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       # taz.de -- Buch über Austeritätspolitik: Klassenkampf von oben
       
       > In „Die Ordnung des Kapitals“ zeigt die italienische Ökonomin Clara
       > Mattei, wie mit Austeritätspolitik die Hegemonie des Kapitals
       > durchgesetzt wird.
       
   IMG Bild: „Wir wollen Lohnerhöhungen!“: Streikende Arbeiterinnen in Mailand 1954
       
       Man musste schon zweimal hinhören, um es zu glauben: Gerade hatte der alte
       Bundestag eines der größten Investitionspakete der deutschen Geschichte
       beschlossen, da verkündete Friedrich Merz: „Wir werden sparen müssen.“
       Wenig später schob Jens Spahn hinterher: „Die fetten Jahre sind vorbei.“
       Worauf beide Politiker die Bevölkerung vorbereiten, ist die Rückkehr einer
       neuen Ära der Austerität. Egal, welche Krise das Land trifft, es scheint
       nur eine Lösung zu geben: sparen, sparen, sparen.
       
       Dabei zeigt die Geschichte, dass [1][Sparpolitik] nie den versprochenen
       Effekt hat. Gemeinhin lautet die Logik, man müsse kurzfristig eine
       schmerzhafte Phase des ökonomischen Abschwungs in Kauf nehmen, um
       anschließend die Früchte dieser Entbehrungen in Form von größerem Wachstum
       zu ernten. Allerdings existieren keine überzeugenden Belege dafür, dass
       diese Theorie stimmt. In „Die Ordnung des Kapitals“ liefert die
       italienische Ökonomin Clara Mattei eine Erklärung dafür, wieso
       Politiker*innen dennoch an dieser Methode festhalten.
       
       Bevor sie die Geschichte der Austerität beleuchtet, stellt sie zu Beginn
       ihres Buchs klar, dass sich diese Politik nicht allein auf
       Haushaltskürzungen beschränkt. Leitzinserhöhungen der Zentralbanken und der
       Abbau von Arbeitnehmerrechten, wie sie Deutschland mit der Agenda 2010
       erlebt hat, gehören ebenfalls dazu. Genau wie Milliardeninvestitionen in
       das Militär, wenn diese als Rechtfertigung eines Abbaus des Sozialstaats
       dienen. „Austerität bedeutet nicht weniger Staat, sondern Staat im Dienst
       des Kapitals“, brachte sie kürzlich in einem Interview auf den Punkt und
       verdeutlicht damit die Grundthese ihres Buchs: [2][Austeritätspolitik] darf
       nicht als Instrument zur Sanierung einer maroden Wirtschaft verstanden
       werden, sondern als politisches Mittel zum Schutz der kapitalistischen
       Ordnung.
       
       Gemeinhin assoziiert man die Ursprünge der modernen Austerität mit der
       neoliberalen Ära der Reagan- und Thatcher-Jahre. Mattei geht zurück bis in
       die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Krieg war eine Zäsur, weil erstmals
       die vermeintliche Gewissheit beschädigt wurde, der Kapitalismus hätte auf
       jede Situation die beste Antwort. Der Krieg bewies, dass Regierungen sehr
       wohl in der Lage waren, dem kapitalistischen Marktsystem eine Absage zu
       erteilen und mit aktiver Wirtschaftspolitik die Bedürfnisse der
       Gesellschaft zu befriedigen.
       
       Am Beispiel von Großbritannien und Italien dokumentiert Mattei, wie
       Arbeiterbewegungen in diesem Bewusstsein zunächst große Erfolge im Kampf
       für eine neue politische Ordnung feierten, wie die erfolgreiche Besetzung
       von Fabriken in Norditalien illustriert. Es schien möglich, dass das
       revolutionäre Aufbegehren der Arbeiter*innen tatsächlich die Dominanz
       des Kapitals brechen konnte.
       
       „In einer Zeit beispielloser demokratischer Umwälzungen in ganz Europa […]
       mussten die Wirtschaftsexperten ihre mächtigsten Waffen einsetzen, um die
       Welt so zu erhalten, wie sie ihrer Meinung nach sein sollte“ – sie erfanden
       die Austeritätspolitik. Wirtschaftspolitische Maßnahmen wurden
       durchgesetzt, deren vorgebliches Ziel es war, den Haushalt zu sanieren und
       die Inflation zu bekämpfen, die gleichzeitig aber einen enormen Anstieg der
       Arbeitslosigkeit nach sich zogen. Öffentlich wurden diese Auswirkungen zwar
       mit Bedauern begleitet, aber zum notwendigen Übel erklärt.
       
       Die größte Stärke von Clara Matteis Analyse liegt in der Art, wie sie
       hinter diese Statements blickt. Indem sie umfassendes Archivmaterial aus
       den 1920ern auswertet (Zeitungen, private Korrespondenzen und wenig
       bekannte Fachaufsätze), legt sie die wahren Motive der Verantwortlichen
       offen: Steigende Arbeitslosigkeit war nicht bloß ein unerfreulicher
       Nebeneffekt, sondern die perfekte Möglichkeit, Arbeiter*innen zu
       disziplinieren und ihre Position zu schwächen.
       
       Deswegen steht in „Die Ordnung des Kapitals“ eine Berufsgruppe im
       Vordergrund, die ansonsten keinen prominenten Platz in der Geschichte der
       Zwischenkriegsjahre einnimmt – Ökonomen. Für Großbritannien war es Ralph
       Hawtrey, Hausökonom des britischen Finanzministeriums, der die
       wirtschaftswissenschaftlichen Argumente lieferte, um den Einfluss von
       Arbeiter*innen zu beschneiden. Besonders interessant ist aber die
       Geschichte Italiens. Mattei zeigt detailliert, welche Verantwortung
       Ökonomen bei der Machtsicherung des faschistischen Regimes von Benito
       Mussolini trugen.
       
       Symptomatisch ist dabei die Rolle von vermeintlich liberalen Ökonomen wie
       Luigi Einaudi, der 1948 zum italienischen Präsidenten gewählt wurde. Mattei
       dokumentiert, wie solche Technokraten im Namen der Austerität Maßnahmen
       unterstützten, die den Faschisten nutzten. Dies wirft ein Licht auf einen
       bisher kaum beachteten Aspekt von Mussolinis Aufstieg, der auf bedrückende
       Art auch unsere Gegenwart spiegelt.
       
       ## Im Kern undemokratisch
       
       Die prominente Rolle, die Ökonom*innen beim Schutz der kapitalistischen
       Ordnung spielen, ist kein Zufall. Ihre Theorien verleihen dem Sozialabbau,
       wie ihn auch die Bundesregierung vorantreibt, eine vermeintlich
       unpolitische, wissenschaftliche Aura. Dadurch können Politiker*innen
       sowohl in liberalen Demokratien als auch in autoritären Staaten ihre
       Handlungen als zwar „schmerzhaft“, aber alternativlos und rational
       rechtfertigen. So wird [3][Austerität zum Common Sense] geadelt. Mattei
       legt dar, dass diese Form der öffentlichen Kommunikation notwendig ist,
       weil der Kern der Austeritätspolitik zutiefst undemokratisch ist.
       
       Woran ihr innovativer Ansatz in Teilen krankt, lässt sich bei vielen
       politischen Sachbüchern beobachten. Haben die Autor*innen erst mal eine
       These entdeckt, mit der sie die Welt erklären, wird diese auf so viele
       Bereiche wie möglich angewendet: Mit einem Hammer in der Hand wird alles
       zum Nagel. Bei Mattei zeigt sich das in ihrer Diskussion um die Funktion
       von Zentralbanken. In „Die Ordnung des Kapitals“ entsteht der Eindruck,
       diese Institutionen seien nur geschaffen worden, um Arbeiterbewegungen zu
       unterdrücken. Selbstverständlich sind Zentralbanken in der Regel
       Einrichtungen, die sich einem direkten politischen Einfluss entziehen.
       
       Dafür gibt es gute Gründe, wie wir gerade in den USA erleben. Wäre der
       US-amerikanischen Gesellschaft wirklich geholfen, hätte Donald Trump
       direkte Kontrolle über die Federal Reserve und den Leitzins? Die Frage,
       welche Rolle Zentralbanken in einer Demokratie spielen sollten und wie man
       mit ihrem de facto undemokratischen und technokratischen Charakter umgeht,
       ist hochkomplex. Sie lässt sich nicht so einfach in Matteis
       Austeritäts-Framework pressen.
       
       Das ändert aber nichts daran, dass „Die Ordnung des Kapitals“ für
       progressive Kräfte ein Geschenk ist. Clara Mattei belegt eindrücklich, was
       neoliberale und konservative Politiker*innen wirklich meinen, wenn sie
       von notwendigen Sparmaßnahmen sprechen. Sie entlarvt, dass nicht das
       langfristige Wohl der Allgemeinheit im Vordergrund steht, sondern die
       Sicherung der Vormachtstellung des Kapitals.Der Austeritätspolitik lässt
       sich daher nicht mit ökonomischen Argumenten begegnen, sondern sie muss als
       das bezeichnet werden, was sie ist: Klassenkampf von oben.
       
       14 Jun 2025
       
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