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       # taz.de -- Ein Syrischer Arzt kehrt zurück: Heim nach Idlib
       
       > Vor elf Jahren verließ Mustafa Fahham seine Heimat. In Deutschland baut
       > er sich ein Leben auf. Dann fällt das Assad-Regime und Fahham kehrt
       > zurück.
       
   IMG Bild: Aleppo liegt noch in Trümmern. Hier hat Mustafa Fahham vor Jahren sein Medizinstudium absolviert
       
       Der grauschimmernde Minivan, der die Schlaglöcher abfedert, überholt die
       weißen, zerkratzten 9-Sitzer voller Menschen, die Männer vorne, die Frauen
       hinten, Kinder überall, die entlang der Landstraße holpern. Der
       grauschimmernde Minivan überholt das Moped, auf dem der Fahrer, ein
       korpulenter Mann in schwarzem Gewand und roter Kefiyah, eine Frau mit
       schwarzem Gesichtsschleier und Jacke mit Leopardenmuster sowie ein junges
       Mädchen sitzen.
       
       Im grauschimmernden Minivan sitzt Mustafa Fahham und schaut nachdenklich
       aus dem Fenster. Auf die karge Landschaft, die trockene, rote Erde, die
       sich in goldene und grüne Streifen am Horizont auflöst, auf die Olivenbäume
       und Kiefern am Rand, auf die weißen Sandsteinhäuser in der Ferne. Die Luft
       ist noch frisch, doch die ersten Sonnenstrahlen des Morgens erwärmen sie
       bereits.
       
       Fahham sitzt in grünem T-Shirt und Jeans hinten im Wagen, neben ihm hängt
       ein blauer Anzug mit blütenweißem Hemd von einem Bügel. Fahham hat in einem
       schönen Hotel im modernen Teil Aleppos übernachtet, doch heute Morgen einen
       Bogen um den Frühstückstisch gemacht. Wieso, das wird er später erklären.
       Heute ist ein wichtiger Tag im Leben des 35-jährigen Mediziners. Beruflich,
       aber vor allem persönlich.
       
       Mustafa Fahham ist Nierenarzt. Diplomiert in Aleppo, weitergebildet in
       Hamburg. Einer der 169.280, die sich [1][seit 2011 in Deutschland] haben
       einbürgern lassen. Weil sie in der Bundesrepublik ihre Zukunft sahen. In
       Syrien, da wo sie und Fahham herkommen, gab es für sie keine Zukunft. Nur
       Krieg, Repression, Folter. Und Tod, Tränen, Trauer. Verlust.
       
       ## Aufstehen! Assad ist gestürzt!
       
       Am 8. Dezember 2024 [2][fällt nach 24 Jahren Terror das Regime] des
       syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Eine Rebellenkoalition, angeführt
       von der islamistischen Miliz Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), übernimmt die
       Macht nahezu über Nacht. Und fast ohne Blutvergießen.
       
       Fahham sitzt in jener Nacht vor dem Fernseher in seiner Wohnung, in einem
       Mehrfamilienhaus in Bremerhaven-Geestendorf, das Handy in der Hand, und
       kann nicht aufhören, die Nachrichten zu verfolgen, die pausenlos über den
       Bildschirmen flimmern. Seine Augen sind durch tiefe Ringe gezeichnet,
       geschlafen hat er kaum in den letzten drei Nächten. Frustriert ist er, weil
       er den Einmarsch der Rebellen mit eigenen Augen sehen wollte. Doch nach
       Syrien kann er jetzt nicht, im deutschen Krankenhaus wartet man auf ihn.
       Aber dass es jetzt wirklich klappt, Assad zu stürzen? Dreizehn Jahre lang
       haben wir es versucht, sagt er. Ohne Erfolg.
       
       Bis eben war er mit seiner Frau und den zwei Kindern bei Freunden. Um 23
       Uhr sind sie nach Hause gegangen, bis 2 Uhr ist Fahham wach. Dann ist er so
       müde, dass er kurz eindöst. Doch plötzlich, es ist 4 Uhr, klingelt das
       Handy. Aufstehen! Assad ist gestürzt!, schreit ihn die Stimme am anderen
       Ende der Leitung an. Ein unglaublich emotionaler Moment, sagt er und zeigt
       ein Bild von sich vor dem Fernseher, Syria-TV-Nachrichten im Hintergrund
       und ein schläfriger Fahham vorne.
       
