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       # taz.de -- Genderbacklash in Cannes: Es geht auch sanft aggressiv
       
       > Die 78. Filmfestspiele von Cannes boten viele Filme von Regisseurinnen –
       > und keinen roten Teppich für Leute, denen man sexuelle Übergriffe
       > anlastet.
       
   IMG Bild: Ein besserer Vater als Dieb: James Blaine „JB“ Mooney (Josh O’Connor) in Kelly Reichardts Film „The Mastermind“
       
       Zweifelt jemand daran, dass wir uns in einem Genderbacklash befinden?
       Politisch befeuert vom „starken Mann“ an diversen Staatsspitzen,
       gesellschaftlich gespiegelt in Phänomenen wie dem „MAGA-Look“
       (republikanische Hyperbarbies mit „Utah-Curls“ und Fischmund) oder dem
       Tiktok-Trend der „Tradwifes“ (junge Frauen, die sich benehmen wie Figuren
       aus einem 50er-Jahre-Dr. Oetker-Werbeclip), kulturell aufgefangen in
       Serien- und Filmproduktionen, die klischierte Rollenbilder reproduzieren?
       
       Immerhin: Bei den [1][Filmfestspielen von Cannes, die letzte Woche zu Ende
       gingen], sollte das alles anders sein. Das von der filmbranchenintern
       ambivalenten Haltung gegenüber #MeToo gebeutelte Frankreich schien stolz
       auf neue Einsichten. Sogar die gallische Gallionsfigur [2][Gérard Depardieu
       wurde zeitgleich mit dem Beginn des Festivals zu 18 Monaten Haft auf
       Bewährung verurteilt] – zum ersten Mal bezeichnete man den Schauspieler,
       der lange Zeit Stammgast an der Croisette war, somit konkret als
       Sexualstraftäter.
       
       Das Filmfestival von Cannes hatte sich in diesem Jahr auch erstmalig
       öffentlich dazu bekannt, Filmemacher, die im Zusammenhang mit sexuellen
       Übergriffen stehen, nicht auf den roten Teppich zu lassen – diese Regelung
       traf einen der Hauptdarsteller des [3][Wettbewerbfilms „Dossier 137“], der
       wegen Vergewaltigung angeklagt worden war.
       
       ## negatives Beispiel Polanski
       
       Was wohl passiert wäre, hätte Roman Polanski einen Film präsentieren
       wollen? Die Sache ist komplex: 2020 kam es zu massiven Protesten und
       Demonstrationen um die Ehrung Polanskis mit dem César-Regie-Award, den
       nationalen französischen Filmpreis. Erst fünf Jahre später hat die
       französische Akademie sich zur Ächtung und zum Ausschluss von
       Sexualstraftätern bekannt.
       
       Die Akten zu Polanski sind länger als all seine Drehbücher zusammen, doch
       es gibt keine aktuelle Anklage, weil der Regisseur 1977 bei der ersten
       Klage vor der Verhandlung geflohen war, nachdem er sich zu der Tat bekannt
       hatte. Mittlerweile hat das Opfer von damals die Klage fallengelassen und
       möchte keine weitere Verfolgung, aktuellere Vorwürfe vieler anderer Frauen
       sind bislang nicht rechtsgültig.
       
       Im August wird Polanski 92 Jahre alt – er wird es, egal was er künstlerisch
       noch liefert, vermutlich nicht mehr erleben, dass jemand ausschließlich
       über sein zweifelsfrei beeindruckendes und außergewöhnliches Regietalent
       spricht. Denn das wird – und soll – niemand tun.
       
       ## Mehr Frauengeschichten
       
       Bei den Filmfestspielen von Cannes haute zwar Ethan Hunt (alias Tom Cruise)
       in gewohnter Actionmanier die Welt ohne Betäubung aus sämtlichen misslichen
       Lagen heraus und missachtete dabei, typisch Mann, den Schmerz im eigenen
       Körper. Doch in diesem Jahr wurden sieben der 22 Wettbewerbsfilme von
       Frauen inszeniert.
       
       Einige von ihnen erzählen darüber hinaus „Frauengeschichten“ – Topoi, die
       einen zwingenden Bezug zum Geschlecht ihrer Protagonist:innen haben,
       darunter die deutsche Gewinnerin des Jury-Preises Mascha Schilinski mit
       ihrer somnambul-assoziativen Traumata-Bewältigungssaga, sowie [4][Lynne
       Ramsay, die in „Die, My Love“] ihren Hauptcharakter auf
       Selbstzerstörungstrip durch eine postnatale Depression schickte. Können
       solche Filme das Bewusstsein für genderbedingte Unterschiede schärfen –
       oder zementieren sie die Unterschiede vielleicht sogar?
       
       Die US-Regisseurin Kelly Reichardt hat einen subtileren Weg gewählt, um
       einem Backlash entgegenzuwirken: Ihre Filme, so auch ihr neues in Cannes
       präsentiertes Werk „The Mastermind“, wimmeln von Männerfiguren, die sich
       gegen klischierte Verhaltensmuster stellen, die sanft statt aggressiv sind,
       und die den Frauen um sie herum damit gar keinen Grund geben, sich
       enttäuscht oder ängstlich von ihnen abzuwenden.
       
       In „The Mastermind“ verschusselt ein Kunstliebhaber einen Kunstraub. Er ist
       nämlich eigentlich ein besserer Vater als Dieb. Ein solch „schwacher“ Mann,
       dem die Herzen tonnenweise zufliegen, gibt garantiert das beste Antidot
       gegen den Genderbacklash mit seinen vermeintlich „starken“ Männern ab.
       
       30 May 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jenni Zylka
       
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