nicht.
       
       Dass ihr Vater auch die Geschwister missbraucht hat, hat Jennifer Arndt
       erst erfahren, als sie längst aus der Familienwohnung ausgezogen war. Lange
       habe sie gedacht, sie sei die Einzige gewesen. „Ich dachte immer, ich geb
       meinen Körper, damit meine Geschwister das nicht müssen.“
       
       Wenn Jennifer Arndt über ihre Kindheit spricht, klingt sie abgeklärt,
       nüchtern. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht. Sie spricht mal in Details, mal
       nur abstrakt. Manchmal macht sie einen zynischen Witz. Es ist ihre Art der
       Traumaverarbeitung. Was Arndt erzählt, werden wenige Tage später auch ihre
       jüngeren Schwestern Maria und Franziska bei einem Gespräch in Chemnitz
       bestätigen.
       
       Jennifer Arndt ist 1995 geboren. Ihre Mutter ist psychisch krank, das Baby
       überfordert sie. Der Vater ist selten zu Hause, er verkauft Wein und Parfüm
       an Wohnungstüren. Die Familie lebt in einem Plattenbau im Leipziger
       Hochhausviertel Grünau. Ein Riegel aus braunem Beton, zehn Stockwerke,
       rundherum ein Grünstreifen. 1997, zwei Jahre nach Jennifer Arndts Geburt,
       kommt das zweite Kind zur Welt, 1998 das dritte. Acht Kinder in zehn
       Jahren. Die Wohnung ist eng, die Beziehung der Eltern gewaltvoll. „Wenn
       mein Vater meine Mutter geschlagen hat, habe ich mich dazwischengeworfen“,
       sagt Jennifer Arndt.
       
       Auch die Kinder bekommen die Wut des Vaters zu spüren. Er schlägt sie mit
       Gürteln, mit einem Schlüsselbund, mit Kleiderbügeln. Bis heute, sagt
       Jennifer Arndt, trage sie keine Jeans, weil sie dafür einen Gürtel
       bräuchte.
       
       Jennifer Arndt ist sechs oder sieben Jahre alt, als der Vater sie zum
       ersten Mal missbraucht. Sie ist sein erstes Opfer. Zumindest das erste, das
       auch ein leibliches Kind ist. Jennifer Arndt und ihre Schwestern vermuten,
       dass der Vater zuvor schon einen Neffen missbraucht hat. Diese Tat findet
       sich auch in einer frühen Version der Anklage gegen Henry Schreibe, die
       Staatsanwaltschaft lässt sie später aber fallen. Es ist zu lange her.
       
       Angeklagt ist Henry Schreibe für 27 Taten. Es dürften wesentlich mehr
       gewesen sein. Aber nur zu diesen 27 konnten Polizei und Staatsanwaltschaft
       Details ermitteln. Zwei der 27 Taten betreffen Jennifer Arndt. In Wahrheit
       seien es 400 bis 500 gewesen, sagt sie. „Der Missbrauch war immer da.“ Oft
       habe ihr Vater nachmittags schon angekündigt, „es“ heute Abend wieder zu
       tun.
       
       Das Ehebett hat sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt, ein weiß-goldenes
       Bettgestell, darin ein Radio und ein Wecker verbaut. Den Missbrauch, sagt
       Jennifer Arndt, habe der Vater als ihr Geheimnis bezeichnet. Manchmal habe
       sie Geschenke bekommen, zwei Euro oder ein Essen bei McDonald’s.
       
       Jennifer Arndt glaubt, ihr Vater verstehe bis heute nicht, was er ihr
       angetan hat. „Ich gehe fest davon aus, dass er sich trotz allem für einen
       guten Vater hält.“ Er habe in einer völlig anderen Realität gelebt, Dinge
       gesagt wie: „Sexualstraftäter müsste man alle töten.“ Dass er selbst einer
       war, habe er nicht gesehen. Leicht reizbar sei er gewesen, schnell
       ausgeflippt, laut geworden. Ein Rassist, der gegen Schwächere wetterte. So
       ähnlich beschreiben ihn auch die anderen Kinder im Prozess.
       