       In jenen zwei Stunden, als Fahham schläft, marschieren die Rebellen durch
       die Straßen von Damaskus. Anführer Ahmed al-Scharaa spricht noch am selben
       Tag aus der antiken Umayyad-Moschee an die Nation, er spricht von „Sieg“
       und „neuer Geschichte“. Assad hat in den frühen Morgenstunden das Land an
       Bord eines Flugzeugs in Richtung Russland verlassen. Seine Soldaten haben
       ihre Stellungen aufgegeben und sind zu ihren Liebsten nach Hause geflohen.
       Es ist ein neuer Tag, es ist ein neues Syrien.
       
       ## Er beschließt seine Rückkehr
       
       Fast vier Monate später, am 15. März, wieder in Fahhams Wohnung in
       Bremerhaven: Es ist genau 15 Jahre her, dass ein erster Protest den Beginn
       der Syrischen Revolution markiert. Es ist Ramadan und Fahham fastet, öffnet
       aber eine Packung Hanuta für den zweijährigen Mohammad, den jüngsten Sohn,
       ein Kleinkind in buntem Pyjama und Socken, mit blauen Augen und
       dunkelblonden Haaren, der ihn Baba nennt.
       
       Im Wohnzimmer liegen Teppiche mit Blumenmuster unter den weinroten Sofas,
       das Bild von einem Holzsteg im Sonnenuntergang hängt an der Wand – typisch
       norddeutsch. Auf der anderen Seite stehen weiße arabische Laternen und ein
       Ramadan-Kalender. Ein blumiger Duft liegt in der Luft. Die zwei Kinder
       kreischen und spielen Fangen zwischen den Sofas, das jüngere nibbelt ab und
       zu an seiner Schokowaffel.
       
       Noch lässt nichts erahnen, dass sich die Familie gerade auf eine der
       wichtigsten Reisen ihres Lebens vorbereitet. An jener Nacht im Dezember hat
       Fahham beschlossen, nach über elf Jahren Abwesenheit in die vom Krieg
       zerrüttete Heimat zurückzukehren. Für ein paar Wochen zumindest.
       
       Fahham zieht den Kindern Wollmützen und Schals an, sie rennen zur Tür.
       Raus, zum See, wenige Hundert Meter von der Wohnung entfernt, in die kühle
       Morgenluft. In Bremerhaven gibt es nicht so viel Grün, nicht so viel Natur
       wie auf den Feldern und in den Obstgärten um seine Heimatstadt Idlib. „Wir
       sind bekannt für Olivenbäume, Feigenbäume“, sagt er.
       
       ## Freude und Angst
       
       In Deutschland hat sich Fahham ein schönes Leben aufgebaut. Er meistert die
       Sprache, dafür hat er sich in den ersten Jahren Mühe gegeben, hat Freunde,
       wenn auch die engeren aus Syrien stammen, kennt die besten syrischen
       Restaurants in Bremen und Bremerhaven, wenn das Heimweh mal wieder
       anklopft. Er hat sich eingelebt. Sein ältestes Kind spricht akzentfreies
       Deutsch. Doch der Gedanke an die Heimat, der ist nie ganz erloschen.
       
       Vierhundert Meter und drei Straßen weiter erstreckt sich ein kleiner See,
       umgeben von bunten, noch nicht ganz aufgegangenen Frühlingskrokussen und
       leeren Sitzbänken. Eine Ente lässt sich auf der Wasseroberfläche treiben,
       eine Trauerweide streckt die Zweige gen Wasser. Fahham setzt sich auf eine
       Bank am Deich, allein, und denkt nach. Verschiedene Emotionen kämpfen in
       ihm. Freude, nach so vielen Jahren, nach so langer Zeit nach Syrien
       zurückzukehren, seine Heimatstadt wiederzusehen. Aber auch Angst.
       
       Fünfhundert Syrer*innen sind inzwischen aus Deutschland langfristig
       zurückgekehrt, viele mehr kurzfristig, auch in Fahhams Umfeld. Und sie
       sagen: ‚Du wirst ein anderes Syrien erleben. Du wirst deine Heimatstadt
       nicht wiedererkennen. Viele Orte, die du kennst, sind nicht mehr da.‘
       
       Jetzt sitzt Fahham an diesem Aprilmorgen im grauschimmernden Minivan
       Richtung Heimat, und denkt nach. Über seine Rede, über den Vortrag, den er
       am Uniklinikum in Idlib in vier Stunden halten wird. Und sicherlich über
       vieles anderes, seine Familie, seine Reise. Er schickt ein paar
       Sprachnachrichten, während draußen Jugendliche Schafe weiden. Fahham
       spricht ruhig und bedacht, stets um Freundlichkeit und Korrektheit bemüht.
       
