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       # taz.de -- Filmfestspiele in Cannes: Das Knacken durch die Generationen
       
       > Die deutsche Regisseurin Mascha Schilinski überrascht mit „In die Sonne
       > schauen“. Sergei Loznitsa rechnet in „Zwei Staatsanwälte“ mit Stalinismus
       > ab.
       
   IMG Bild: Die junge Alma (Hanna Heckt) mit ihrer Familie in „In die Sonne schauen“​
       
       Dass ein Film aus Deutschland in Cannes den Wettbewerb eröffnet, ist eher
       ungewöhnlich. Ohnehin schaffen es hiesige Filmemacher nur selten in die
       Spitzenauswahl des Festivals. Bevorzugt werden dann gestandene Regisseure
       geladen wie [1][Fatih Akin („Aus dem Nichts“, 2017)] und [2][Wim Wenders
       („Perfect Days“, 2023)]. Regisseurinnen sind in Cannes dabei traditionell
       in der Minderheit, die letzte deutsche Regisseurin mit Chancen auf eine
       [3][Goldene Palme war 2016 Maren Ade mit „Toni Erdmann“].
       
       Jetzt hatte die gebürtige Berliner Regisseurin Mascha Schilinski mit „In
       die Sonne schauen“ die erste Wettbewerbspremiere an der Croisette. Es ist
       erst ihr zweiter Spielfilm nach „Die Tochter“, der 2017 auf der Berlinale
       in der inzwischen eingestellten Nebenreihe „Perspektive deutsches Kino“
       lief.
       
       „In die Sonne schauen“, der in Cannes unter dem internationalen Titel
       „Sound of Falling“ gezeigt wurde, hat eine eigene, recht anspruchsvolle
       Handschrift, der es weniger um Unterhaltung als um einen konzentrierten
       Dialog mit dem Publikum geht.
       
       ## Von Platt bis Hochdeutsch
       
       Auf vier Zeitebenen, vom frühen 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart,
       [4][erzählt Schilinski vom Leben einer Familie auf einem Bauernhof in der
       Altmark.] Sie rückt stets eine weibliche Figur ins Zentrum des Geschehens,
       lässt einige von ihnen aus dem Off über den rauen, von vielen Entbehrungen
       geprägten Alltag berichten. Dabei wechselt die Sprache durch die Zeit
       hindurch von trockenem Platt zu Hochdeutsch, einige Figuren sprechen auch
       überhaupt nicht, doch stets ist der Ton eine entscheidende Ebene für
       Schilinskis Geschichte.
       
       Die oft dräuenden Brumm-, Knack- oder Säuselgeräusche schlagen Verbindungen
       zwischen den Generationen, unter denen Schilinski fast übergangslos hin-
       und herwechselt. Einzelne Erfahrungen werden dabei „vererbt“, tauchen wie
       in einem Traum als Motiv zu einem späteren Zeitpunkt in einem anderen
       Zusammenhang wieder auf.
       
       Gestorben wird häufig in diesem Film, Frauen erleben Gewalt oder
       Unterdrückung, das Licht dazu ist meist gedämpft oder gebrochen, manche
       Bilder sind leicht verschwommen gefilmt. Schilinski verlangt dem Publikum
       einiges ab, belohnt dessen Bereitschaft aber mit einer unwirklich
       driftenden Inszenierung, in der selbst die ländliche Enge eine eigene
       Poesie entwickelt und sogar Magie ihren Platz hat. Ein wunderbarer Auftakt.
       
       ## Hochphase des Terrors in der UdSSR
       
       [5][Einen ästhetischen Kontrast bietet der ukrainische Regisseur Sergei
       Loznitsa] mit seinem ebenfalls im Wettbewerb laufenden Spielfilm „Zwei
       Staatsanwälte“ nach dem gleichnamigen Roman von Georgi Demidow. Geradlinig
       erzählt, begleitet Loznitsa in streng abgezirkelten kalten Bildern den
       jungen Staatsanwalt Alexander Kornev (Alexander Kusnezow) im Jahr 1937
       während der Hochphase des stalinistischen Terrors bei seinen Ermittlungen
       zu einem Gefängnisinsassen. Dessen Hilferuf aus der Zelle hatte ihn
       heimlich erreicht.
       
       Loznitsa führt die Willkür der Terrorherrschaft als absurden
       Bürokratieapparat vor, lässt den aufrechten Kornev stundenlang im Gefängnis
       darauf warten, zu dem Gefangenen vorgelassen zu werden. Danach geleiten ihn
       die Aufseher durch endlose Gefängnistrakte, von einer Gittertür zur
       nächsten, vorbei an massigen Wärtern, die ihn kaum vorbeilassen wollen.
       
       Das Ende der Geschichte für Kornev ist bald absehbar, doch die
       unerbittliche Ausweglosigkeit des paranoiden Verfolgungssystems des
       Stalinismus, die Loznitsa vorführt, ist zugleich eindringliches Plädoyer
       für den Erhalt von Demokratie und funktionierender Justiz.
       
       15 May 2025
       
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