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       # taz.de -- Verkehrswende in Berlin-Lichtenberg: Keine Ruhe
       
       > Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung sorgen oft für Kontroversen. In Berlin
       > ist der Streit garantiert. Besichtigung einer Kampfzone im Bezirk
       > Lichtenberg.
       
   IMG Bild: Immer auch ein Ausrufezeichen, das Ärger verursacht: ein Poller
       
       Berlin taz | Renate Müller ist schwer zu bremsen. Für Politik hat sie sich
       ihr Leben lang kaum interessiert.„Bis dieses Scheißding aufgestellt wurde“,
       schimpft die 68-jährige Geschäftsführerin eines Handels mit Motorgeräten im
       Berliner Bezirk Lichtenberg. Das Scheißding – das ist ein rundlicher,
       rot-weiß gestreifter Poller auf der Stadthausstraße unter einer
       S-Bahnbrücke, direkt an der Ein- und Ausfahrt ihres kleinen Betriebs. Und
       er ist Müllers Endgegner. Die energische Händlerin mit Motorsägen,
       Häckslern und Mährobotern sagt bei einem Gespräch in ihrem Geschäft: „Wir
       schieben hier richtig Frust. Der Poller muss weg.“
       
       Aufgestellt wurde der einen Meter hohe Metallpfosten nebst gestreifter
       Absperrbaken links und rechts im Dezember 2023 nach einem
       [1][Mehrheitsbeschluss von Linken, Grünen und SPD im Lichtenberger
       Bezirksparlament]. Der einzige Zweck des Mobiliars: den motorisierten
       Durchgangsverkehr aus dem hinter der Bahnbrücke liegenden Viertel rund um
       die Kaskelstraße herauszuhalten. Das immerhin ist gelungen.
       
       Gelungen ist dem kleinen Ding unter der Brücke allerdings auch, dass sich
       inzwischen nicht nur die Lichtenberger Bezirkspolitik heftig um seine
       Existenzberechtigung streitet. Auch das Berliner Landesparlament durfte
       sich schon mit ihm beschäftigen. Dabei ist er die einzige nennenswerte
       Verkehrsberuhigungsmaßnahme, die in dem von einem CDU-Bürgermeister
       regierten Ostberliner Außenbezirk mit seinen rund 300.000
       Einwohner:innen in den vergangenen Jahren umgesetzt wurde.
       
       In den Grünen-dominierten Innenstadtbezirken Friedrichshain-Kreuzberg oder
       Mitte ist man in dieser Hinsicht bereits wesentlich weiter. Die
       Pollergegner:innen beruhigt das wenig. Sie sehen – eigentlich überall
       in Berlin, aber jetzt auch im einst so autofreundlichen Lichtenberger
       Kaskelkiez – „grünen Verbotsirrsinn“ am Werk.
       
       Der Kaskelkiez ist ein durchsaniertes, kleines Gründerzeitquartier,
       umzingelt von Bahntrassen. Unmittelbar westlich davon beginnt bereits
       Friedrichshain-Kreuzberg, wie dort kommen bei Wahlen die Grünen und die
       Linke zusammen verlässlich auf weit über 50 Prozent. Es gibt einige
       Gewerbetreibende, gerade mal 4.200 Bewohner:innen, extrem hohe Mieten – und
       anders als in den Hauptstraßen drumherum eben kaum Autoverkehr.
       
       Das war bis vor eineinhalb Jahren anders. Tausende Pkw und Lkw rumpelten
       vor der Aufstellung des Pollers Tag für Tag durch die Stadthausstraße und
       weiter durch den Kaskelkiez über Kopfsteinpflaster, um von einer viel
       befahrenen Hauptstraße zur nächsten eine Abkürzung einzulegen. Dann kam der
       Poller. Seither ist Ruhe in der Durchgangsverkehrskiste.
       
       Die Gegner:innen des Pfostens nennen es Totenruhe. Überhaupt sei das mit
       dem massiven Durchgangsverkehr alles übertrieben.
       
