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       # taz.de -- Fokus auf Gazakrieg: Solidarität heißt: sich den eigenen Abgründen stellen
       
       > Der Nahost-Konflikt wird zu eindimensional dargestellt, kritisiert unsere
       > Kolumnistin. Oft ist er Bühne für moralische Selbsterhöhung.
       
   IMG Bild: Die Grenze zwischen Israel und Gaza, am 19.5.2025
       
       Ein Leitsatz, ein universeller Wunsch lautet: Das Leid muss enden. Für alle
       Konflikte dieser Welt. Für die Ukraine, für Syrien, Kaschmir, den Sudan –
       für die Menschen in Gaza. Für die verschleppten Geiseln. Für Israel.
       
       Und doch kreisen Kommentare und Appelle überproportional um Gaza. Keine
       neue Erscheinung. Wer die deutschen Debattenbeiträge der letzten Wochen
       liest, den Tonfall, die Pathosformeln, die moralische Selbstgewissheit,
       spürt: Hier wird mehr verhandelt als ein Krieg. Es ist auch Entlastung. Es
       ist das gute Gefühl, endlich auf der richtigen Seite zu stehen.
       
       Die Lage in Gaza ist desaströs. Hunderttausende hungern, fliehen, trauern.
       Die Zerstörung, die Unmöglichkeit eines normalen Lebens – katastrophal. Da
       gibt es kein Aber. Die in [1][Teilen rechtsextreme israelische Regierung]
       unter Benjamin Netanjahu trägt Verantwortung. Sie sollte keine Zeit
       verlieren, dem ein Ende zu bereiten. Die Hamas darf hier aber nicht
       vergessen werden. Um den Krieg zu beenden, könnte sie jederzeit
       kapitulieren, endlich die Geiseln freilassen, ihre Bevölkerung erlösen.
       Stattdessen führt sie ihren blutigen Terror weiter. Mit realen
       Menschenleben als Spielball.
       
       Währenddessen klopfen sich Kommentatoren und Social-Media-Aktivisten auf
       die Schulter. Der Konflikt wird eindimensional dargestellt – als Bühne für
       moralische Selbsterhöhung. Umso wichtiger, einen Schritt zurückzutreten:
       Warum gerade hier so leidenschaftlich?
       
       ## Abwehr von Schuld
       
       Es ist möglich, mehrere Dinge zugleich zu besprechen: Kriegsführung,
       Forderungen, Kritik – und das Bedürfnis dahinter. Wer mit moralischem
       Anspruch spricht, muss auch den Ort reflektieren, von dem aus gesprochen
       wird.
       
       In einer Zeit, in der [2][um Antisemitismusdefinitionen gestritten] wird,
       ist die Frage „Wozu Antisemitismus?“ produktiver. Die Psychoanalytikerin
       [3][Ilka Quindeau] beschreibt Antisemitismus als unbewusstes
       Entledigungsmanöver: Er dient der Abwehr von Schuld. Auch das
       Schuldbekenntnis kann instrumentalisiert werden, zur moralischen
       Selbstinszenierung.
       
       Diese Dynamik ist präsent, wird aber verdrängt. Sie heißt dann
       „Israelkritik“, „Humanismus“, „Moral“. Der Vorwurf, Solidarität sei bloß
       ein Schuldreflex, [4][wie Josep Borrell, Ex-Außenbeauftragter der EU,
       formulierte,] verschiebt die Perspektive. Es entsteht der Eindruck, der
       Holocaust habe seine Schuldigkeit getan. Dass Erinnerung heute verdächtig
       sei. Ein gefährlicher Gedanke. Es ist eine dialektische Umkehrung:
       Nachfahren der Täter fühlen sich ermächtigt, dem jüdischen Staat Lektionen
       zu erteilen. Die Lehre aus Auschwitz lautet plötzlich: Gerade deshalb
       müssen wir Israel kritisieren. Ein moralisch bequemes, politisch
       folgenreiches Paradoxon.
       
       Dazu passt der Umgang mit [5][Margot Friedländers Tod]. Sie wird zu Recht
       geehrt, ihre humanistischen Forderungen, die sie aus ihrer Erfahrung als
       NS-Überlebende ableitete, leider aber von manchen umgedeutet – als
       parteinehmender Kommentar zum Krieg in Gaza. Dabei war sie eine
       versöhnliche Jüdin, sprach über Empathie, Bildung, Menschlichkeit. Sie war
       anschlussfähig – für ein Land, das sich nach Erlösung sehnt. Ihr „Nie
       wieder“ war ein Angebot. Bei anderen ist es oft ein Selbstlob.
       
       ## Wie man Antisemitismus produktiv kritisiert
       
       Was Friedländer nie laut sagte, aber vielleicht dachte: Wahre Solidarität
       mit Juden heißt, sich den eigenen Abgründen zu stellen – auch den
       unbewussten. Quindeau schreibt, nur [6][durch Selbstreflexion] lässt sich
       Antisemitismus produktiv kritisieren. Nicht durch Posts. Nicht durch
       Essays. Und nicht durch einen belehrenden Gestus gegenüber einem Land, das
       um sein Überleben kämpft.
       
       Vielleicht ist es an der Zeit, Kritik an Israel nicht nur auf moralische
       Richtigkeit zu prüfen, sondern auch auf ihre Motivation. Wer meint, aus der
       Geschichte gelernt zu haben, sollte nicht zuerst Israel befragen – sondern
       sich selbst.
       
       23 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Menschenrechtspolitiker-kritisiert-die-israelische-Kriegsfuehrung-und-die-neue-Regierung/!6088016
   DIR [2] /Antisemitismus-Streit-der-Linken/!6084475
   DIR [3] /Adorno-Vorlesungen-von-Ilka-Quindeau/!5945851
   DIR [4] https://www.socialeurope.eu/gazas-descent-into-catastrophe-tests-europes-conscience
   DIR [5] /Trauerfeier-fuer-Margot-Friedlaender/!6084779
   DIR [6] /Zeit-fuer-Selbstreflexion/!5987379
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erica Zingher
       
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