       Mit hängendem Kopf und in Handschellen betritt Henry Schreibe den
       Gerichtssaal, beim Hinsetzen versinkt er fast hinter der Anklagebank. Er
       ist klein, 1,59 Meter. Durch eine angeborene Knochenkrankheit ist er
       schwerbehindert. Sein Haar ist weiß und zerzaust, eindringlich mustert er
       während der Verhandlung das Publikum.
       
       Schreibe ist 65 Jahre alt. Geboren in Leipzig, als eines von acht Kindern.
       Er wächst auf in einem Heim. Dort wird er selbst missbraucht: erst von den
       größeren Kindern, dann auch von einer Erzieherin. So hat er es einer
       Gutachterin gesagt. Beweise dafür gibt es nicht.
       
       Doch was Schreibe erzählt, passt zu dem, was man aus der Forschung weiß:
       dass Gewalt und Vernachlässigung in den Kinderheimen der DDR alltäglich
       waren. Und dass Menschen, die Kinder missbrauchen, häufig selbst
       missbraucht wurden. Die Gewalt wird weitergegeben, von einer Generation zur
       nächsten.
       
       Nach der Schule wird Henry Schreibe Graveur, arbeitet in einer
       Kugelschreiberfabrik, später auf dem Bau. Noch bevor sein erstes Kind
       geboren wird, wird er Frührentner. Er sucht sich Frauen, die psychisch
       labil sind. Mit ihnen bekommt er Kinder, geht fremd, die Frauen bleiben
       trotzdem bei ihm. Verhütung lehnt er ab, zum Teil sind mehrere Frauen
       gleichzeitig von ihm schwanger.
       
       Eine Psychiaterin und ein Psychologe haben Henry Schreibe für den
       Gerichtsprozess begutachtet. Mit einem Intelligenzquotienten von 69 liege
       Schreibe knapp an der Grenze zur Intelligenzminderung. Er habe Probleme mit
       der Sprache, brauche länger, um Sätze zu verstehen, sagt die Gutachterin
       vor Gericht. Eine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren die Gutachter aber
       nicht. Sie erkennen Anzeichen einer Pädophilie, die aber nicht vollständig
       ausgeprägt ist, eine gesteigerte Libido, aber keinen pathologischen
       Sexzwang. „Es geht ihm um Macht und Kontrolle“, führt die Gutachterin aus.
       Henry Schreibe habe zu Hause ein Klima geschaffen, in dem er die absolute
       Kontrolle hatte, ohne dass er direkt drohen musste. „Das spricht für seine
       Manipulationsfähigkeit“, sagt die Gutachterin. Über zwei Jahrzehnte lang
       habe er einen „Modus Operandi“ geschaffen: Die Kinder schweigen, er macht
       weiter.
       
       Sobald ein Kind ins Schulalter kam, begann der Missbrauch. Er endete bei
       den Mädchen, wenn die Periode einsetzte. Alle, die etwas geahnt haben, hat
       Henry Schreibe erfolgreich ferngehalten. Er hat abgewiegelt und gelogen.
       Eine Verwandte, die ihn einmal des Missbrauchs bezichtigt, zeigt er wegen
       Verleumdung an. Ständig zieht er mit seinen Kindern um. In 27 Jahren
       bewohnt er elf Wohnungen nacheinander in drei sächsischen Städten. Viele
       Jahre ist er alleinerziehend.
       
       Lange geht es vor Gericht um die Frage, ob die Gutachterin glaubt, dass
       Schreibe reflektiere, was er seinen Kindern angetan habe. Die Psychiaterin
       hat Zweifel. Auffällig sei seine selbstmitleidige Opferrolle, erläutert
       sie. Er bedauere seine Situation, nicht aber, wie es seinen Kindern gehe.
       Bis heute räume er die Taten nicht konkret ein, er habe keine Worte dafür.
       Er spreche von „es“.
       
       Sie habe, sagt die Gutachterin, Henry Schreibe gefragt, ob sich ein Kind
       einmal dem Missbrauch widersetzt hätte. Ob ein Kind Nein gesagt habe. Davon
       wisse er nichts, habe Schreibe geantwortet. Dabei berichten mehrere Kinder
       in den Vernehmungen, dass sie vor Schmerz geweint hätten.
       
