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       # taz.de -- 76 Jahre Grundgesetz: Es bleibt sich nicht gleich
       
       > Auch nach 76 Jahren Grundgesetz kann von einer demokratischen und
       > rassismusfreien Politik für alle leider immer noch keine Rede sein.
       
   IMG Bild: In der R-Frage muss das Grundgesetz unter die Lupe
       
       Auch zum Tag des Grundgesetzes werden seitens der Politik gerne Reden
       gehalten, vollständig realisiert wurde eine demokratische Staatspolitik in
       all den Jahrzehnten seit Gründung der BRD jedoch nicht. Seit jeher tragen
       Staatsorgane zur Verwirklichung der Grundrechtsgarantien kaum etwas bei,
       und eine durch demokratische Werte geprägte Haltung wurde der Bevölkerung
       nie vorgelebt.
       
       Dies erklärt auch, warum eine Partei, die vom Verfassungsschutz in weiten
       Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde, bei der Bundestagswahl
       zweitstärkste Kraft geworden ist. Stärker ist nur die CDU/CSU, die sich auf
       der Zielgeraden der Bundestagswahl auch mit rechtspopulistischen Aussagen
       profiliert hat. Die Zustimmung zu einer völkischen Politik liegt damit
       aktuell bei über 50 Prozent. Im kurzfristigen Denken innerhalb von
       Legislaturperioden, ständig bemüht, die eigenen Privilegien und die der
       Parteiklientel zu bewahren, ergreifen Entscheidungsträger:innen nie
       bestimmende Maßnahmen zur Stärkung unserer Demokratie. Eine von
       demokratischen Werten geleitete Politik wird bis heute immer nur dann
       umgesetzt, wenn sie die weiße Vorherrschaft nicht infrage stellt. Im
       Resultat hat sich ein allgemeines Demokratieverständnis etabliert, wonach
       sich Minderheitenschutz und Diskriminierungsverbot problemlos durch die
       Meinungsfreiheit ausklammern lassen.
       
       Dies zeigt sich überall. Schon in der Kita. Sobald die Kinder beginnen zu
       malen, wird ihnen beigebracht, dass [1][ausschließlich rosa-beige Stifte
       als „Hautfarbenstifte“] zu bezeichnen sind. Im Grundschulunterricht wird
       vollkommen unkritisch das I-Wort samt allen damit verbundenen
       klischeehaften Erzählungen reproduziert. Noch heute gehören
       diskriminierende Kinderlieder wie „A Ram Sam Sam“ zum [2][Repertoire in der
       frühkindlichen Musikerziehung], und rassistische Narrative werden auch
       durch entsprechende Märchen, Geschichten und Theateraufführungen an die
       Kleinsten weitergegeben. Eine rassismuskritische
       Lehrer:innenausbildung ist bis heute nicht verpflichtend,
       Rahmenbedingungen zur Bildung einer etablierten gesellschaftlichen
       Rassismussensibilität wurden bislang leider nicht geschaffen. Im Gegenteil,
       ein großer Teil der Bevölkerung will sich nicht von den stereotypen
       Vorstellungen verabschieden, mit denen seine liebgewonnenen
       Kindheitserinnerungen verbunden sind.
       
       Falsche Glaubenssätze von weißer Überlegenheit wurden nie aufgelöst, und
       notwendige Maßnahmen, um Veränderungen nachhaltig durchzusetzen, wurden
       stets unter Hinweis auf wichtigere Themen zurückgehalten. Ein Ergebnis der
       allgegenwärtigen Leugnung von Rassismus bei gleichzeitiger
       Bildungsverweigerung zeigt eine Studie des DeZIM-Instituts aus dem Jahre
       2022. Sie zeigt auf, dass noch heute die Hälfte aller Befragten an die
       Existenz von Menschenrassen glaubt. Bei den über 65-Jährigen sind es sogar
       61 Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung findet, dass [3][Rassismusvorwürfe
       und „politische Korrektheit“ die Meinungsfreiheit einschränken] würden.
       
