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       # taz.de -- Invasive Arten: Der Gast für Gier, Genuss und gute Tat
       
       > Im Garten unserer Autorin wächst eine ihr unbekannte Pflanze – das
       > orientalische Zackenschötchen. Kulinarisch erweist sich die Schote als
       > Gewinn.
       
   IMG Bild: Ackersenf? Raps? Nö! Das ist das Orientalische Zackenschötchen, botanischer Name: Bunias orientalis
       
       Berlin taz | Zack – zack – rumms – zack! Tief in den feuchten Boden schlägt
       mein Mann mit dem Spaten einen Kreis, rings um eine üppig wachsende, hohe
       Pflanze, die hellgelbe Blüten an langen Rispen trägt. Wie leuchtende Kerzen
       stehen viele von ihnen in unserem Garten an einem Hang, den wir für
       einheimische Wildpflanzen vorgesehen haben.
       
       Ackersenf sei das, oder Raps, über Samen vom Wind herübergeweht von Feldern
       am Rande der Stadt, dachte ich eine Zeit lang. Aber dann keimte der
       Verdacht: Dieses Gewächs blüht später als Raps, wächst höher als Ackersenf,
       und es breitet sich stark aus, verdrängt am Gartenhang die Flockenblumen,
       die Skabiosen, die wilde Wolfsmilch und noch mehr.
       
       Mein Mann und ich inspizierten die Pflanze. Nirgendwo sonst hatten wir sie
       bislang gesehen. Wir nannten sie „der Neophyt“, das ist botanisch und heißt
       übersetzt „neue Pflanze“. Als Neophyten gelten alle Pflanzen, die [1][bis
       zu Christoph Kolumbus’ erster Fahrt nach Amerika] 1492 in Europa
       ursprünglich nicht heimisch waren, die aber seitdem auf Reisen gingen und
       nun auch hierzulande wachsen.
       
       Oft gewollt, wie beispielsweise Tomaten, Kartoffeln oder Mais. Aber oft
       auch ungewollt, wenn sie auf Schiffen, in Flugzeugen oder Lkws als blinde
       Passagiere mitreisen.
       
       Die Arbeit mit dem Spaten ist getan, fünf prächtig große Exemplare von „der
       Neophyt“ haben wir umgelegt. Entwurzelt und erledigt liegen sie auf dem
       Boden. Aber da stehen noch so viele, diese Arbeit ist bedrückend erfolglos.
       Da haut mein Mann die Hacke in den Boden, holt tief Luft und ruft entnervt:
       „Kann man dieses Ding vielleicht essen?“
       
       ## Jede Pflanze bildet 2.000 bis 5.000 Samen
       
       Man kann. Ein Foto und die App Flora Incognita zur Bestimmung von Pflanzen
       zeigen: Bei uns am Hang steht das Orientalische Zackenschötchen
       beziehungsweise Zackenschote, botanischer Name Bunias orientalis,
       eingewandert aus Sibirien und Südosteuropa. Nach strenger Definition also
       kein Neophyt, gleichwohl eine invasive Art.
       
       So nennt [2][man eingewanderte Pflanzen oder Tiere], die sich stark
       vermehren und unkontrolliert wuchern und so einheimischen Arten die
       Ressourcen zum Leben nehmen. Invasive Arten bedrohen die biologische
       Vielfalt und sollten möglichst frühzeitig beseitigt oder zumindest
       reguliert werden.
       
       Das Zackenschötchen ist eine dauerhafte Staude, wird bis zu zehn Jahre alt,
       kommt mit Hitze und Trockenheit gut zurecht und kann sich auch über
       Ausläufer seiner bis zu zwei Meter tiefen Wurzel ausbreiten. Seinen Namen
       verdankt es den Früchten, kleinen Schoten mit einem gebogenen Zacken.
       
       Wegen deren hohen Eiweißgehalts wurden im vergangenen Jahrhundert
       Zackenschötchen manchmal sogar als Futterpflanze angebaut. Aber damit ist
       längst Schluss, denn jede Pflanze bildet 2.000 bis 5.000 Samen, die der
       Wind weit trägt und die schnell keimen, gern auch dort, wo man sie gar
       nicht haben will.
       
       Ich reiße eines der langen, dunkelgrünen Blätter ab, die üppig im Garten
       sprießen. Vorsichtig stecke ich es in den Mund. Oh! Das Zackenschötchen
       schmeckt bitter und doch angenehm rund. Die Blätter schmeicheln dem Gaumen,
       sie haben angenehm weichen Biss, sind weder rau noch stachelig.
       
       Seit dieser Kostprobe verwende ich die Blätter des Zackenschötchens gern im
       Salat. Kleingeschnitten verleihen sie ihm ein sattes Dunkelgrün und
       erfrischenden Pep. Aus den käuflichen Salatsorten wurden die Bitterstoffe
       in den letzten Jahrzehnten herausgezüchtet, weil sie ohne gefälliger wirken
       und sich besser verkaufen.
       
       Das Zackenschötchen aber bringt diese charakteristische Geschmacksnote in
       den Salat zurück. Bitter – das hört sich zwar unangenehm an, aber mein
       Magen neigt zur Übersäuerung nach zu viel Kaffee, süßen Speisen und bei
       Stress. Dann [3][sind Bitterstoffe Balsam], bringen den
       Säure-Basen-Haushalt wieder ins Lot, ich entspanne und bekomme bessere
       Stimmung.
       