       Die Richterin will von der Gutachterin wissen, wieso Schreibe zu Beginn
       auch familienfremde Kinder, später aber nur noch die eigenen Kinder
       missbraucht habe. „Am Ende waren einfach mehr eigene Kinder verfügbar“,
       sagt die Gutachterin. „Nicht nur räumlich verfügbar, sondern auch emotional
       leichter zu kontrollieren.“ Die Worte der Gutachterin werden später schwer
       wiegen, wenn es darum geht, ob Henry Schreibe nach seiner Haft in
       Sicherungsverwahrung kommen wird.
       
       Als Jennifer Arndt etwa acht Jahre alt ist, verlässt die Mutter die
       Familie. Die großen Kinder kümmern sich da längst um die kleinen. „Wir
       waren die Putzhilfen. Wir waren Babysitter. Wir waren für alles
       verantwortlich“, erzählt Jennifer Arndt. Der Strom wird zeitweise
       abgestellt, weil der Vater die Rechnungen nicht zahlt. Es gibt kein warmes
       Wasser, der Kühlschrank ist oft leer.
       
       Der Vater zieht mit den Kindern in eine größere Wohnung: ein Hochhaus am
       Stadtrand, sieben Zimmer über zwei Etagen. In dieser Zeit werden die Medien
       auf den alleinerziehenden Mann aufmerksam. Die Bild macht eine Homestory:
       „Papawittchen und die sieben Zwerge“, titelt sie. Sie schreibt vom
       „Super-Papa“, der morgens um 5 Uhr aufsteht, drei Waschmaschinen am Tag
       wäscht, kocht, einkauft, spielt und mit den Großen die Hausaufgaben
       erledigt. „Witzig“ sei er, schreibt die Bild: „einfühlsam, herzensgut“.
       Auch RTL kommt mit einem Kamerateam und berichtet ab da regelmäßig. Die
       Beiträge zeigen ihn beim Schmusen mit den Kindern, beim Wäschefalten.
       Fröhliche Kinder lachen in die Kamera.
       
       „Nichts davon hat gestimmt“, sagt Jennifer Arndt heute. „Das war alles
       geskriptet.“ Das Fernsehteam habe den Kindern gesagt, was sie tun sollten,
       wie sie gucken und sich bewegen sollten. Für jeden dieser Beiträge bekommt
       der Vater Geld. Henry Schreibe wird zum Fernsehstar, die Kinder werden auf
       dem Schulhof ausgelacht.
       
       RTL bestreitet auf taz-Anfrage, dass die Beiträge geskriptet waren. Dass
       Henry Schreibe Geld bekam, bestreitet der Sender nicht.
       
       Auch jetzt berichtet RTL wieder, als Henry Schreibe in Chemnitz vor Gericht
       steht. Im Februar 2025 gibt es zu Prozessbeginn eine Liveschalte ins
       Landgericht. Ein Reporter erzählt hastig, was Schreibe vorgeworfen wird.
       „Man fragt sich wirklich, wie das nicht aufgeflogen sein kann“, sagt der
       Reporter in die Kamera. Über die Rolle seines Senders spricht er nicht. Auf
       taz-Anfrage schreibt eine RTL-Sprecherin, eine interne Aufarbeitung des
       Falls sei nicht geplant.
       
       Im Dezember 2007 sieht eine Frau in Niedersachsen eine der Homestorys auf
       RTL. Jacky Mehnert ist damals 25 Jahre alt und sucht einen Mann. Der
       Bericht über den liebevollen Vater habe sie berührt, sagt sie heute. „Ich
       weiß noch, wie eines der Kinder in dem Fernsehbericht gesagt hat: ‚Wir
       suchen eine Mama, die mit uns spielt, die auf uns aufpasst und sich um uns
       kümmert‘“, sagt Mehnert. „Ganz lieb war das.“
       
       Jacky Mehnert spricht am Telefon mit der taz. Es ist Ende März, zwei Tage
       vor der Urteilsverkündung. Anfang 2008 zog sie zu Henry Schreibe nach
       Leipzig. „Seine Wohnung war ein Schock, eine richtige Messiehöhle“, erzählt
       Mehnert. Die Kinder hätten ihr leidgetan. Sie räumt auf, sie putzt, sie
       wäscht. Auch Jennifer Arndt und ihre Schwestern erzählen, dass die äußere
       Verwahrlosung ein Ende nahm mit dem Einzug von Jacky Mehnert.
       