       Sicher, den hätte es auch gegeben. „Aber nicht so überbordend, dass es eine
       solch krasse Maßnahme gerechtfertigt hätte“, sagt Janette Menzel. Die
       48-jährige Anwohnerin hat zusammen mit Renate Müller und anderen im
       vergangenen Jahr den Anti-Poller-Verein „Verkehrsberuhigung mit Augenmaß“
       ins Leben gerufen. 15 Mitglieder hat der Verein, rund 30
       Unterstützer:innen, Listen mit über 4.000 Unterschriften gegen den Poller
       haben sie jetzt dem Bezirksbürgermeister in die Hand gedrückt. Janette
       Menzel findet, Bodenschwellen oder Verengungen an den Straßenkreuzungen
       seien weitaus sinnvoller.
       
       Menzel und der Gerätehändlerin Renate Müller geht es vor allem um die
       wenigen Gewerbetreibenden, die der Kiez noch hat. „Meine Firma ist jetzt
       schon fast tot“, sagt Müller. Seit der Einrichtung des Pollers müssten ihre
       Kund:innen Umwege in Kauf nehmen. „Die kommen doch nicht mit dem
       Lastenrad, um hier schwere Geräte abzuholen.“ Aber das interessiere die
       zuständige Stadträtin des Bezirks nicht. „Sie will ja hier mitten in der
       Stadt ein Dorf machen.“
       
       Die so Angesprochene kennt die Vorwürfe. Filiz Keküllüoğlu von den Grünen
       verantwortet den Bereich Umwelt und Verkehr im Rathaus von Lichtenberg seit
       gut zwei Jahren – und sie steht fest hinter der von ihrer Verwaltung
       durchgesetzten Maßnahme. Die Aufenthaltsqualität habe sich merklich
       verbessert, es gebe weniger Lärm und Abgase, die Schulwege seien sicherer
       geworden. „Die Rückmeldungen aus dem Kaskelkiez sind unterschiedlich. Es
       gibt jene, die sich über den reduzierten Durchgangsverkehr sehr freuen.
       Dann gibt es natürlich einige, die sich über den Poller beschweren“, sagt
       Keküllüoğlu. Letztlich seien aber alle Hauseingänge im Kiez weiterhin mit
       dem Auto erreichbar, halt nur nicht mehr über die Stadthausstraße. „Das war
       von Anfang an so und das bleibt so.“
       
       Bezirksstadträtin Keküllüoğlu bekommt gleichwohl von mehreren Seiten
       Gegenwind. Der CDU-Bürgermeister von Lichtenberg gibt sich zwar neutral. Im
       Bezirksparlament geriert sich seine Partei indes als Speerspitze der
       Pollergegner:innen, unterstützt von AfD und der Wagenknecht-Partei
       BSW. Da ist auf der anderen Seite aber auch die
       [2][Bürger:inneninitiative Kaskel-Kiezblock], denen der eine Poller
       nicht weit genug geht. Die Initiative erinnert regelmäßig daran, dass das
       Bezirksparlament ursprünglich ein umfassendes Gesamtkonzept für das Viertel
       beschlossen hatte – einen sogenannten Kiezblock.
       
       Filiz Keküllüoğlu lobt die Initiative. Auf die geforderte „große“
       Verkehrsberuhigung angesprochen, muss sie trotzdem einmal tief durchatmen.
       „Schauen Sie sich doch um“, sagt sie bei einem Spaziergang durch den
       Kaskelkiez. Das Besondere an diesem Viertel sei doch, dass es von allen
       Seiten von Bahntrassen umgeben ist. „Das ist wirklich toll. In anderen
       Kiezen müssten weit mehr Maßnahmen umgesetzt werden, um das zu erreichen,
       was wir hier bereits mit einer einzigen Maßnahme erreicht haben.“ Das
       bestätige ihr auch die Kiezblock-Initiative.
       
