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       # taz.de -- Hundert Jahre Neues Frankfurt: Am Menschen orientiert
       
       > Das Neue Frankfurt setzte Maßstäbe für eine moderne und soziale
       > Gestaltung der Stadt. Ein Blick auf die Mainmetropole und aktuelle
       > Ausstellungen.
       
   IMG Bild: In den 1920ern geplant: Das Fechenheimer Bad (hier auf einer Aufnahme von 1934, bereits nach der Machtergreifung der Nazis)
       
       Vor 100 Jahren präsentierte das Neue Frankfurt, was man heute allerorten
       ersehnt: einen großen Wurf für die zeitgemäße Gestaltung des Stadtraums,
       der seinen BewohnerInnen dienen sollte. Die wirtschaftliche Not war groß,
       der gesellschaftliche Zusammenhalt auf die Probe gestellt.
       
       Entsprechend ambitioniert wurde das Projekt angegangen. Binnen fünf Jahren
       entstanden 12.000 neue Wohnungen, viele davon außerhalb der Innenstadt, in
       praktischer Modulbauweise. „Frankfurt organisierte, finanzierte,
       realisierte die Lösung sozialer Probleme, wie Wohnungsmangel und
       Investitionsstau, auf einem hohen Gestaltungsniveau,“ sagt Grit Weber,
       stellvertretende Direktorin und Kuratorin am Museum Angewandte Kunst, im
       taz-Gespräch.
       
       „Die meisten Gebäude“, so führt Weber weiter aus, „sind bis heute im
       Dienst, und die meisten Menschen wohnen gern in den Wohnungen und Häusern
       von damals, weil die Siedlungen bis heute eine großzügige
       Außenraumgestaltung mit viel Grün und sehr viel Wohnqualität anbieten.“
       
       Das Neue Frankfurt war tatsächlich ein zugleich baukulturelles wie
       künstlerisches und sozialpolitisches Gesamtvorhaben. Selbst die grafische
       Neugestaltung des Stadtwappens gehörte zum Programm. Die Frankfurter Küche,
       Urtyp der modernen Einbauküche, [1][gestaltet von Margarete
       Schütte-Lihotzky], befindet sich längst in der Designsammlung des New
       Yorker MoMa. In der Ernst-May-Siedlung kann man heute noch den
       Einfamilienhaus-Prototyp besichtigen, am Bornheimer Hang die fortwährend
       modern wirkenden Wohnhäuser von vor einem Jahrhundert bestaunen.
       
       ## Alle Lebensbereiche im Blick
       
       Doch gerade in der Omnipräsenz liegt die Gefahr, nur oberflächlich
       hinzublicken. Selbst in der Region mag das Schlagwort „Bauhaus“, das im
       selben Jahr Jubiläum feiert, noch immer einen viel gewichtigeren Klang
       haben. Dabei war das Neue Frankfurt nicht primär eine gestalterische
       Schule, sondern ein umfangreiches Stadtplanungsprojekt, das etliche
       Lebensbereiche umfasste und somit tatsächlich beim Menschen ankam.
       
       Ein Besuch im Museum Angewandte Kunst empfiehlt sich als Einstieg ins
       Jubiläumsjahr. „Was war das neue Frankfurt?“, führt in 16 Fragen kompakt in
       das Stadtplanungsprogramm ein.
       
       Neben Infos zu den Begründern (unter anderem SPD-Oberbürgermeister Ludwig
       Landmann, [2][Stadtbaurat Ernst May]) und weiteren Beteiligten (Max Bromme,
       Margarete Schütte-Lihotzky, aber auch Max Beckmann) lässt sich nachlesen,
       wie das Vorhaben finanziert wurde (durch die damalige Hauszinssteuer),
       welche bedeutsame Rolle die Frauen des Neuen Frankfurt spielten und ob sich
       eine Arbeiterfamilie so eine Wohnung überhaupt leisten konnte (kurze
       Antwort: Jein).
       
       ## „Yes, we care“
       
       Beide Schauen schärfen das Bewusstsein dafür, dass Stadtgestaltung keine
       Frage allein der Ästhetik ist. Dass sich weder Haus noch Kinderwiege aus
       dem Nichts materialisieren. Mit der Ausstellung „Yes, we care. Das Neue
       Frankfurt und die Frage nach dem Gemeinwohl“ wird der Begriff der
       Care-Arbeit auf den Bereich der Stadtgestaltung angewandt. Eine zwingende
       Entscheidung, sagt Kuratorin Weber: „Für mich war der Begriff nie allein im
       häuslichen Bereich wirksam. Das Private ist politisch und Arbeit – darum
       handelt es sich ja bei Care – war und ist gesellschaftspolitisch.“
       
       Das Thema in einem Museum für Angewandte Kunst zu platzieren, begründet sie
       mit dem Aspekt des Social Design. „Also Gestaltungslösungen, die das
       Gemeinwohl in den Blick nehmen und dabei nicht nur materielle Produkte
       hervorbringen, sondern gesellschaftliche Strukturen schaffen:
       Genossenschaften, Projekte, Initiativen, ja sogar Protestgruppen, wenn sie
       das Wohl vieler zum Ziel haben.“
       
       In der Ausstellung wird deutlich, wie groß das Neue Frankfurt schon vor 100
       Jahren gedacht war. Neben Wohnbauten für Familien oder alleinstehende und
       berufstätige Frauen gehörten Einrichtungen für kranke und alte Menschen,
       Spielplätze oder Kulturstätten zum Programm.
       