       Die Beziehung zu Henry beginnt liebevoll, erzählt Mehnert. Sie wird schnell
       schwanger, ein Wunschkind. Das Paar zieht raus aus der Stadt, findet zwei
       Wohnungen, die nebeneinander liegen. Mehnert bezieht die eine, Henry
       Schreibe mit seinen Kindern aus der vorherigen Ehe die andere.
       
       An einem Morgen im Sommer 2009 macht Mehnert eine Beobachtung, die sie
       schockiert. „Ich saß mit Henry Schreibe in der Küche, als seine Tochter
       Maria reinkam. Sie wollte sich anziehen, kam aber nicht an ihre Sachen im
       Kleiderschrank.“ Henry Schreibe sei mit ihr mitgegangen. „Und weil er lange
       wegblieb, bin ich hinterhergegangen.“ Sie habe die Tür zum Kinderzimmer
       geöffnet und gesehen, wie Schreibe seine Tochter missbraucht. So schildert
       sie es.
       
       Mehnert sagt, sie sei damals zum Jugendamt der Kleinstadt gegangen und habe
       davon berichtet. „Die haben mir nicht geglaubt“, sagt sie heute. Zur
       Polizei sei sie nicht gegangen.
       
       Das zuständige Jugendamt schreibt auf taz-Anfrage, man habe zu dem Fall
       keine Unterlagen vorliegen. Man nehme Fälle von Kindeswohlgefährdung aber
       prinzipiell ernst.
       
       Mehnert bleibt trotzdem bei Schreibe. Obwohl sie den Missbrauch beobachtet
       hat. Obwohl sie zu der Zeit schwanger ist mit dem ersten gemeinsamen Kind
       von Schreibe. Fünf Kinder werden sie noch zusammen bekommen. Siebzehn Jahre
       wird ihre Beziehung halten.
       
       Wie kann das sein?
       
       Mehnert kann nicht erklären, warum sie Schreibe nicht früher verlassen hat.
       Sie sagt, sie habe ihm geglaubt, dass er die Kinder nicht anfasse.
       
       Psycholog*innen beobachten immer wieder, dass Mütter stillhalten, wenn
       ihre Kinder missbraucht werden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die
       Frauen sind abhängig von dem Mann oder haben Angst vor ihm, sie wollen das
       Bild der heilen Familie aufrechterhalten, vermeintlich Geschwisterkinder
       schützen. Manche sind selbst Opfer oder ihnen fehlt Empathie für die
       Kinder. Welche dieser Erklärungen auf Mehnert zutrifft, ist schwer
       einzuschätzen.
       
       Am Telefon spricht sie heute über schwere Schuldgefühle. Sie bekam einen
       Herzinfarkt, nachdem sie Anfang des Jahres die Anklageschrift gegen
       Schreibe gelesen hatte.
       
       Im Gerichtssaal in Chemnitz sind zwei riesige Bildschirme aufgebaut. Weil
       Henry Schreibe gestanden hat, bleibt den Kindern eine erneute Aussage vor
       Gericht erspart. Stattdessen lässt die vorsitzende Richterin die Videos aus
       den polizeilichen Vernehmungen zeigen. Es ist ungewöhnlich, dass die
       Öffentlichkeit dabei nicht ausgeschlossen wird. Das Gericht hat das so
       entschieden. Drei Richterinnen und zwei Schöffen urteilen über Henry
       Schreibe.
       
       Zwei Verhandlungstage lang laufen die Vernehmungsvideos. Sie zeigen Kinder
       und junge Erwachsene, die mit ihrer Vergangenheit ringen. Die nach Worten
       suchen, verschämt die Hände kneten, mal ganz konkret berichten, was sie
       erlebt haben. Sie beschreiben Missbrauch im Schlafzimmer, im Kinderbett, im
       Keller, im Auto, im Bad, auf der Couch. Gespreizte Beine, Penetration,
       Stellungswechsel. Akribisch versucht die Polizistin, die die Kinder für die
       Videos vernommen hat, die Taten zu rekonstruieren. Die Kamera ist auf das
       Kind gerichtet, die Polizistin fragt: „Wie oft ist das passiert? Fünfmal,
       zehnmal?“ Und: „Wo ist das Sperma gelandet?“, „Wie ging es Ihnen dabei?“
       
