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       # taz.de -- Beihilfe zum Suizid: „Es hat sich ausgeschmerzt“
       
       > Der Künstler Martin Schröder-Berlin hat unheilbaren Krebs und leidet nur
       > noch. Er möchte durch assistierten Suizid sterben. Eine Freundin nimmt
       > Abschied.
       
   IMG Bild: Sein letztes Abendmahl: Martin Schröder-Berlin beim Essen mit Freunden einen Tag vor seinem Tod
       
       Noch 44 Tage 
       
       In dem griechischen Lokal ist Martin bekannt. Wir sind hier, weil er meine
       Tochter Benja und mich zum Abendessen eingeladen hat. Ein langer Arbeitstag
       liegt hinter uns. Benja hat Martin und seine Kunst gefilmt, sie arbeitet an
       einem Dokumentarfilm über ihn.
       
       Ich habe Interviews mit ihm geführt. Jetzt haben wir Hunger. Der Chef des
       Lokals, das in Ludwigsburg nahe Stuttgart liegt, gibt einen Ouzo aus und
       stellt Martin ein Bier dazu. Er kennt die Vorlieben seines Gastes.
       
       Was er nicht weiß: Martin ist unheilbar an Krebs erkrankt und wird bald
       sterben. Martin und er liefern sich einen Schlagabtausch, und Martin lacht
       sein lautes, schepperndes Lachen. Dann wird er ernst. Er zeigt auf eine
       lange Tafel, die mitten im Raum steht: „Diese Tische möchte ich für
       Ostermontagabend reservieren“, sagt er. Martin hat genaue Vorstellungen,
       wie der Abend am Ostermontag verlaufen soll. Außer Speisen und Getränken
       sollen auch Kerzen auf dem Tisch stehen.
       
       „Last Supper“ nennt Martin die letzte Inszenierung seines Lebens. Es wird
       ein Abschied für immer sein. Am Tag darauf soll Martins Bett so stehen,
       dass er sehen kann, wie die Sonne ins Zimmer fällt. Wenn er um 11 Uhr die
       Klemme an der Infusion öffnen wird, wird ein überdosiertes Narkotikum durch
       seine Adern fließen. Vier Minuten später wird sein Leben zu Ende gehen. In
       44 Tagen ist es so weit.
       
       Martin wünscht sich, dass über ihn berichtet wird. Weil vielen Menschen die
       Möglichkeit der juristisch-ärztlich assistierten [1][Freitodbegleitung]
       noch unbekannt ist. Und weil er als Künstler nicht in Vergessenheit geraten
       möchte. „Ich möchte nicht ungesehen gehen“, sagt er. Wenn dieser Text
       erscheint, wird Martin im Alter von 61 Jahren gestorben sein.
       
       Was bedeutet es für ihn, geplant zu sterben? Und was ist Martin in den
       letzten Tagen seines Lebens wichtig? Diesen Fragen möchte ich in unseren
       letzten Gesprächen auf den Grund gehen.
       
       Martin und ich waren Sitznachbarn in einer Vorbereitungsklasse, um das
       Fachabitur zu erwerben. Wir lebten in Schwäbisch Gmünd. Er war Anfang und
       ich Mitte 20. Das war vor vierzig Jahren. Auf Partys war er damals der
       Mittelpunkt. Bis heute habe ich keinen mitreißenderen Tänzer erlebt.
       
       Nach dem Abschluss wollten wir irgendetwas mit Kunst studieren. Aber Martin
       konnte sich nicht auf den Lernstoff konzentrieren, hatte Versagensangst.
       Brach die Schule ab. Mit der Diagnose „suizidaler Borderliner“ ging er
       anderthalb Jahre in eine psychiatrische Einrichtung. In der Kunsttherapie
       lernte er, Gefühle und Gedanken in Bildern auszudrücken. „Als ich wieder
       rauskam, war ich Künstler“, sagt er.
       
       Wir verloren uns viele Jahre aus den Augen. Vor acht Jahren [2][entdeckte
       ich auf Youtube kurze Filme über ihn]: Martin, der durch Berlin flaniert
       und über seine Bilder spricht. Martin, der über Kunst philosophiert. Ich
       schrieb ihm eine E-Mail. Er reagierte sofort.
       
       Geboren in Schleswig-Holstein, lebt und arbeitet Martin Schröder-Berlin
       seit 32 Jahren in einer ehemaligen Kaserne in Ludwigsburg. Mit einer Pause
       von zwei Jahren Anfang der zehner Jahre, die er in Berlin verbrachte. Aber
       seine Kunst wurde in der großen Metropole kaum wahrgenommen. Also ging er
       zurück nach Süddeutschland, wo er sich auskannte.
       
       Weder Bipolarität noch Alkohol konnten ihn je von der künstlerischen Arbeit
       abhalten. Entsprechend umfangreich ist sein Werk.
       
       ## Die breite Anerkennung blieb bisher aus
       
       Noch 43 Tage 
       
       Am nächsten Morgen werden Benja und ich mit Klaviermusik von Chopin
       empfangen. Auf dem Tisch steht ein bunter Blumenstrauß. Zärtlich streicht
       Martin über die Köpfe der Weidenkätzchen. „Schön, nicht?“, sagt er. Ich
       sehe ihm an, dass ihm bewusst wird, dass er gerade zum letzten Mal den
       Frühlingsanfang erlebt.
       
       Er zeigt uns seine „Schriftmalereien“, malerische Verbalbotschaften, die in
       wenigen Worten ausdrücken, was ihn bewegt: „Bipolar gestört, bipolar
       begnadet“, ist auf einer zu lesen. Seine Bipolarität habe er nie als
       Krankheit gesehen, sagt Martin. Er sei eben so. Ob in der Bildhauerei,
       Malerei oder Konzeptkunst, die manischen Phasen unterstützten seine
       Kreativität. „Emotionale Formulierungen“ nennt Martin seine Bilder auch.
       
       „Stimmt es, dass ein toter Künstler der bessere ist?“, steht auf einem
       anderen Bild geschrieben, die Ironie liest man mit. Natürlich nicht. Aber
       was kann Martin jetzt noch tun, um dies zu beweisen? Die breite
       Anerkennung, die er sich als Künstler immer gewünscht hat, blieb bisher
       aus. [3][„Ich hatte das Glück, Künstler zu sein. Auch, wenn es oft
       schmerzhaft war“], sagt er.
       
       Schmerzhaft waren die Versagens- und Minderwertigkeitsgefühle, die in
       seiner Kindheit entstanden seien. Besonders seine Mutter habe er
       enttäuscht. „Dass ich als unbekannter Künstler in Armut lebte, fand sie
       schlimm.
       
       Als ich ihr dann noch sagte, dass ich schwul bin, fragte sie: „Wer hat dir
       das angetan?“ Sein Vater hat Martins Coming-out nicht mehr erlebt. Er
       suizidierte sich, als Martin achtzehn war. „Er musste noch den brutalen Weg
       gehen“, bedauert Martin. Sein Vater legte den Abgasschlauch ins Auto und
       vergiftete sich.
       
       Seine Ausstellungen seien gelobt worden, aber seine Kunst hätten trotzdem
       nur wenige gekauft. „Aber ich habe mich nicht an der Enttäuschung
       festgebissen.“ Dann sagt Martin noch einen seiner besonderen Sätze:
       „Endlich hat es sich ausgeschmerzt.“ Damit meint er die seelischen
       Schmerzen. Denn die körperlichen nehmen zu.
       
       Martin kann nicht mehr längere Zeit stehen oder sitzen. Wegen einer
       Nervenkrankheit schmerzen seine Beine, Folgen der Chemotherapie und des
       Alkohols. Dazu kommt noch das Fatigue-Syndrom. Kaum quält er sich morgens
       aus dem Bett, ist er gleich wieder müde. Martin ist längst nicht mehr der
       biegsame Tänzer von damals.
       
       Heute trippelt er in kleinen Schritten, um die Balance nicht zu verlieren.
       Jede Bewegung tut ihm weh. Deshalb kann er kaum noch künstlerisch arbeiten.
       „Ich will nicht mehr“, sagt Martin. Und meint damit nicht das Malen,
       sondern das ganze Leben. „Ich gehe nur noch von Qual zu Qual zu Qual.“
       
       Die erste Krebsdiagnose kam im März 2021: Dickdarmtumor. Der wurde operativ
       entfernt. Im März 2023 die zweite Krebsdiagnose mit Bauchfellkrebs. Bald
       darauf Metastasen in Leber, Lunge und im Becken. Ein Arzt erklärte ihm, da
       sei nichts mehr zu machen. Er wolle nicht so dahinsiechen wie seine Mutter,
       sagt Martin. „Keine Windeln und ja kein Pflegefall werden.“
       
       ## Klar im Kopf bleiben
       
       Er will keine Schmerzpumpe und kein Morphium. „Ich will klar im Kopf
       bleiben. Bis zum Schluss.“ In einem Hospiz von fremden Menschen abhängig
       sein kann er sich nicht vorstellen. Lieber frühzeitig sterben. Da kam die
       Idee auf, eine ärztlich assistierte Freitodbegleitung zu beantragen.
       
       Dass das geht, ermöglicht das Urteil [4][des Bundesverfassungsgerichts
       (BVerfG) von Februar 2020], das das Recht auf selbstbestimmtes Sterben
       formuliert. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu
       nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen“,
       heißt es im Urteil.
       
       Ab Oktober 2024 verzichtete Martin auf eine Fortsetzung von Therapien und
       trat in die [5][Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS)] ein. Der
       Tipp einer Bekannten. Der Verein versteht sich als Patientenschutz- und
       Bürgerrechtsorganisation, berät unter anderem zu Patientenverfügungen.
       
       Seit dem Urteil aus Karlsruhe bietet er auch die Vermittlung von
       Sterbebegleitungen an. Auch der [6][Verein Sterbehilfe] und die
       Organisation [7][Dignitas Deutschland] sind Ansprechpartner für eine
       ärztlich assistierte Freitodbegleitung.
       
       Ein Kriterium des Bundesverfassungsgerichts ist, dass der Sterbewunsch
       konstant ist. Deshalb wird er bei der DGHS ein halbes Jahr nach
       Antragstellung noch einmal überprüft. Nur wenn das Fortschreiten der
       Krankheit drängt, kann ein Antrag auf die Freitodbegleitung auch schon
       früher umgesetzt werden.
       
       Sterbewillige mit einer psychischen Erkrankung müssen zusätzlich ein Attest
       einreichen, in dem ein Fachexperte die Entscheidungsfähigkeit des Klienten
       bestätigt. Das war bei Martin der Fall.
       
       Die Skulptur, die auf sein Urnengrab gestellt werden soll, hat Martin schon
       fertiggestellt. Er will keine Trauerfeier und keine offizielle Bestattung.
       Das Abschiednehmen in den letzten Wochen seines Lebens bedeutet ihm mehr.
       Seine Liebe zu Berlin drückt sich in seinem Doppelnamen aus, der seit 2011
       auch in seinem Pass steht: Martin Schröder-Berlin. Er hat vor einem halben
       Jahr auf dem Französischen Friedhof in Berlin ein Urnengrab gekauft. Auf
       einem direkt angrenzenden Friedhof sind Bertolt Brecht und Helene Weigel
       bestattet. Martin spricht gern davon, dass er „neben ihnen“ liegen wird.
       
       Die Vorstellung, es könne nach dem Tod noch in irgendeiner Form
       weitergehen, findet Martin anstrengend. Lieber wäre es ihm, es gäbe nichts
       mehr. Aber ganz verschwinden will er auch nicht. Durch seine Kunst will er
       weiterhin mit der Welt verbunden bleiben. Martin hat keine Kinder oder
       einen Partner, dem er seine Kunst vermachen könnte. Seine Geschwister haben
       zu seiner Kunst nicht viel Bezug, sagt er. Sie leben in Norddeutschland.
       
       Trotz der weiten Entfernung sieht Martin sie hin und wieder. Vor Kurzem
       trafen sie sich zum letzten Mal. Martin hatte die beiden zu sich
       eingeladen, um sich von ihnen zu verabschieden. Natürlich gab es Tränen,
       sagt er. Er sei froh darüber, dass sie seine Entscheidung, sterben zu
       wollen, akzeptieren.
       
       Aber wer wird sich um seine Werke kümmern, wenn er tot ist? „Beim ‚Last
       Supper‘ könnt ihr überlegen, ob ihr einen Verein gründen wollt“, sagt
       Martin. Und meint damit seine Freund:innen, die sich untereinander kaum
       kennen. Er hat das Essen also nicht nur geplant, um sich zu verabschieden.
       Sondern, damit wir gemeinsam dafür sorgen, dass seine Kunst nicht
       verschwindet.
       
       Als Benja und ich gehen, vereinbaren wir mit Martin, uns regelmäßig zu
       sehen. Sein bevorstehender Tod lässt uns näher zusammenrücken.
       
       ## „Sie müssen nicht sterben, wenn Sie das nicht wollen“
       
       Ich telefoniere mit Alba Reichle, Martins Rechtsanwältin, die ihm von der
       DGHS vermittelt wurde. Sie will hier nicht mit ihrem richtigen Namen
       genannt werden. Nachdem Martins Antrag für den assistierten Suizid von der
       DGHS geprüft wurde, besprach Reichle mit ihm die rechtlichen Seiten. In
       einem Gespräch mit einer Ärztin wurde er über Alternativen zum Freitod
       informiert, wie die Palliativmedizin und die Unterbringung im Hospiz.
       
       Dann klärte sie ihn über den Ablauf des assistierten Freitodes auf. Martin
       blieb bei seinem Entschluss. Und vereinbarte den Sterbetermin. Reichle und
       die Ärztin werden bei Martins Sterbevorgang dabei sein. Und seine engsten
       Freund:innen.
       
       „Wie ist es, Menschen bei ihrem Freitod zu begleiten?“, frage ich Reichle.
       „Sie freuen sich, wenn ich komme. Denn sie wollen sterben“, antwortet sie.
       Wenn sie spürt, dass jemand mit Näherrücken des Sterbetermins ins Zweifeln
       kommt, beruhigt sie: „Sie müssen nicht sterben, wenn Sie das nicht wollen.“
       Es sei dann eben noch nicht der richtige Zeitpunkt.
       
       Eine Bedingung des Bundesverfassungsgerichts ist es, dass die sogenannte
       „Tatherrschaft“ beim Sterbewilligen bleibt. Das bedeutet, er muss den
       Öffnungsmechanismus am Infusionsschlauch ohne Hilfe betätigen und selbst
       seinen Tod herbeiführen. Bevor sie von ihrer Krankheit daran gehindert
       werden, wählen Sterbewillige deshalb oft einen frühzeitigen Termin. Und
       verlieren dadurch vielleicht mehr Lebenszeit, als nötig wäre.
       
       Ein Gesetz, das die aktive Suizidbegleitung erlaubt, könnte Abhilfe
       schaffen. In diesem Fall müsste der Sterbewillige schriftlich festhalten,
       dass ein anderer seinen Tod herbeiführen kann, wenn er es selbst nicht mehr
       schafft. Doch bisher [8][ist die aktive Sterbehilfe im Gegensatz zum
       assistierten Suizid strafbar].
       
       Noch 40 Tage 
       
       In unserem Telefonat frage ich Martin, ob er manchmal an seinem
       Sterbetermin zweifle. Schließlich sei er kein Pflegefall und versorge sich
       noch ohne fremde Hilfe. Vermutlich könne er noch einige Monate länger
       leben. „Keine Erbsenzählerei“, mahnt er. Der Sterbetermin behage ihm. „Ein
       Tag nach der Auferstehung“, sagt er und lacht sein ansteckendes Lachen.
       
       Zu wissen, dass mein Freund bald sterben wird, ändert meine Wahrnehmung.
       Früher scharrte ich manchmal mit den Füßen, wenn er ausholend erzählte.
       Heute bekomme ich nicht genug von seinen Anekdoten. Oft will er nur einen
       Gedanken mitteilen oder von einer Begegnung erzählen.
       
       Er sagt: „Jeder Schritt hat jetzt Nagel und Kopf.“ Alles wird aufs
       Wesentliche reduziert. Wenn er sich verabredet, dann nur noch mit Leuten,
       die ihn interessieren. Die ihm guttun. Oder von denen er etwas will.
       
       Noch 38 Tage 
       
       Oft geht es in unseren Gesprächen um Martins Kunst. Vor zwanzig Jahren war
       er zwei Jahre lang Assistent des Malers Ben Willikens. Dessen streng
       komponierte Bilder schulten Martins künstlerischen Blick. In Martins
       Bilderreihe „Das ungemalte Quadrat“ ist auch der Einfluss von Josef Albers’
       Quadratbildern zu erahnen.
       
       Auf eigenwillige Weise verknüpft Martin informelle, konkrete und
       Konzeptkunst. Immer wieder lässt er einzelne Werke vervielfältigen. Die
       jeweilige Serie entspricht in der Regel seinem Lebensalter. Die Themen, die
       Martin in seinen Bildern verarbeitet, sind oft biografisch. Manchmal
       behandeln sie gesellschaftliche Ereignisse.
       
       Heute bekam er von seinem größten Gemälde, „Estonia“, 61 Siebdrucke
       geliefert. Der Untergang der großen Ostseefähre 1994 mit über 800
       Passagieren hatte ihn damals beschäftigt. Auf seinen „Estonia“-Siebdrucken
       schimmert auf einer dunkelblauen Flutwelle ein geheimnisvolles Licht.
       Martins Stimme ist beschwingt und er lacht viel. Er scheint vom Sterben
       weiter weg zu sein als je.
       
       ## ,,Ein herrliches Finale“
       
       Noch 33 Tage 
       
       Für einen Kunstkatalog, in dem seine Werke zu sehen sind, gab es nie genug
       Geld. Ich rufe Sabine an, eine enge Freundin und Förderin von Martin. Wir
       haben uns vor Kurzem bei ihm kennengelernt. Sie sagt zu, die Finanzierung
       eines Katalogs zu übernehmen. Mein Kollege Daniel, der Grafikdesigner ist,
       erklärt sich bereit, den Katalog zu gestalten.
       
       Am Abend rufe ich Martin an und erzähle ihm begeistert von unserem Plan. Er
       sagt: nichts. Dann verstehe ich: Erst sein bevorstehender Tod öffnet Türen,
       die vorher verschlossen waren. „Macht es dich traurig, dass es erst jetzt
       mit dem Katalog klappt?“ frage ich. Der Künstler, der Inszenierungen liebt,
       bricht wieder in ihm durch. „Die Vernetzung zwischen euch und die
       Aufmerksamkeit, die ich bekomme – das ist doch ein herrliches Finale“, sagt
       er.
       
       Noch 27 Tage 
       
       Am Telefon planen wir meinen nächsten Besuch. Daniel wird mitkommen, um mit
       Martin Details für den Katalog zu besprechen.
       
       Noch 23 Tage 
       
       Opernmusik schallt uns entgegen, als Daniel und ich die ehemalige Kaserne
       betreten. Die Tenorstimme von Pavarotti, Martins Lieblingssänger, erfüllt
       das Atelier. Martin steht, in T-Shirt und Shorts bekleidet, vor einer
       Leinwand.
       
       Er setzt gerade auf die mit kräftigen Farben bemalten Farbflächen einen
       weißen Schriftzug. Mit einer Bierflasche in der einen Hand und dem Pinsel
       in der anderen betrachtet er dann sein Werk: „Ich bin beseelt eingeschlafen
       nach einem turbulenten Leben mit Hilfe der juristisch-ärztlichen
       Freitodbegleitung“, ist auf der Schriftmalerei zu lesen.
       
       Daniel legt ein paar Kunstkataloge als Arbeitsbeispiele auf den Tisch. „Da
       rede ich nicht mehr mit“, sagt Martin und blättert sie lustlos durch. Mir
       fällt auf, dass er keine Entscheidungen mehr treffen will, die die Zukunft
       betreffen. Eine Zukunft, an der er nicht mehr teilhaben wird.
       
       Dann bleibt er an einem Katalog in Hardcover hängen. „Der gefällt mir“,
       sagt er und steht auf. Als er zum Kühlschrank geht, um das nächste Bier zu
       holen, stößt er gegen den Tisch. Ein Glas fällt zu Boden. Als ich es
       aufheben will, mahnt Martin: „Lass mal. Ich bin immer noch der Hausherr.“
       Das Glas bleibt liegen.
       
       Noch kann Martin sich Essen und Bier aus dem Kühlschrank holen. Aber wie
       lange noch? Skulpturen stehen im Raum verteilt, aufgeklappte Ordner liegen
       auf Stühlen und auf dem Boden. Es gibt viele Stolperfallen. „Was, wenn du
       stürzt und nicht mehr allein hochkommst?“, frage ich.
       
       Alkohol und die Nervenkrankheit sind keine gute Kombination. „Die drei
       Wochen halte ich noch durch“, sagt er. „Wäre ja blöd, wenn die Hauptperson
       beim ‚Last Supper‘ nicht dabei wäre.“ Sein Humor blitzt wieder durch.
       
       Beim Abschied hält Martin mich fest und vergräbt seinen Kopf in meinen
       Haaren. So viel Körpernähe bin ich von ihm nicht gewohnt. Sein
       bevorstehender Tod lässt ihn anhänglich werden. „Ich rieche dich so gern“,
       sagt er. „Ich dich auch“, sage ich und löse mich aus seinen Armen. Ich
       lasse ihn nicht gern allein zurück.
       
       Auf dem Rückweg fahren Daniel und ich bei Martins Freundin Sabine vorbei.
       Wir wollen darüber nachdenken, wie wir für Martins künstlerischen Nachlass
       sorgen können. Es ist viel, was wir uns vornehmen: Wir wollen [9][Martins
       Werke sortieren und archivieren, sie ausstellen und verkaufen]. Werden sich
       außer uns noch weitere Spender für die Finanzierung finden?
       
       Dann sprechen wir über Martins bevorstehenden Tod. Obwohl Sabine den
       assistierten Freitod für sich persönlich ablehnt, wird sie Martin dabei
       begleiten, wenn er stirbt. „Ich selbst möchte einmal weder
       lebensverlängernde noch -verkürzende Maßnahmen. Sondern möglichst das Leben
       so ausklingen lassen, wie es sein soll“, sagt sie.
       
       Ich war noch nie dabei, wenn jemand stirbt. Könnte ich damit umgehen? Das
       Sterben einer vertrauten Person zu erleben, stelle ich mir belastend vor.
       Bisher hat Martin mich nicht gebeten, im Moment des Sterbens dabei zu sein.
       Irgendwie bin ich auch ganz froh darüber.
       
       ## „Wo ist der Knopf zum Ausmachen?“
       
       Noch 18 Tage 
       
       Eine Freundin sieht die ärztlich assistierte Freitodbegleitung kritisch. In
       unserer Gesellschaft wolle man alles steuern, selbst den Tod, sagt sie.
       „Ein Auswuchs des Machbarkeitswahns.“ Sie befürchtet, dass alte Menschen
       unter Druck geraten könnten, wenn das Sterben zu leicht gemacht wird.
       
       Wenn sie anderen lästig werden: zack, aufs Sterbebett, Infusion legen, tot.
       „Aber es geht doch darum, eine zusätzliche Alternative zu schaffen und die
       freie Entscheidung des Menschen zu respektieren“, wende ich ein. Christlich
       geführte Pflegeeinrichtungen stehen oft in einem moralischen Konflikt: Das
       Leben, das als Geschenk Gottes betrachtet wird, soll geschützt und nicht
       von eigener Hand beendet werden.
       
       Dem gegenüber steht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Während manche
       Heime Beratungen oder gar den assistierten Suizid selbst zulassen, lehnen
       ihn andere ab. Die Heimbewohner müssen dann bei Freunden oder
       Familienmitgliedern einen Platz finden, an dem sie mit Unterstützung der
       assistierten Freitodbegleitung sterben dürfen.
       
       Noch 16 Tage 
       
       Im italienischen Restaurant rührt Martin seine Spaghetti aglio e olio nicht
       an. Reden ist ihm wichtiger, als die gemeinsame Zeit mit Essen zu
       vergeuden. In den manischen Phasen habe er sich manchmal gefragt: „Wo ist
       der Knopf zum Ausmachen?“ Das überschäumende Lebensempfinden sei
       anstrengend gewesen.
       
       Oft habe er es sich mit Leuten verdorben, Freundschaften seien zerbrochen.
       Und in den Zeiten seiner Depressionen habe er sich wie in einer
       Waschmaschine gefühlt, die ihn umherschleuderte. „Wenn ich wieder rauskam,
       fühlte ich mich gereinigt.“
       
       Er sei mit sich versöhnt. „Auch wenn ich unter mir gelitten habe: Es ist
       gut so, wie ich bin“, sagt er. „Der Idiot ist tot“, heißt es auf einem
       seiner Bilder. Der Idiot als Teil von ihm, der ihn lange davon abgehalten
       hat, zu sich selbst zu stehen.
       
       Noch 12 Tage 
       
       Ich komme verschwitzt vom Fitnesscenter. Martin ruft an und sagt, er finde
       es großartig, dass wir uns um seinen Nachlass kümmern. „Ihr werdet mich
       noch posthum berühmt machen“, sagt er und lacht. Zu Lebzeiten hätte er Ruhm
       sicher nicht verkraftet, sagt Martin. Er hätte ihn noch maßloser gemacht.
       
       Aber nach seinem Tod habe er nichts dagegen. „Weißt du, dass ihr mich
       glücklich macht?“, fragt er. Wir Freunde seien wie eine Familie, in deren
       Mitte er sich geborgen fühle. „Du bist doch auch dabei, wenn ich sterbe?“,
       fragt er plötzlich. Kurz stocke ich. „Gern“, sage ich dann. Wie könnte ich
       ihm diese Bitte abschlagen? Ein unerwartetes Gefühl steigt in mir auf:
       Freude. Beim Sterben meines Freundes dabei sein zu dürfen, verstehe ich als
       großen Vertrauensbeweis.
       
       Noch 8 Tage 
       
       In den letzten Tagen vor Martins Tod steigt in mir die Nervosität. Ein
       falsches Wort, ein schiefer Blick, und ich bin den Tränen nahe.
       
       Noch 6 Tage 
       
       Ich verpasse Martins Anruf. Seine verzweifelte Stimme auf dem
       Anrufbeantworter bittet um Rückruf. Erst am nächsten Morgen nimmt er
       endlich den Hörer ab. Beim Aufräumen und Aussortieren habe ihn der Jammer
       gepackt, sagt Martin. