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       # taz.de -- Nachhaltigkeit in der Nordsee-Fischerei: Für Seelachs gibt’s kein Siegel mehr
       
       > Nordsee-Seelachs gibt es nicht mehr nachhaltig. Das hat der
       > Nachhaltigkeits-Zertifizierer MSC festgestellt und entzieht Fischereien
       > die Belobigung.
       
   IMG Bild: Garantiert nicht nachhaltig: Ein britischer Nordsee-Fischer hat Seelachs mit dem Schleppnetz gefangen
       
       Osnabrück taz | Wer Fisch aus Meereswildfang isst und dabei auf
       Nachhaltigkeit achtet, kennt das blaue Siegel des Zertifizierungsprogramms
       [1][Marine Stewardship Council (MSC)]. Auch Fänge von Nordsee-Seelachs
       tragen es. 45.000 Tonnen des Fisches werden pro Jahr von Schiffen aus
       Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Schottland, Frankreich und den
       Niederlanden gefangen.
       
       Zu dieser Fischart, die zwar Lachs genannt wird, aber zur Familie der
       Dorsche gehört, hat der MSC jüngst eine folgenreiche Entscheidung
       getroffen, die am 30. Juni in Kraft tritt: Fischereien, die
       Nordsee-Seelachs fangen, verlieren das Nachhaltigkeitssiegel. Grund für den
       Verlust des Siegels sei laut einer Erklärung des MSC vom Montag eine
       „veränderte wissenschaftliche Bestandsbewertung durch den
       [2][Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES)], wonach die
       Bestandssituation des Nordsee-Seelachs nicht mehr im grünen Bereich liegt“.
       
       „Nach dem MSC-Umweltstandard dürfen Fischbestände nur so stark befischt
       werden, dass sie eine gesunde Größe behalten oder in ihrer Regeneration
       nicht beeinträchtigt werden“, so Kathrin Runge, MSC-Programm-Managerin für
       den deutschsprachigen Raum. Neue wissenschaftliche Daten zeigten, dass dies
       beim Nordsee-Seelachs nicht sichergestellt sei.
       
       ## Uneinige Gutachter
       
       Die Frage ist nur: Was heißt hier „neu“? „Der genaue Vorgang ist unklar“,
       sagt Christoph Stransky, stellvertretender Leiter des Instituts für
       Seefischerei des Bundesforschungsinstituts Thünen, der taz. „Unter welchen
       Umständen das MSC-Siegel abgegeben wurde, ist uns nicht bekannt.“ Die
       Zahlen des ICES lägen für dieses Jahr noch nicht vor, „das erfolgt erst am
       27. Juni.“ Hilfreich sei eine solche Verfrühung „nicht unbedingt, falls in
       ein paar Wochen die Empfehlung doch anders ausfällt als aktuell erwartet.“
       
       Andrea Harmsen, Sprecherin von MSC, ist bewusst, dass es „ein bisschen
       unglücklich“ ist, nicht bis zum 27. Juni gewartet zu haben. Sie räumt ein,
       dass der ICES-Advice, auf den der MSC mit seiner Siegel-Suspendierung
       reagiert, schon ein Jahr alt ist.
       
       Grund für die Verzögerung sei eine Uneinigkeit der Gutachter. „Eine
       Gutachterfirma, die den Fischbestand für die deutsche Seite der
       Seelachs-Fischerei bewertet hat, hat gegen eine Suspendierung votiert, eine
       andere, für die anderen Länder, dafür.“ Bei einem Dissens sei die
       MSC-Regel, „dass das kritischere Votum gilt“.
       
       ## Fangquoten nicht ausgenutzt
       
       Besonders hart trifft das das Fischereiunternehmen „Kutterfisch-Zentrale“
       aus Cuxhaven, das fast den gesamten deutschen Seelachsfang anlandet und, so
       Runge, „ein Vorbild in Sachen Nachhaltigkeit“ ist.
       
       Kai-Arne Schmidt, Geschäftsführer von Kutterfisch, ist tief frustriert:
       „Der Fischereidruck auf Seelachs wurde in der Nordsee offenbar minimalst
       überschritten, kaum messbar“, sagt er der taz. „Aber nicht von uns, wir
       haben unsere Fangquoten gar nicht voll ausgenutzt. Unser Gutachter hat uns
       attestiert, dass wir alles richtig machen. Und dann fährt offenbar
       irgendjemand anderes über Rot, und auch dir entziehen sie den
       Führerschein.“
       
       Wie es jetzt weitergeht? „Wir fischen so nachhaltig weiter wie bisher“,
       sagt er. „Nur jetzt eben ohne Siegel.“ Der Verlust von Marktzugängen und
       Umsatz droht. Kutterfisch hat noch andere MSC-Siegel, etwa für Schellfisch
       und Seehecht. „Aber wer sagt mir denn“, schüttelt Schmidt den Kopf, „dass
       ich diese Siegel nicht auch verliere, weil jemand anderes Mist baut?“
       Schmidt schließt nicht aus, dass dabei „Schiffe über die Klinge springen“.
       
       ## Überfischung, Beifang und Lebensraumzerstörung
       
       Christopher Zimmermann, Leiter des Thünen-Instituts für Ostseefischerei,
       Mitarbeiter des ICES und lange Jahre bei MSC, bestätigt der taz, dass sich
       die beiden Zertifizierer nicht einig geworden seien, „ob die marginale
       Überschreitung der Zielsterblichkeit wirklich eine Suspendierung
       rechtfertigt“.
       
       Aber: „Fischerei und Politik haben hier nichts falsch gemacht“, sagt er.
       Das Problem liege bei der Wissenschaft. Grund der Überschreitung sei eine
       „Absenkung der Referenzpunkte in einem Benchmark des ICES im Frühjahr
       2024“. Hier hatte dies zur Folge, „dass der Fischereidruck minimal über dem
       neuen, niedrigeren Referenzpunkt lag“. Ist also überhaupt jemand über Rot
       gefahren?
       
       „Auch zertifizierte Fischprodukte sind kein Freifahrtschein für
       Nachhaltigkeit“, sagt Franziska Saalmann, Meeresbiologin und
       [3][Fachkampagnerin Meere bei Greenpeace Deutschland], zur taz. „Vor allem
       das MSC-Siegel ist zu Recht umstritten: Fast jedes Produkt von Meerestieren
       im Supermarkt trägt es inzwischen – dabei werden auch hier Überfischung,
       Beifang und Lebensraumzerstörung in Kauf genommen. Zudem werden die
       EU-Fangquoten oft viel zu hoch angesetzt und ziehen weitere Gefährdungen
       wie die Meereserhitzung und Verschmutzung nicht genug zu Rate.“ Der
       nachhaltigste Fisch sei „der, der gar nicht erst gefangen und gegessen
       wird“.
       
       3 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Harff-Peter Schönherr
       
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