       Es sind Zeugnisse von brutalen Kindheiten. Sie zeigen auch, was der
       Missbrauch mit den jungen Erwachsenen macht. Eine Tochter erzählt, wie sie
       nach den Taten eine Zeitlang in einem Obdachlosenheim lebte. Eine andere,
       wie sie zu Schulzeiten Kinder verprügelte, die sie provoziert hatten. Zwei
       Söhne sind selbst zum Missbrauchstäter geworden.
       
       In Fällen von Kindesmissbrauch geht es immer auch um Verantwortung. Wie
       konnte es sein, dass so lange niemand eingegriffen hat?, wird dann gefragt.
       Wie konnte der Täter seine Taten so lange geheim halten?
       
       Familie Schreibe hat das Jugendamt schon früh beschäftigt. Es ging dabei
       zunächst nicht um sexuellen Missbrauch. Mehrere Kinder waren
       entwicklungsverzögert. Ein Sohn der Familie war aggressiv. Es gab
       Krisengespräche in der Schule und mit medizinischem Personal. Lehrerinnen
       waren involviert, Kinderärzte, Betreuerinnen, Therapeuten. Familie Schreibe
       war bekannt in den sozialen Einrichtungen der Städte, in denen sie gelebt
       hat, das Jugendamt stellte der Familie professionelle Familienhelfer zur
       Seite. Mehrfach wurde die Polizei in die Wohnung gerufen, etwa, weil ein
       Kind aggressiv war.
       
       Als dann der Verdacht aufkam, es könnte sexualisierte Gewalt in der Familie
       geben, nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf gegen Henry Schreibe.
       Mehrfach ermittelte sie, jedes Mal ohne Ergebnis. Als ein Sohn von Schreibe
       seine Geschwister missbraucht, kommt er in die Psychiatrie. Später wurden
       alle Kinder einmal aus der Familie genommen – zu ihrem Schutz.
       Professionelle Psychologen haben die Erziehungsqualitäten der Mutter
       begutachtet. Einige Kinder lebten mehrere Jahre in betreuten WGs, zum Teil
       in hochspezialisierten Einzeleinrichtungen.
       
       Es ist also nicht so, als hätte niemand etwas getan. Gerade deshalb stellt
       sich die Frage, wieso Henry Schreibe so lange weitermachen konnte. Wie er
       jeden neuen Verdacht abwenden konnte. Das Jugendamt Chemnitz will nichts zu
       dem Fall sagen, Datenschutz.
       
       Die Staatsanwaltschaft, die dreimal gegen Henry Schreibe ermittelt hat,
       schreibt auf taz-Anfrage, die Ermittlungen hätten damals nicht genügend
       Anhaltspunkte zur Erhebung einer Anklage ergeben.
       
       Eine Sprecherin des Amtsgerichts, an dem im Herbst 2018 verhandelt wurde,
       ob Henry Schreibe das Sorgerecht für seine Kinder behalten dürfe, sagt, der
       Missbrauchsverdacht sei damals ausgeräumt worden. Unter anderem durch den
       Lügendetektortest.
       
       Zuvor, im Sommer desselben Jahres, hatte das Jugendamt von Chemnitz
       schließlich einen Großeinsatz gestartet. Alle minderjährigen Kinder der
       Familie wurden aus Kita und Schule abgeholt, ins Jugendamt gebracht und von
       dort auf verschiedene Betreuungseinrichtungen verteilt. Ein Schock für die
       Kinder, die damals zwischen 2 und 16 Jahre alt waren. Maria und Franziska
       Schreibe reden sich heute noch in Rage, wenn sie von diesem Tag erzählen.
       Sie fühlten sich überrannt vom Jugendamt, nicht beschützt.
       
       Inobhutnahmen sind die maximale Eskalation von [3][Jugendämtern]. Wenn das
       Kindeswohl akut in Gefahr ist, können Jugendämter sie veranlassen. Die
       Hürden dafür sind hoch, meist braucht es einen richterlichen Beschluss.
       