       ## Beatmungsgeräte aus Deutschland
       
       Heute ist der große Tag. Der Tag, an dem er nach elf Jahren als Sieger in
       seine Heimatstadt zurückkehrt. An dem sich elf Jahre Abwesenheit in Luft
       auflösen sollen. Der Verbindungspunkt, der den Einschnitt dieser Jahre
       verschließt. Als frisch diplomierter Medizinstudent ist er gegangen, als
       gestandener Oberarzt kommt er zurück.
       
       Als jemand, der Konferenzen an Universitäten hält, der sich mit Ministern
       trifft. Fahham, der eigentlich Medienschaffender sein wollte, doch keine
       Zukunft für den Journalismus unter Assad sah, hat einen Verein
       mitgegründet. Dieser soll das Gesundheitswesen in Syrien unterstützen. Von
       Deutschland aus. Beatmungs- und Dialysegeräte, Workshops, Spenden,
       Weiterbildung. Syrian German Medical Association sein Name, gut 300
       Mitglieder.
       
       Fahham kümmert sich um die PR, die Leidenschaft für die Medien ist
       geblieben. Auch deshalb ist er nach Aleppo und Idlib gefahren. Sich einen
       Blick in den dortigen Krankenhäusern verschaffen, Ideen entwickeln, Treffen
       arrangieren, Öffentlichkeitsarbeit leisten. Vorträge halten. Der 35-Jährige
       mit den silbernen, seitlich kurz geschnitten Haaren und getrimmtem Bart
       sieht leicht nervös aus. Dafür hat er Gründe.
       
       Vierzehn Jahre zuvor kam der Frühling in Fahhams Land an. Doch nicht Blumen
       sprossen aus der Erde, sondern Gräber. Nicht Vogelgezwitscher füllte den
       Himmel, sondern Explosionen und Schreie. Die Revolution, von der Fahham und
       seine Kommiliton*innen an der Universität von Aleppo geträumt hatten,
       wandelte sich in ein Massaker.
       
       ## Als der Widerstand gewaltsam gebrochen wurde
       
       Als sich die erste Demo in Idlib zusammenfindet, im April 2011, schauen
       sich eine Gruppe junger Männer und Frauen in die Augen, gut 500 sind es,
       die sich neben der Moschee versammelt haben. Ängstlich, kaum einer traut
       sich, das laut zu rufen, was alle denken. Dass Assad wegmuss, dass die
       Menschen genug haben vom Regime, von Terror und Korruption. Dann bricht
       jemand das Schweigen, der Protest nimmt seinen Lauf. Die erste
       Demonstration verläuft friedlich, doch nach und nach verschwinden viele
       Teilnehmer*innen hinter den Gittern des Regimes.
       
       Drei Proteste später, einen Monat danach, verschwinden die Menschen nicht
       mehr leise, sie werden direkt begeschossen. Ein junger Mann stirbt, Fahham
       ist dabei. Auf einem vergilbten Bild, das er mit nach Deutschland genommen
       hat, sieht man zwei Männer mit einer syrischen Flagge, sie stehen auf dem
       Vordach des Eingangstors der Universität von Aleppo, der Name ist dort in
       arabischer Schrift gemalt. Unter ihnen jubelt eine Menschenmenge. „Hier
       haben wir die Uni erobert“, sagt Fahham. Das Datum: 17. Mai 2012. Auf dem
       nächsten Bild sieht man acht junge Männer in weißen Kitteln, sie essen
       Kuchen und trinken Orangensaft. Auf dem dritten Bild trägt eine
       Menschenmenge die Leiche eines gefolterten Medizinstudenten, der
       Demonstrierende behandelte.
       