       ## Ein Poller ist noch kein Kiezblock
       
       Diagonalsperren, gegenläufige Einbahnstraßen, Spielstraßen, Parklets,
       Blumenkübel: Ein Kiezblock ist tatsächlich mehr als ein einzelner Poller.
       Auch im Lichtenberger Kaskelkiez gibt es ein Parklet. In einer Straße wurde
       zudem eine Einbahnstraßenregelung eingeführt, die aber häufig ignoriert
       wird. Definitorisch streng genommen bleibt die Lösung für das Viertel
       trotzdem zunächst mal nur eine kiezblockartige Anmutung. Was der Aufregung
       darum freilich keinen Abbruch tut.
       
       Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es in Berlin keinen Unterschied mehr
       macht, ob irgendwo ein kleiner Poller aufgestellt wird oder – wie in
       Friedrichshain-Kreuzberg oder Mitte – sehr viel großflächigere Maßnahmen
       gegen den Durchgangsverkehr in Wohnvierteln ergriffen werden. Der große
       öffentliche Theaterdonner um Kiezblocks oder Ähnliches ist inzwischen
       überall stets garantiert.
       
       Schützenhilfe erhalten die Kiezblockgegner:innen von der schwarz-roten
       Berliner Landesregierung, die 2023 das Ruder übernommen hat. Namentlich die
       CDU des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner schießt sich seither ein auf
       die vom Vorgängersenat aus SPD, Grünen und Linken unternommenen zaghaften
       Versuche, den Autoverkehr in der Stadt zurückzudrängen.
       
       Wegners [3][Verkehrssenatorin Ute Bonde], CDU, hat in diesem Sinne jüngst
       per Anordnung ein Kiezblockgroßprojekt im Bezirk Mitte stoppen lassen. „Die
       Entscheidung zur Einstellung dieses konkreten Projektes stellt zugleich
       eine grundsätzliche Entscheidung für zukünftige Projekte dieser Art im
       gesamten Stadtgebiet dar“, ließ ihre Verwaltung zusätzlich wissen.
       
       Das Problem: Berlins zwölf Bezirke mit ihren jeweiligen
       Bezirksbürgermeister:innen, Bezirksstadträt:innen, Bezirksparlamenten
       hängen allesamt am Tropf des Landes, eigene Einnahmen haben sie faktisch
       nicht. Poller sind zwar noch vergleichsweise preiswert und lassen sich
       irgendwie aus den Bezirkshaushalten stemmen. Bei umfassenderen Maßnahmen
       sind die Bezirke aber auf Gelder des Landes Berlin angewiesen. Und von der
       Seite heißt es nun: Ende Gelände. Verkehrswende-Aktivist:innen, [4][Grüne],
       Linke und selbst Teile der mitregierenden SPD laufen seither Sturm in der
       Hauptstadt.
       
       Generell sind die Auseinandersetzungen um Kiezblocks zwar keineswegs eine
       Berliner Besonderheit. So wird in Hamburg um „Superbüttel“ gekämpft, in
       Darmstadt um „Heinerblocks“, in Wien um „Supergrätzl“. Denn umkämpft sind
       Kiezblocks nahezu überall. „Aber in keiner anderen Stadt wird mit so harten
       Bandagen gekämpft wie in Berlin. Das ist schon auffällig“, sagt Uta Bauer
       vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), die sich seit Jahren mit
       Kiezblocks beschäftigt.
       
       „Poller-Murks“, „Poller-Frust“, „Poller-Wut“: Nicht zuletzt die
       Boulevardzeitung B.Z. heizt die Stimmung unablässig an. Kaum eine
       Gelegenheit wird ausgelassen, um gegen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen
       vornehmlich grüner Bezirkspolitiker:innen zu holzen. „Egal, ob
       Verbrenner oder Elektro-Antrieb, die Öko-Partei bekämpft den fahrbaren
       Untersatz mit immer neuen Schikanen“, hieß es zuletzt in einem Kommentar.
       