       Nach der Inobhutnahme im Fall Henry Schreibe nimmt die Chemnitzer
       Staatsanwaltschaft wieder Ermittlungen auf. Das Familiengericht verhandelt,
       ob Schreibe das Sorgerecht für seine Kinder behalten darf. Doch Schreibes
       Kinder schweigen. Auch Jennifer Arndt wird vom Familiengericht geladen. „Da
       ist es aus mir herausgeplatzt, dass ich Opfer bin.“ Der Richter habe sie
       gebeten, ihre Erlebnisse zu schildern. Doch Arndt habe es nicht über sich
       gebracht, konkret zu werden.
       
       ## Der Lügendetektor
       
       Weil die Aussagen aller Kinder kaum zu verwerten sind, schlägt das
       Familiengericht schließlich einen Polygrafentest vor. Einen Lügendetektor,
       wie man ihn umgangssprachlich nennt. Strenggenommen misst der Polygraf
       nicht die Lüge, sondern körperliche Erregung. Wer lügt, so die Theorie, der
       wird von seinem Körper verraten: Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck
       steigt, man beginnt zu schwitzen.
       
       Wenn ein deutsches Gericht einen Polygrafentest durchführen lässt, reist
       dafür meist Gisela Klein an. Klein ist Psychologin, sie hat eine Praxis in
       Köln und gilt als die deutsche Expertin für Polygrafentests.
       
       Ihr Polygraf ist groß wie ein Reisekoffer. Über mehrere Kabel wird die
       Testperson mit dem Gerät verbunden und muss dann Fragen beantworten: Haben
       Sie sexuelle Handlungen an Ihren Kindern vorgenommen?, zum Beispiel. Mit
       vier dünnen Zeigern schreibt der Polygraf Wellenbewegungen auf Papier. Die
       Gutachterin Klein wertet schließlich aus, ob diese Wellen so stark
       ausschlagen, dass die Testperson gelogen haben muss.
       
       Ob das funktioniert, wird von Experten bezweifelt. Der Bundesgerichtshof
       hält die Methode für „völlig ungeeignet“, mehrere hohe Gerichte lehnen sie
       als Beweismittel ab. Eine Handvoll deutscher Gerichte setzt sie trotzdem
       ein. Die meisten befinden sich in Sachsen, darunter die Amtsgerichte in
       Dresden und Bautzen. In Chemnitz, sagt eine Gerichtssprecherin der taz,
       wurde das Gerät bis zum Fall Henry Schreibe nur selten eingesetzt, maximal
       fünfmal.
       
       Angewendet wird der Polygraf in Straf- und Zivilverfahren, meist bei
       Vorwürfen der sexualisierten Gewalt. Es sind Verfahren, in denen es selten
       Beweise gibt oder in denen die mutmaßlichen Opfer, meist Kinder, so klein
       sind, dass deren Aussagen schwer zu verwerten sind. Verfahren, in denen
       unter hohem emotionalen Druck um die Wahrheit gerungen wird.
       
       So wie bei Henry Schreibe. Auch er wird im Herbst 2018 von der Kölner
       Psychologin Gisela Klein begutachtet. Neben dem Polygrafentest hat sie auch
       ein aussagepsychologisches Gutachten zu den Aussagen der Kinder
       angefertigt. Die sind Standard in deutschen Gerichtsverfahren. Gisela Klein
       ist zu dem Ergebnis gekommen: Henry Schreibe lügt nicht, wenn er sagt, er
       missbrauche seine Kinder nicht.
       
       Eigentlich spricht Klein gern über den Polygrafen. Bereits vor einem Jahr,
       im April 2024, hat die taz [4][ausführlich über den Einsatz des Polygrafen
       und die Kritik daran berichtet]. Für den Text damals haben wir lange mit
       Gisela Klein gesprochen.
       
       Jetzt will sie nicht mehr reden. Nachdem Henry Schreibe gestanden hat,
       nachdem das Gericht ihn verurteilt hat, rufen wir sie an. Ob sie nicht
       kommentieren wolle, wieso sie Henry Schreibe damals für unschuldig gehalten
       habe, fragen wir. Klein legt auf.
       
       Auf eine Mail mit der Frage, wie sie Schreibes Geständnis und das
       Gerichtsurteil bewertet, fragt sie zurück, ob dies ein Aprilscherz sei.
       Dann antwortet sie mit einer fünfseitigen, wirren Stellungnahme. Auf
       konkrete Fragen geht sie nicht ein. Sie findet kein Wort des Bedauerns
       darüber, dass sie Schreibe entlastet hat und damit eine Mitverantwortung
       dafür trägt, dass dieser seine Kinder jahrelang weiter missbrauchen konnte.
       
       Stattdessen kritisiert sie ganz allgemein die Methoden anderer Gutachter.
       Es sei wichtig, als Sachverständige „positiv“ von beschuldigten Personen zu
       denken. Dieses positive Denken sei Voraussetzung für ihre Methode, also
       auch für den Polygrafentest. Selbst wenn ein Beschuldigter vor Gericht ein
       Geständnis ablege, sei davon auszugehen, dass das Geständnis falsch sei –
       bis zur Verurteilung und „unter bestimmten Umständen evtl. auch darüber
       hinaus“.
       
       Klein schließt ihre Stellungnahme gegenüber der taz mit den Worten, dass
       sie aus „innerster Überzeugung“ in Bezug auf ihre Methode sagen könne: „Und
       sie funktioniert doch!“
       
       Nach dem Polygrafentest beschließt das Familiengericht, dass Henry Schreibe
       seine Kinder wiederbekommt. Nicht alle Kinder ziehen zu Henry Schreibe
       zurück. Seine Tochter Maria bleibt in einer betreuten WG.
       
       Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen gegen Henry Schreibe ein.
       
       Jennifer Arndt lebt da längst nicht mehr bei ihrer Familie. Nach ihrem
       Auszug 2011 hat sie eine Essstörung entwickelt, Depressionen bekommen. Drei
       Monate hat sie in einer Klinik verbracht. Von dem Missbrauch hat sie dort
       niemandem erzählt. Danach beginnt sie eine Ausbildung, zieht nach Erfurt,
       findet einen Job, bekommt drei Kinder.
       
       Den Kontakt zu ihren Geschwistern hat sie abgebrochen, als die Kinder in
       Obhut genommen wurden. „Ich hatte das Gefühl, meine Geschwister sind jetzt
       in Sicherheit. Ich kann gehen“, sagt sie heute.
       
       Aber sie kommt nicht zur Ruhe. Lange versucht Jennifer Arndt, ihr Trauma zu
       verdrängen. Es klappt nicht. Es geht ihr schlecht, sie stößt Menschen vor
       den Kopf, die ihr wichtig sind. Ihre Beziehung scheitert daran. Nur langsam
       versteht sie: Sie schafft das nicht allein. Ein Therapeut diagnostiziert
       eine posttraumatische Belastungsstörung.
       
       Nach dem Polygraphentest geht der Missbrauch weiter, fünf Jahre lang. Henry
       Schreibe sucht sich drei neue Opfer, einen Sohn und zwei seiner Töchter.
       
       An einem Tag im April 2024 bricht dieser Sohn sein Schweigen. Das letzte
       Mal, dass der Vater ihn missbraucht hat, ist da erst wenige Tage her. Der
       Sohn ist 13, er lebt in einer Wohngruppe. Einem Erzieher erzählt er, was
       der Vater ihm antut, wenn er zu Besuch ist. Umfassend sagt er nun aus, auch
       bei der Polizei. Die findet Sperma- und Speichelspuren des Vaters auf der
       Bettwäsche des Kindes.
       
       In den Tagen darauf sagen jetzt auch die anderen Kinder von Henry Schreibe
       aus. Zwei Kinder bestreiten, vom Vater missbraucht worden zu sein. Die
       anderen aber beschreiben die Taten. Auch Jennifer Arndt bekommt eine
       Einladung von der Polizei. Sie fährt nach Chemnitz und erzählt dort zum
       ersten Mal, was sie erlebt hat. Von dem Ehebett, von den Süßigkeiten als
       Belohnung.
       
       Henry Schreibe kommt in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft ermittelt
       und erhebt Anklage.
       