       Vor über elf Jahren ist Fahham gegangen. Denn parallel zu den Prüfungen hat
       er Demonstrationen gegen Assad vorbereitet. Sicher ist es für ihn nicht
       mehr. Und eine Familie zu gründen, mitten im Bürgerkrieg – kaum zu denken.
       „Meinungsfreiheit war ein Fremdwort, Korruption war sehr verbreitet. Assad
       hat versucht, Alawiten gegen Sunniten auszuspielen. Viele Bekannte sind
       verhaftet worden. Was man jetzt in Sednaya gefunden hat, das kennen wir
       schon lange.“
       
       Also geht er. 2013, als in Aleppo heftige Gefechte zwischen Rebellen und
       Pro-Assad-Truppen die Altstadt in Schutt und Asche legen, schließt er sein
       Medizinstudium ab. 2014 fährt er nach Istanbul, im Oktober landet er in
       Hamburg. [3][Einer der fast 6.000 syrischen Ärzt*innen], die das deutsche
       Gesundheitswesen mit am Leben halten. Einer, von dem der öffentliche
       Diskurs abwechselnd sagt, er werde unsere Renten zahlen, und er solle
       zurück in sein Heimatland. Mal ist er Rettung des deutschen
       Gesundheitssystems, mal Bedrohung der deutschen Leitkultur.
       
       ## Geschmacksreise in die Vergangenheit
       
       Jetzt, elf Jahre später, ist Fahham wieder da. In den Straßen Idlibs, die
       vor Staub und Lärm strotzen, auf denen alte Mopeds an den Läden
       vorbeituckern. Läden, in deren geschwärzte Wände sich Abgase und Zeit
       eingefressen haben. Verkäufer stellen Obst und Waren auf dem Gehweg aus,
       daran vorbei laufen mit schnellen Schritten Frauen in schwarzen Gewändern,
       die Gesichtsschleier über Mund und Nase, sowie Soldaten in Tarnfleck mit
       Kalaschnikows auf dem Rücken. Und Kinder, viele Kinder. Ein harter
       Gegensatz zur ordentlichen Ruhe Bremerhavens.
       
       Fahham ist nicht allein, vier syrische Ärzte aus Deutschland fahren mit.
       Sie tauschen sich aus über Fußball, über Orte, an denen man US-Dollar
       wechseln kann. Der grauschimmernde Minivan überquert einen Verkehrskreisel
       und biegt in eine Nebenstraße ab. Fahhams Gesicht heitert sich langsam auf,
       der Minivan nähert sich einer alten, teils zerbombten Moschee mit einem
       unauffälligen Minarett. „Hier habe ich oft gebetet, die Wohnung von meinen
       Großeltern lag da, hier habe ich meine Kindheit verbracht!“, ruft Fahham
       begeistert, als er aus dem Minivan steigt. „Wenn ich mir das so ansehe,
       kommen viele Gefühle hoch, ja“, sagt er. Seine Augen glänzen.
       
       Alt und optisch nicht ansprechend ist das Viertel, das weiß Fahham. Für ihn
       aber: wunderschön. Jetzt wird klar, wieso er heute Morgen nicht
       gefrühstückt hat. Die fünf Ärzte, die mit ihren T-Shirts und Rucksäcken
       eher wie Touristen als Einheimische aussehen, streben mit sicherem Schritt
       zurück in Richtung Kreisel. An einer Straßenecke liegt ein unauffälliger
       Laden: Patisserie Habush.
       
       Die Aufschrift ist knallrot, und mit den glänzenden Neonlampen wirkt er ein
       bisschen wie eine US-Imbissbude, vor der Kasse stehen gut ein Dutzend
       Menschen Schlange. Ein Geruch von Butter und Zucker strömt aus dem Ofen. 15
       Minuten Wartezeit, während die Köche den Teig kneten, ihn mit Creme füllen
       und Zuckersirup tränken, mit Walnüssen und Pistazien bestreuen, et voilà,
       fertig ist Shaibiyat, das süße Gebäck, für das Idlib bekannt ist. Und auf
       das hier Jung und Alt, Soldaten inklusive, warten. Bitteren Kardamomkaffee
       servieren die Kellner in kleinen Plastikbechern dazu.
       
       ## Haus der Kindheit
       
       Lange musste Fahham warten, um diesen süßen Geschmack wieder zu kosten. So
       lange, dass die 15 Minuten wie im Wimpernschlag verfliegen. „Ich bin jetzt
       zwölf Jahre zurückgereist“, sagt Fahham. Die Gruppe stürzt sich auf die
       Tellerchen, konzentriert und mucksmäuschenstill.
       