       ## M-Wort
       
       Kaum jemand stört sich daran, dass immer noch unzählige Apotheken, Straßen,
       Cafés, Restaurants, Süßspeisen und sogar Volksfeste das M-Wort im Namen
       tragen. Die Weiterverwendung dieses meist als veraltet gelesenen Begriffs
       wird als eine „erhaltenswerte deutsche Tradition“ sogar kämpferisch
       verteidigt.
       
       Als sich im Frühjahr 2022 eine Schülerin in Offenbach weigerte, [4][das
       N-Wort] unverschleiert vorzulesen, stellte sich die gesamte Lehrerschaft
       samt Leitung der „Schule ohne Rassismus“(!) mit großem Unverständnis gegen
       die Schülerin. Erst zu Beginn des Jahrs 2023 wurde der Roman „Tauben im
       Gras“ aus dem Jahr 1951 mit vielfacher Reproduktion des N-Worts als
       Pflichtlektüre für die Abiprüfung in Baden-Württemberg eingeführt, und
       sämtliche Kritik an dieser Entscheidung lief ins Leere. Selbst als eine
       Ulmer Lehrerin aus diesem Grund ihren Dienst quittierte, bewog das die
       Verantwortlichen nicht zum Umdenken. Auch als [5][Gregor Gysi] im September
       2023 mit einer schockierenden Selbstverständlichkeit das N-Wort zur besten
       Sendezeit in der Talkshow „Markus Lanz“ droppte, blieben ein spürbarer
       Protest und eine angemessene Entschuldigung von Gysi aus.
       
       Dies sind nur wenige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit,
       vergleichbare Fälle sind an der Tagesordnung. Das Bundesverfassungsgericht
       bezeichnet den Schutz der Menschenwürde zwar als den „obersten
       Verfassungswert“. Marginalisierte Menschen werden jedoch nicht mitgedacht,
       und Rassismus wird kurzerhand zu einer die Freiheit einschränkenden
       abwegigen Meinung erklärt. So werden Grundrechte beliebig (um)interpretiert
       und gegeneinander ausgehebelt, Staatsorgane bedienen sich aus dem
       Grundrechtskatalog wie aus einem Supermarktregal. Die Freiheit, alles sagen
       und machen zu dürfen, steht auf der Beliebtheitsskala unangefochten auf dem
       ersten Platz, und die Gleichheitsgarantie wird als unverwirklichter
       Ladenhüter wohl bald gänzlich aus dem Sortiment gestrichen. Diese Art von
       gelebter Demokratie hat in den letzten Jahrzehnten in der Bevölkerung für
       ein Demokratieverständnis gesorgt, wonach rechtsextreme Politik als
       demokratische Politik angesehen wird, sobald sie bei demokratischen Wahlen
       einen größeren Zustimmungswert erreicht.
       
       Am 23. Mai, genau drei Monate nach der Bundestagswahl, wurde das
       Grundgesetz 76 Jahre alt. Seit fast acht Jahrzehnten wird Energie dafür
       aufgewandt, Deutungshoheiten über Grund- und Menschenrechte
       aufrechtzuerhalten, anstatt daran zu arbeiten, die Grundrechtsgarantien für
       alle zu verwirklichen. Die aktuelle politische Situation mögen viele als
       Zeitenwende empfinden, in Wirklichkeit erleben wir eine Zuspitzung der
       schon immer vorherrschenden Situation. Die AfD ist kein Auslöser einer
       neuen Bewegung, sie ist der Katalysator einer Ideologie vom Herrenmenschen,
       die nie bekämpft, sondern toleriert wurde.
       
       2 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.sueddeutsche.de/leben/hautfarbe-buntstifte-ausgrenzung-1.4943212?reduced=true
   DIR [2] https://www.kreiszeitung.de/deutschland/oder-rassismus-diese-neun-lieder-sind-nicht-fuer-kinder-zeitgemaess-gewalt-92177145.html
   DIR [3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1307637/umfrage/einordnung-von-rassismusvorwuerfen/
   DIR [4] https://www.fr.de/politik/rassismusstreit-an-schule-in-offenbach-eine-chance-zum-dazulernen-91446637.html
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=mRs2kzL6RD4
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Hunstock
       
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