       Die Berliner CDU wiederum hat sich bei ihrer nicht minder aufgeregten
       Kampagne gegen Poller und Kiezblocks insbesondere einen Aspekt
       herausgepickt: die vermeintliche Behinderung von Rettungs- und
       Sicherheitskräften. Mehrfach gingen in den sozialen Medien kleine Videos
       viral, die zeigten, wie ein Kranken- oder ein Feuerwehrwagen an einem
       rot-weißen Pfosten scheitert.
       
       ## Ideologisch gesetzte Pfosten
       
       Der Kampagne artig folgend, erklärte Verkehrssenatorin Ute Bonde in der
       jüngsten Abgeordnetenhaussitzung, dass ihr natürlich an Verkehrsberuhigung
       in Wohngebieten gelegen sei. Dies aber nur, wenn die „Unversehrtheit von
       Leib und Leben“ garantiert sei. Was ja, so Bonde, in vielen Fällen nicht
       der Fall sei. „Insofern gefährden ideologisch gesetzte Poller Leben.“ Sie
       hätte auch sagen können: Poller sind Mörder.
       
       „Das stimmt doch vorn und hinten nicht“, sagt Uta Bauer vom Difu. Die
       Poller ließen sich in der Regel mit einem Universalschlüssel von den
       Einsatzkräften umklappen. „Das größte Problem für Rettungskräfte und die
       Müllabfuhr sind nachweislich nicht Poller, sondern zugeparkte Straßen,
       insbesondere an Kreuzungen und Einfahrten.“
       
       Dass jegliche Formen der Verkehrsberuhigung derart verbiestert von der
       Hauptstadt-CDU bekämpft werden, hat auch mit ihrem eigenen Versagen zu tun.
       Viele Jahre in der Opposition, war die Partei in die Berliner
       Wiederholungswahl 2023 mit dem Versprechen gezogen, den unter der damals
       regierenden rot-grün-roten Koalition vermeintlich geknechteten
       Autofahrer:innen wieder einen Platz an der Sonne zu verschaffen. „Wir
       lassen uns das Auto auch in Berlin nicht verbieten“, hatte der
       seinerzeitige Oppositionsführer Kai Wegner lauthals verkündet.
       
       Die CDU wurde stärkste Kraft, Wegner Regierungschef und das Auto nicht
       verboten. Nur das Versprechen auf allzeit freie Fahrt wurde nicht
       eingelöst. Im Gegenteil, Berlin ist Stau-Hauptstadt geblieben, viele
       Straßen sind schlaglochlustige Rumpelpisten, [5][die Brücken fallen auch
       zusammen]. Schuld sind aus Sicht der CDU die anderen: die
       Fahrradfahrer:innen, die Straßenbahnen, die Vorgängerregierungen und
       generell die Bezirke mit grünen Stadträt:innen und ihren
       Verkehrsberuhigungskonzepten.
       
       Kann man alles so herunterbeten, wird dadurch aber nicht richtiger, sagt
       Kiezblock-Forscherin Uta Bauer. „Das Problem ist doch, dass wir weiterhin
       einen wachsenden Verkehr sehen. Das System kommt langsam an seine Grenzen.“
       Viel zu viele hielten sich nicht mehr an Regeln, die Stimmung auf Berlins
       Straßen werde zunehmend aggressiver. „Das liegt daran, dass es immer
       weniger Platz für alle Verkehrsarten gibt. Darauf müssten der Regierende
       Bürgermeister und die Verkehrssenatorin mal eine Antwort geben.
       Stattdessen setzen sie auf Populismus.“
       
       Den kleinen Poller auf der Lichtenberger Stadthausstraße können indes auch
       Kai Wegner und Ute Bonde nicht einfach umhauen. Im komplizierten Berliner
       Zuständigkeitswirrwarr ist er eine reine Bezirksangelegenheit. Auch steht
       er bereits.
       
       Zu Fall bringen kann ihn nur eine Mehrheit im Bezirksparlament – und die
       ist aktuell nicht in Sicht.
       
       2 Jun 2025
       
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