       Ein knappes Jahr später in Erfurt sagt Jennifer Arndt, sie verspüre keine
       Wut mehr auf ihren Vater. Das liege hinter ihr. „Wenn ich ganz ehrlich
       bin“, sagt sie und macht eine lange Pause, „tut mir mein Vater auch ein
       bisschen leid, weil er jetzt eingesperrt ist.“
       
       Jennifer Arndt findet es selbst komisch, das auszusprechen. Sie will, dass
       er Verantwortung trägt. Sie will, dass er nie mehr einem Kind schaden kann.
       Aber eingesperrt? Das erinnert sie an ihre Kindheit.
       
       Sie will nun ihr Trauma bearbeiten, mit ihren Schwestern, mit dem
       Therapeuten. Sie tue das für ihre drei eigenen Kinder, sagt sie. Sie will
       eine bessere Mutter sein als die, die sie selbst hatte. Sie bringt ihre
       Kinder mit Gute-Nacht-Kuss ins Bett. Wenn es doch mal Streit gibt, sagt
       sie, schreit sie nicht, wütet oder schlägt nicht. „Konsequenzen sollen
       liebevoll sein, nicht brutal. Ich rede viel mit meinen Kindern, ich
       entschuldige mich, wenn ich etwas falsch gemacht habe.“
       
       Freunde von Jennifer Arndt erzählen, dass es ihr seit der Festnahme des
       Vaters deutlich besser gehe. Sie wirke stabil, sie spricht über ihr
       Erlebtes. Sie ziehe viel Kraft aus ihren eigenen Kindern.
       
       ## „Wir heilen. Wir wachsen“
       
       Am letzten Verhandlungstag werden im Chemnitzer Landgericht die Plädoyers
       gehalten. Niemand im Raum zweifelt an der Schuld von Henry Schreibe. Es
       geht nur noch um die Frage, welche Haftstrafe angemessen ist und ob er nach
       der Haft in Sicherungsverwahrung kommt. Die Staatsanwältin spricht von
       einer beispiellosen Missbrauchsserie.
       
       Bevor die Entscheidung fällt, hebt die Richterin ihren Blick in Richtung
       Publikum. „Ich sehe, dass heute hier auch Angehörige sind“, sagt sie und
       blickt Jennifer Arndt an. „Wollen Sie auch etwas sagen?“
       
       Kurz ist es still im Gerichtssaal. Dann hebt Jennifer Arndt ihre Hand.
       „Ja“, sagt sie. „Ich will etwas sagen.“ Sie steht auf, zieht ihr Handy aus
       der Tasche und beginnt zu lesen. „Hallo“, sagt sie in Richtung ihres Vaters
       und schluckt. „Es ist schwer diese Zeilen zu schreiben, weil sie die Last
       tragen von allem, was du uns angetan hast.“ Henry Schreibe schaut seine
       Tochter kurz an, dann senkt er den Blick. Jennifer Arndts Stimme zittert,
       aber sie bricht nicht.
       
       Eine Familie habe sie sich gewünscht, liest sie weiter, und Geborgenheit.
       Sie wisse, dass der Vater eine schwere Kindheit gehabt habe, „Dämonen
       deiner Vergangenheit“, nennt sie das. „Aber es ist nicht unsere Aufgabe
       gewesen, die zu bearbeiten. Du hast uns zu Opfern gemacht.“ Henry Schreibe
       stehen Tränen in den Augen. Maria und Franziska Schreibe, Jennifer Arndts
       jüngere Schwestern, sitzen ein paar Stühle weiter und schauen zu Boden.
       
       „Wir gehen jetzt ohne dich“, beendet Jennifer Arndt ihren Brief. „Wir
       heilen. Wir wachsen. Deine Kontrolle endet hier. Leb wohl.“
       
       Die Richterinnen verurteilen Henry Schreibe zu zehn Jahren und sechs
       Monaten Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Sein Anwalt wird
       dagegen Revision einlegen.
       
       Den Lügendetektor will das Gericht in Chemnitz nicht mehr einsetzen.
       
       Anm. d. Red.: In einer früheren Version hieß es, die Psychologin Gisela
       Klein habe neben dem polygraphischen auch ein aussagepsychologisches
       Gutachten über Henry Schreibe erstellt. Das war missverständlich. Das
       aussagepsychologische Gutachten bezog sich auf die Aussagen der Kinder. Wir
       haben die Stelle präzisiert.
       
       17 May 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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