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       # taz.de -- Rockmusik zu DDR-Zeiten: Der Klassenfeind reichte Schnaps und Zigaretten
       
       > Mit dem Schlauchboot über die Ostsee: In der Gedenkstätte Berliner Mauer
       > teilten die Musiker Eberhard Klunker und Dietrich Kessler Erinnerungen
       > aus der DDR.
       
   IMG Bild: Musik machen sie weiterhin: Dietrich Kessler am Saxofon und Eberhard Klunker an der Gitarre
       
       12. September 1975, Dahme, Schleswig-Holstein: Die Spätsommer-Gäste an der
       Lübecker Bucht werden nicht schlecht gestaunt haben, als ein Schlauchboot
       mit zwei Mann Besatzung auf den Strand zuhielt. Das Bootsmodell war kein
       geläufiges und sollte sich als aus tschechischer Produktion herausstellen.
       Dem Ruderer bluteten die Hände, er und der Navigator waren am Ende.
       
       Die ihnen Trainingsanzüge, Schnaps und Zigaretten reichten, wussten in dem
       Moment nicht, dass sie zwei Musiker aus der DDR vor sich hatten: Eberhard
       Klunker, Gitarre, und Olaf Wegener, Schlagzeug, haben noch im Mai in den
       [1][Ostberliner Nalepa-Studios] mit der Hansi Biebl Band fünf
       Bluesrock-Stücke aufgenommen. Eigentlich sollten sie an diesem Morgen auf
       Tour gehen. Stattdessen landeten sie beim Klassenfeind, der sich als
       freundlich und hilfsbereit entpuppte.
       
       Ein halbes Jahrhundert später kann Klunker darüber im Plauderton erzählen.
       Er, sein Kollege Dietrich Kessler und Moderator Hartmut Rüffert, Kenner der
       DDR-Rockmusik, bestreiten den Dienstagabend in der Gedenkstätte Berliner
       Mauer in der Bernauer Straße. Der Beton- und Roststahlbau liegt zwei
       Handvoll Wegminuten vom BND-Komplex an der Chausseestraße.
       
       Das Ambiente und die Beleuchtung lassen eher an das Wartezimmer des
       Jobcenters denn eine Rockbühne denken. In der Pause wird Mineralwasser
       gereicht werden. Klunker erinnert sich, was ihn und Wegener aus der DDR
       getrieben hat. Immerhin war er mit dabei, als die [2][Klaus Lenz Modern
       Soul Big Band] 1973 im Hygienemuseum Dresden eine der besten Platten des
       staatlichen DDR-Labels Amiga live eingespielt hatte. Modern Soul, der Name
       war Programm.
       
       ## Wehrdienstverweigerer ohne Karriereaussicht
       
       Es half nichts, Klunker konnte und wollte nicht in den DDR-Betrieb, der
       über das Fabriktor hinausging, passen. Als Spatensoldat hatte der
       Wehrdienstverweigerer einer anständigen Karriere bereits ein Grab
       geschaufelt. Die Idee zu der lebensgefährlichen Flucht über das Meer war
       ihm und Wegener gekommen, als sie auf einer Bootstour über den Zeesener See
       in Turbulenzen geraten waren.
       
       Wenn wir das überstehen, schaffen wir noch mehr, hatten sie sich in
       jugendlichem Überschwang gesagt. Dass die Ostsee zwar ein Binnenmeer, aber
       kein Brandenburger Binnensee ist, sollten sie herausfinden. Sie haben es
       geschafft, viele andere nicht, betont Eberhard Klunker.
       
       Der ihm die Haftuniform verpasste, hatte auf der Ostsee die Tochter
       verloren, erinnert sich Dietrich Kessler. Der Saxofonist und Komponist
       hatte 20 Monate in der DDR gesessen, bevor er von der Bundesrepublik
       freigekauft wurde. Seine Hardrock-Band Magdeburg hatte kollektiv einen
       Ausreiseantrag gestellt. Vier Singles und ein Album konnten den Nervenkrieg
       mit den Behörden nicht aufwiegen.
       
       ## Schreiben im DDR-Knast
       
       Der Name Magdeburg war ein zähneknirschendes Zugeständnis: Eigentlich hatte
       Kesslers Band Klosterbrüder geheißen. In dem [3][Grundlagenwerk „Beat in
       der Grauzone“] verortet der Rockhistoriker Michael Rauhut sie, die in
       Mönchskutten auftraten und deren Sänger schon mal einem Sarg entsprang,
       „zwischen artifizieller Wertarbeit und urwüchsiger Kraft“. Die gibt es, als
       Kessler und Klunker, bis heute als Musiker aktiv, selbst zu den
       Instrumenten greifen und Bob Dylans „All Along The Watchtower“ spielen, in
       der Version mit dem freidrehenden Mittelteil von Jimi Hendrix.
       
       Die 1975er Aufnahmen von Eberhard Klunker und Olaf Wegener mit der Hansi
       Biebl Band wurden nach der spektakulären Ostseeflucht ins Archiv verbannt.
       2009 sind sie auf LP erschienen. Dietrich Kessler hat sein DDR-Kapitel in
       dem Band „Stasi-Knast“ aufgeschrieben und ist Verleger geworden. Ein Stück
       noch auf der Akustikgitarre und dem Saxofon, dann kommt Wein auf den Tisch.
       
       6 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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