# taz.de -- Tagebuch aus Estland: Bedrohliche Töne wehen über den Fluss
> Die Narva trennt die gleichnamige estnische Stadt vom russischen
> Iwangorod. Das Gefühl der Angst ist dort gewachsen, auch unter
> Russ:innen.
IMG Bild: Links liegt das estnische Narva, rechts das russische Iwangorod
Narva ist eine Stadt in [1][Estland], in der etwa 85 Prozent der
Bevölkerung Russ:innen sind und etwa ein Drittel russische Staatsbürger.
Narva ist also russisch geprägt.
Dennoch wurden mit dem Beginn der groß angelegten [2][Invasion der
Russischen Föderation in die Ukraine] im Februar 2022 die bis dahin
üblichen und von der Stadt organisierten Feierlichkeiten zum 9. Mai
eingestellt. Dabei lagen in Narva diese Feiern nach sowjetischem Vorbild,
die immer am 9. Mai stattfanden, vielen Einwohnern der Region sehr am
Herzen.
Zudem wurden in der Stadt Kriegsdenkmäler abgebaut, und die Polizei
erinnerte am Vorabend des Jahrestages die Bevölkerung daran, dass
Versammlungen „zur Unterstützung der Aggression“ und unter Verwendung von
„Besatzungssymbolen“ unzulässig sind.
Damit sind sowjetische und russische Flaggen ebenso gemeint wie Symbole der
Roten Armee oder etwa [3][Georgsbändchen], mit denen unter anderem dem Sieg
im Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in der
Sowjetunion hieß, gedacht wird.
## Auch die Kreml-Propaganda bewirbt den 9. Mai in Iwangorod
Auf der anderen Seite des Flusses Narva, gegenüber der gleichnamigen Stadt,
befindet sich Iwangorod. Es sind nur wenige hundert Meter zwischen dem
jeweiligen Zentrum der estnischen und der russischen Stadt.
Seit [4][zwei Jahren in Folge] veranstalten die Russ:innen stets am 9.
Mai auf ihrer Seite des Flusses Konzerte für die Bewohner:innen des
Nachbarlandes. Militärlieder sind dann auf der estnischen Seite zu hören,
vor allem an der Uferpromenade.
Für dieses Jahr, 2025, haben die russischen Behörden speziell für
öffentliche Veranstaltungen unter den Mauern der Festung Iwangorod einen
neuen Platz angelegt. Das Konzert am 9. Mai dieses Jahres verspricht in
jeder Hinsicht ein großes Ereignis zu werden, auch die Kreml-Propaganda
bewirbt es.
## Estland nimmt eine Bedrohung wahr
Aber dieselbe Begeisterung, mit der etwa die ältere Generation der
russischsprachigen Einwohner:innen Estlands, die oft nostalgisch auf
die Sowjetzeit zurückblickt, bei früheren Anlässen reagiert hat, wird sich
wohl kaum einstellen. Das liegt nicht an veränderten Ansichten einzelner
Menschen, sondern eher an der [5][Stimmung in der Gesellschaft] insgesamt.
Im Jahr 2025 sind große Teile der estnischen Bevölkerung davon überzeugt,
dass die Truppen der Russischen Föderation durchaus die Grenze
überschreiten und in die baltischen Staaten einmarschieren könnten.
Diese Bedrohung schien selbst im Frühjahr 2022 nicht als so real
wahrgenommen. Das liegt wohl an der Intensität und Gnadenlosigkeit, mit der
die russischen Truppen in der Ukraine kämpfen. Es dürfte auch an der Fülle
von Geheimdienstinformationen liegen, die etwa zeigen, dass Russland an den
Grenzen zu Finnland und Estland Eisenbahnlinien und Garnisonen baut. Die
Gefahr, in der sich Estland befindet, ist im öffentlichen Bewusstsein
angekommen.
Das scheint auch die Einstellung zu den Feierlichkeiten zum russischen „Tag
des Sieges“ zu verändern. Am 9. Mai und an allen anderen Tagen steht das
europäische „Nie wieder!“ im Vordergrund, wenn auch in einer altmodischen
sowjetischen Formulierung: „Hauptsache, es gibt keinen Krieg!“
[6][Alexey Schischkin] ist Journalist aus St. Petersburg. Seit der
russischen Invasion in die Ukraine lebt und arbeitet er im Exil in Estland.
Er war Teilnehmer eines [7][Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung].
Aus dem Russischen von [8][Tigran Petrosyan].
Finanziert wird das Projekt von der [9][taz Panter Stiftung].
9 May 2025
## LINKS
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## AUTOREN
DIR Alexey Schischkin
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