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       # taz.de -- Gefühle der Ohnmacht: Mit Wissenschaft gegen Judenhass
       
       > Das Forschungsnetzwerk zum Antisemitismus hat in Berlin die Ergebnisse
       > von zehn Projekten vorgestellt. Es ging meist um bildungspolitische
       > Initiativen.
       
   IMG Bild: Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin
       
       Berlin taz | Ein „[1][Gefühl der Ohnmacht, Wut und Angst] “ diagnostizierte
       Doron Kiesel von der Jüdischen Akademie des Zentralrats der Juden in
       Deutschland. Bis vor wenigen Jahren hätten sich Juden als Teil einer
       demokratischen Gesellschaft verstanden, in der die die Auseinandersetzung
       mit dem Nationalsozialismus positive Ergebnisse erbracht habe. Das sei seit
       dem 7. Oktober 2023 vorbei, sagte der Soziologe und
       Erziehungswissenschaftler Kiesel und erwähnte eine bei antisemitischen
       Vorfällen „lange schweigende Kulturszene“, das „Wegschauen“ von
       Feministinnen, vor allem aber die „unvorstellbare Attraktivität“ einer
       rechtsextremen Partei.
       
       Kiesel sprach am Montagabend in Berlin bei der Präsentation von Ergebnissen
       eines Forschungsnetzwerks zum Antisemitismus ([2][Fona 21]). Die vom
       Bundesforschungsministerium mit 12 Millionen Euro geförderte Initiative hat
       zehn Verbundprojekte angestoßen, die nach Möglichkeiten und Wegen suchten,
       den Judenhass zu bekämpfen.
       
       Rein empirische betrachtet scheinen diese Projekte auf den ersten Blick
       allesamt gescheitert zu sein. Nicht nur Kiesel musste konstatieren, dass
       sich der Antisemitismus in Deutschland in jüngster Zeit erschreckend
       ausgebreitet hat, allen Gegenmaßnahmen zum Trotz. Doch eine solche
       Projekt-Beurteilung greift selbstverständlich zu kurz, schließlich ist
       nicht exakt messbar, ob und was diese wissenschaftlichen Initiativen
       konkret bewirkt haben.
       
       Zu einem Gutteil zielten die Forschungen dabei auf bildungspolitische
       Initiativen ab. Auffällig ist dabei, dass die einzelnen Projekte nicht etwa
       wissenschaftliche Elfenbeintürme zu erklettern suchten, sondern
       ausgesprochen praxisorientiert arbeiteten. [3][„Respond! Nein zu Judenhass
       im Netz“] nennt sich etwa das Projekt mehrerer Universitäten und der
       Jüdischen Gemeinde zu Berlin, das jungen Erwachsenen eine erhöhte
       Medienkompetenz im Internet nahebringen will. „Junge Menschen sollen in die
       Lage versetzt werden, Taktiken antisemitischer Hass-Rede in den sozialen
       Medien zu erkennen und medienkompetent auf sie zu antworten“, lautete das
       Ziel. Es handelte sich um ein Projekt mit Schulungen für die Beteiligten
       und dem Ziel einer Wissensvermittlung. Das Ergebnis laut den
       Verbundpartnern: „Die Teilnehmenden verfügten nach dem Training über mehr
       Wissen. Sie waren auch besser in der Lage, die Relevanz von Antisemitismus
       und das Eintreten dagegen zu reflektieren. Die Teilnehmenden zeigten mehr
       Empathie gegenüber denjenigen, die von antisemitischem Hass betroffen
       sind.“
       
       ## Sehr junge Kinder
       
       Eher um Grundlagenforschung ging es dagegen bei dem Projekt „Antisemitismus
       in pädagogischen Kontexten“, das herauszufinden suchte, wie und wann Kinder
       ein Bewusstsein der religiösen Zugehörigkeit entwickeln und Juden dabei mit
       antisemitischen Begriffen belegen. Dazu gingen die Forscher in Kitas und
       Schulen. Schon sehr junge Kinder, so ein Ergebnis, würden Juden und
       Jüdinnen als solche identifizieren.
       
       Die Europa-Universität Flensburg und die Uni Düsseldorf gingen den
       Erscheinungsformen von Antisemitismus im länderübergreifenden Vergleich
       nach – sie untersuchten Lehrpläne und Schulpraxis in Frankreich, Rumänien
       und Spanien. Ergebnis ist nun nicht etwa nur eine wissenschaftlich
       ausgeklügeltes Thesenpapier, sondern unter anderem eine Graphic Novel des
       Comic-Autors Jordi Peidro über den Holocaustüberlebenden Siegfried Meir für
       den Schulunterricht in Spanien und Deutschland.
       
       Auf Widerspruch stieß bei der Präsentation der im Zusammenhang mit der
       Bekämpfung des Antisemitismus gerne bemühte Begriff der Prävention. Der
       Präsident des Deutschen Historischen Museums Raphael Gross nannte das Wort
       in diesem Zusammenhang „merkwürdig“. Mann könne in weiten Bereichen der
       Gesellschaft gar keine Prävention betreiben, „sondern nur Aufklärung“,
       sagte Gross. Sabine Achour von der FU Berlin stimmte zu: „Wenn ich auf
       Menschen zugehe, die ich als potentielle Nazis betrachte, funktioniert das
       nicht mehr“, sagte sie. Der Antisemitismusbeauftragte der
       Generalstaatsanwaltschaft Berlin Florian Hengst gab zu bedenken, dass
       Prävention „nur ein Teilstück“ seiner Arbeit sei – kein Wunder, greifen
       Gesetze doch erst nach der Vollendung einer Straftat und nicht vorher.
       
       ## Geisterfahrten
       
       Welche Herausforderungen künftig anstehen, dazu gab wiederum Gross einen
       Hinweis. Bisher, so der Historiker, habe man sich immer auf die USA
       verlassen können, wenn es darum ging, Mindeststandards bei der Aufarbeitung
       der NS-Verbrechen einzuhalten, etwa bei der Entschädigung von NS-Raubkunst
       oder von jüdischen Zwangsarbeitern aus Osteuropa. „Heute sagen Elon Musk
       und Vizepräsident JD Vance: ‚Hört auf mit eurer blöden Erinnerung‘“,
       benannte Gross jüngste Interventionen aus Washington, die sich zugleich für
       die rechtsradikale AfD stark machten. Die veränderte US-Außenpolitik zwinge
       dazu, ganz neu über die deutsche Erinnerungspolitik nachzudenken.
       
       Über Trumps historische Geisterfahrten konnte das Forschungsnetzwerk
       Antisemitismus aus begreiflichen Gründen noch kein Ergebnis vorstellen.
       Doch was nicht ist, könnte noch werden: Staatssekretär Karl Eugen
       Huthmacher kündigte am Montagabend an, dass das Forschungsministerium
       voraussichtlich weitere 12 Millionen Euro zur Verfügung stellen werde, um
       „dem Antisemitismus den Nährboden zu entziehen“.
       
       7 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zentralratderjuden.de/wp-content/uploads/2024/06/ZDJ_Programm_7._Oktober_21.02.-23.02.pdf
   DIR [2] https://www.fona21.org/
   DIR [3] https://www.fona21.org/verbundprojekte/respond
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hillenbrand
       
       ## TAGS
       
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