       Wenige Minuten später sind sie wieder draußen, nach und nach trennen sich
       ihre Wege, jeder begibt sich in eine andere Richtung, eine andere Klinik.
       Bedürfnisse erfragen, Operationen durchführen, sich schwierige Fälle
       ansehen. Alle gehören demselben Verein an, alle verfolgen dasselbe Ziel:
       etwas zurückgeben von dem Glück, das sie sich erkämpft haben. Fahham weiß,
       dass er privilegiert ist, dass er sich in Deutschland ein gutes Leben
       aufbauen konnte. Dass ein Arzt dort gut hundert Mal so viel verdient wie
       einer hierzulande. Dass seine Kinder nicht im dröhnenden Lärm der
       Explosionen und Schüsse aufwachsen mussten.
       
       Aber davor muss der 35-jährige Arzt noch was erledigen: noch einmal das
       Haus seiner Kindheit sehen. Jetzt links, in die Straße rein lotst er den
       Fahrer. In einem ruhigen Wohnviertel steht ein vierstöckiges Haus aus
       weißem Sandstein mit Holztür. Hohe Kinderstimmen aus der Schule nebenan
       schießen in die Luft wie Feuerwerk. Ein junger Mann lehnt sich aus dem
       Balkon in der vierten Etage und winkt.
       
       Fahham lächelt und winkt zurück, überfliegt nahezu die acht Treppen bis zu
       Wohnungstür, schon ist er da, umarmt den jungen Mann, sie nehmen sich in
       die Arme und lachen. Er bittet Fahham rein, der streift sich die Schuhe ab,
       tritt durch die Tür, schaut sich um, staunend und strahlend zugleich. Jetzt
       ist er wieder zu Hause. „Wie soll ich dieses Gefühl beschreiben, das ich
       gerade empfinde? Ich kann es nicht. Es ist wie ein Traum, der in Erfüllung
       gegangen ist. Ich hätte nie davon geträumt, dass ich meine alte Wohnung
       wiedersehe.“
       
       ## Sicher im eigenen Land
       
       Als Fahham vor fünf Tagen die syrisch-libanesische Grenze überquert hat,
       war es so dunkel, dass er kaum was sehen konnte. Gemerkt hat er nur den
       Gesichtsausdruck des Grenzbeamten: freundlich. Ein bis dahin unbekanntes
       Gefühl überkommt ihn: das Gefühl, im eigenen Land sicher zu sein. Die Angst
       ist weg. Zum ersten Mal hat er eine Heimat, sagt er.
       
       In Aleppo, dessen Altstadt wie ein schreckliches, doch wunderschönes
       Denkmal teils noch in Trümmern liegt, trifft Fahham auf alte Kommilitonen
       und Professoren, schlendert durch Hörsäle und Zimmer des Uniklinikums, in
       denen er einst arbeitete, hält einen Vortrag, der mit dem Zeichentrickfilm
       über einen 20-jährigen Mann beginnt, der Medizin studiert und zusieht, wie
       ein Kommilitone Demonstranten hilft und von Assads Kräften getötet wird.
       Die Zeichentrickfigur ist der jüngere Fahham. Dann spricht er über die
       Arbeit seines Vereins, über das Gesundheitswesen in Syrien und Deutschland.
       Er lächelt, beantwortet Fragen, schüttelt Hände.
       
       Er sitzt am Tisch mit seinen Kollegen in einem raffinierten Restaurant
       entlang der einstigen Kampflinie, isst Baba ganoush, Auberginenpüree, und
       Fladenbrot mit Fleisch, spaziert am Abend durch die Altstadt, als das
       orangene Licht des Sonnenuntergangs die Trümmer rosarot tüncht, redet frei
       mit den Kollegen über Politik, über Wiederaufbau. „Schau mal auf
       Deutschland nach dem Krieg“, sagt einer. Dann will Fahham früh ins Bett,
       morgen wird ein langer Tag. Morgen geht es nach Idlib.
       
       Jetzt ist er da, in Idlib, in seiner alten Wohnung, fünf Zimmer, hohe
       Decken, rote Sofas, moderne Küche und Fahham lächelnd mittendrin. Er
       unterhält sich mit dem entfernten Verwandten, der jetzt in seiner Wohnung
       lebt, sie sprechen über Bekannte, die ausgewandert sind, weil es kaum noch
       Jobs gibt, essen Gebäck mit Datteln.
       
       ## Fahhams großer Auftritt
       
       Es ist fast 12 Uhr und Fahham muss sich schnell umziehen, mit raschen
       Bewegungen streift er sich Krawatte und Anzug über. Die Anspannung ist
       hinter dem Lächeln sichtbar. Das Uniklinikum in Idlib ist noch teils im
       Aufbau, der Eingang staubig, die Wände durchfressen, die Türrahmen rostig.
       Die Patient*innen, zwischen denen sich Fahham durchschlängelt, sammeln sich
       in den Fluren, sitzen auf Tragen und Stühlen.
       
       Endlich erreicht er den Hörsaal. Hier sitzen Frauen und Männer getrennt,
       die Frauen auf der linken Seite, die Männer auf der rechten. Die Treppe
       dazwischen bildet eine unsichtbare Trennwand. Noch spricht sein Vorredner.
       Fahham unterhält sich mit einigen Männern, dann geht er langsam auf das
       Podest zu. Der Redner verabschiedet sich, einige Student*innen stehen
       auf, einige verlassen das Auditorium. Pause.
       
       Fahham checkt den Laptop, steckt den USB-Stick ein, testet sein Headset. Es
       funktioniert nicht. Alle setzen sich wieder auf ihre Plätze, gleicht geht
       es los. Fahhams Stimme hallt plötzlich in dem Raum. Das Zeichentrickbild
       des jungen Mannes, der in weißem Kittel zur Uni geht, läuft die über die
       Leinwand. Fahham lächelt.
       
       Acht Tage später ist Fahham wieder in Bremerhaven. Er sitzt auf dem
       komfortablen Sofa seines Wohnzimmers, der jüngste Sohn kreischt im
       Hintergrund. Im Videoanruf erzählt der Nierenarzt, dass er mit der
       Veranstaltung in Idlib zufrieden war. Stolz, auch wenn der Vortrag derselbe
       war, den er in den anderen Städten gehalten hat. Für ihn aber hatte dieser
       einen besonderen Geschmack. Schade, dass er dann sofort wegmusste, dass die
       Zeit in Idlib so kurz war.
       
       ## Großes Glück – für kurze Zeit
       
       Er erzählt aber auch, dass Kinder in Nordsyrien sterben, weil es dort keine
       Geräte für Peritonealdialyse gibt, die Abfall aus dem Bauch herausfiltern,
       wenn die Nieren nicht mehr arbeiten. Dass es schwer war, Ärzte nach Latakia
       zu schicken, weil viele Angst hatten nach der [4][Gewalt an den
       Alawit*innen im letzten Monat]. Dass die Reise viel zu kurz war, dass
       zwölf Tage nicht fast zwölf Jahre Abwesenheit wieder gutmachen können.
       
       Schon vermisst er die Lebendigkeit des syrischen Lebens, das Chaos. Es ist
       ein Heimweh, das lange in ihm schlummerte, das tief in ihm begraben war und
       nun wieder erweckt ist. Die Reise: wie ein Traum, aus dem er noch nicht
       ganz aufgewacht ist. Eine neugefundene Hoffnung, so wie die Hoffnung für
       die Zukunft, die auf den Straßen Syriens schwebte. Eine Wiedergeburt, sagt
       Fahham. Pure Glückseligkeit. „Viele Gefühle, die in mir gestorben waren,
       sind wieder ins Leben gekommen.“
       
       Die nächste Reise hat Fahham noch nicht gebucht, aber sie kommt bestimmt.
       Aber für etwas Dauerhaftes müsste die Sicherheitslage in Syrien schon
       stabiler werden. Er hat Kinder, Risiken will er nicht eingehen. Und eine
       berufliche Perspektive dort müsste her. Aber irgendwann kehrt er zurück,
       vielleicht für länger.
       
       31 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/syrische-fluechtlinge.html
   DIR [2] /Sturz-des-Assad-Regimes/!6054210
   DIR [3] /Syrische-Aerzte-in-Deutschland/!6066187
   DIR [4] /Syrien-nach-dem-Sturz-von-Assad/!6074900
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Serena Bilanceri
       
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       Justiz
       
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       US-Präsident Trump hat angekündigt, die Sanktionen gegen Syrien aufzuheben.
       Das könnte helfen, das kriegszerrüttete Land aufzubauen.
       
   DIR Gewalt in Syrien: „Wir wollen keine Rache“
       
       Seit dem Machtwechsel in Syrien marschieren israelische Truppen durchs
       Grenzgebiet. Eine Begegnung mit Verwundeten, Verwaisten und Verzweifelten.
       
   DIR Alltag nach dem Fall des Assad-Regimes: Mit Taschenlampen durchs neue Syrien
       
       In Damaskus herrschen vier Monate nach dem Ende des Regimes weiter etwas
       Angst sowie viel Freude – trotz der schwierigen Versorgungslage und Armut.