       Geplant, aber nicht mehr realisiert, wurden zum Beispiel Schwimmbäder, eine
       Kunstschule, die Zentralbibliothek, Wohnheime für Studierende oder
       Gemeinschaftshäuser – eine überraschende Entdeckung auch für die
       Kuratorin. Ebenso, welchen hohen Stellenwert die Pflege- und
       Wohlfahrtstätigkeit gesellschaftlich genoss. Oder auch, auf welch hohem
       professionellen Niveau die jüdische Krankenpflege in den 1920er Jahren in
       Frankfurt gearbeitet hat.
       
       ## Jüdische Persönlichkeiten
       
       Ob es nun einen Zusammenhang zwischen der jüdischen Tradition der Pflege
       von Gemeinsinn und dem Modernisierungsvorhaben des Neuen Frankfurt gegeben
       hat, das fragt aktuell das Jüdische Museum auf der anderen Seite des Mains.
       
       Denn tatsächlich war ein Großteil jener Persönlichkeiten, die das Neue
       Frankfurt initiiert und vorangetrieben haben, jüdisch – unter anderem
       Landmann, May oder der Architekt und Designer Ferdinand Kramer. Dieser
       Umstand wird gewöhnlich allenfalls kurz erwähnt. Das säkulare Judentum war
       ja geradezu unsichtbar geworden, zumindest dem Anschein nach. Mit dem
       Nationalsozialismus sollte sich zeigen, dass ebenjene Säkularisierung oder
       gar Christianisierung keine Rolle mehr spielten für den antisemitischen
       Wahn.
       
       Vor dem Jüdischen Museum begegnet man einigen ProtagonistInnen jetzt in
       Lebensgröße. Pappaufsteller verweisen auf einen Pop-up-Parcours, der sich
       durchs gesamte Haus zieht. Auch Künstlerinnen trugen zum Gesamtprojekt bei
       – wie die Fotografin Ilse Bing oder die Künstlerin Erna Pinner, deren
       fantastische Tierillustrationen man hier schon vor einigen Jahren in der
       Schau „Zurück ins Licht“ entdecken konnte.
       
       Viele ProtagonistInnen des Neuen Frankfurt waren im Exil, gewaltsam
       vertrieben, verfolgt oder gerade rechtzeitig ausgereist. Mit ihnen gingen
       bahnbrechende Ideen – und ein Blick auf das Gemeinwohl, der in dieser Form
       nicht wiederkehren sollte.
       
       ## Raum für Utopien
       
       Im Jubiläumsjahr stehen in Frankfurt noch weitere Ausstellungseröffnungen
       an. Das Deutsche Architekturmuseum wird fantastische Stadtmodelle
       präsentieren. Im Museum Angewandte Kunst geht es im Herbst mit einem
       Jazz-Schwerpunkt weiter, ebenfalls einst Zeichen der Moderne am Main.
       
       Wohnraummangel ist in den Städten derzeit die globale Herausforderung
       schlechthin, neben dem Klimawandel. Im Historischen Museum Frankfurt sollen
       beide Aspekte zusammen betrachtet werden. „Alle Jahre Wohnungsfrage. Vom
       Privatisieren, Sanieren und Protestieren“ nimmt den Abgesang auf die
       Wohngemeinnützigkeit 1990 in dieser Stadt zum Anlass für eine kritische
       Betrachtung ab Mitte Juni, die in einem Stadtlabor auch Raum für konkrete
       Utopien schaffen soll.
       
       Wird der Neubau von Wohnraum, so ökologisch er geplant sein mag, nun aber
       Emissionen, Mangel an Frischluft und Grünflächen nicht zwangsläufig erst
       einmal verschärfen?
       
       „Ja, das ist die Crux“, bestätigt Katharina Böttger, die die Schau
       gemeinsam mit Angelina Schäfer, Noah Nätscher und Tabea Latocha konzipiert
       hat. „Wir wollen mit der Ausstellung einen Diskursraum eröffnen und nicht
       die eine Lösung präsentieren. Erstmal ist es wichtig, mit den
       Bestandsgebäuden, die wir haben, gut umzugehen, sie instand zu halten und
       im Bestand Lösungen für den Siedlungs- beziehungsweise Wohnungsbau von
       morgen zu planen.“
       
       ## Schön, bezahlbar und klimagerecht
       
       Für Angelina Schäfer soll es in dieser Schau ums Ganze gehen: „Wir
       verbinden die Forderungen nach klimagerechtem, bezahlbarem und
       städtebaulich ansprechendem Wohnen mit dem zunehmenden Wunsch nach
       Mitbestimmung und Demokratisierung. Bei einem Großteil der Instrumente geht
       es um politischen Willen.“
       
       Instrumente, dem Wohnraummangel akut zu begegnen, sollen in der Ausstellung
       ebenfalls vorgestellt werden. Es verspricht bei aller Utopie, konkret genug
       zu werden.
       
       Grit Weber kannte das Neue Frankfurt gut. Trotzdem hat sie noch einiges
       während der Vorbereitung auf die Ausstellungen im Museum Angewandte Kunst
       überrascht. Neben den bereits erwähnten Aspekten vor allem dies: „Mit
       welcher Energie und welchem Pragmatismus die soziale Not gemildert werden
       sollte. Von diesem Optimismus könnten wir heute auf jeden Fall mehr
       gebrauchen.“
       
       31 May 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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