       Doch es ist eine Sache zu wissen, wie gesund Bitterstoffe sind, und eine
       andere, das Zackenschötchen wirklich zu essen. Mein Mann und ich tasten uns
       vorsichtig heran, das Kraut zu genießen, das wir vor Kurzem noch verflucht
       und bekämpft haben.
       
       Wie deutlich die Bitternote ausfallen soll, lässt sich leicht über die
       Anzahl der Blätter dosieren. Ich nehme mindestens zwei bis drei große
       Blätter pro Person. Ein natives Olivenöl und dunkler Balsamico-Essig passen
       gut zu einem Salat mit Zackenschötchen. Einige Achtel Tomaten darin sehen
       schön aus, ein Esslöffel Kürbiskerne mit ihrem nussigen Geschmack runden
       das Ganze ab.
       
       Nicht jede:r hat einen Garten und – noch – steht nicht in jedem Garten das
       Orientalische Zackenschötchen. In Norddeutschland, wo ich lebe, ist es
       sogar selten. Unser Gartenboden enthält Kalk, vermutlich hat es deshalb bei
       uns Wurzeln geschlagen.
       
       In Thüringen, Nordbayern, Hessen und südlich der Donau, wo es wärmer ist
       und der Boden über weite Gebiete Muschelkalk enthält, besiedelt das
       Zackenschötchen üppig Straßenränder und Uferböschungen, Äcker, Wiesen und
       auch viele ökologisch wertvolle Flächen, auf denen man noch selten
       gewordene Pflanzen wie wilde Orchideen oder Wiesensalbei bestaunen kann.
       Naturschützer:innen sind alarmiert und rufen dazu auf, die Flächen für
       geschützte Arten zu erhalten und deshalb das Zackenschötchen zu entfernen.
       
       ## Dieser frische Geschmack nach Meerrettich!
       
       Dabei kann man dann gleich drei Glücksmomente auf einmal erleben: Man kann
       hemmungslos zugreifen, lecker essen und etwas für den Naturschutz tun. Wann
       sonst lassen sich Gier, Genuss und gute Tat so leicht verbinden?
       
       Wer ausrückt, das Zackenschötchen zu finden, dem empfehle ich, neben Eimer
       oder Tasche für die Blätter auch einen Wurzelstecher mitzunehmen. Denn auch
       die Wurzeln des Zackenschötchens sollen entfernt werden, um seine
       Ausbreitung zu bremsen. Vor allem aber: Auch die Wurzel kann lecker sein.
       Im Netz hatte ich gelesen, dass sie leicht nach Meerrettich schmecken soll.
       
       Erwartungsvoll ging ich daher voriges Frühjahr in den Garten und zog eine
       junge Pflanze samt Wurzeln heraus. In der Küche trennte ich sie von den
       Blättern, schrubbte mit der Wurzelbürste die Erde ab, schnitt sie und gab
       sie in ein Schälchen mit Creme fraîche und cremigem Joghurt. Fertig war der
       Dip. Aber dann: Igitt! Was ich gemixt hatte, schmeckte extrem bitter und
       kein bisschen nach Meerrettich. Leider musste ich alles wegwerfen.
       
       Wochen später, im Juni, ein zweiter Versuch. Diesmal grub ich eine Pflanze
       mit großen Blättern aus, da sind die Wurzeln dicker und länger. Von einem
       Stück streifte ich die Erde ab und biss vorsichtig zu. Da war er – dieser
       frische Geschmack nach Meerrettich. Ich vermute, dass das Zackenschötchen
       umso mehr Bitterstoffe in seinen Wurzeln gegen Fraßfeinde bildet, je jünger
       diese noch sind. Bei kräftigeren Wurzeln lässt die Bitterkeit nach und der
       Rettichgeschmack kommt durch.
       
       Mein Mann und ich essen diesen Dip gern [4][zu Roter Bete] aus dem
       Backofen. Die frische Rote Bete schneiden wir in mundgerechte Stücke,
       marinieren sie mit einer Mischung aus reichlich Olivenöl, Senf, gepresstem
       Knoblauch, gemörsertem Kümmel und Salz.
       
       Während das Gemüse in dieser Marinade circa 20 Minuten bei 190 Grad Umluft
       im Ofen backt, mischen wir den Dip aus 150 Gramm Crème fraîche, 250 Gramm
       Joghurt und circa 20 Gramm sehr fein geschnittener Wurzeln vom
       Zackenschötchen. Für den optimalen Kick an Frische und Schärfe empfiehlt es
       sich, vorher zu testen, wie stark die geernteten Wurzeln nach Rettich
       schmecken und dann zu entscheiden, wie viele man dafür verwenden will.
       
       Anklang findet der Bunias-Dip, wie ich ihn nach Bunias orientalis nenne,
       auch bei unseren Gästen. Der unbekannte Name verspricht Neues. Sie
       probieren unvoreingenommen, später erzähle ich, von welcher neuen Pflanze
       der Dip seinen Geschmack hat. Vom Neophyten? Machen wir doch das Beste
       daraus! [5][Essen wir ihn einfach auf].
       
       28 May 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Gunhild Seyfert
       
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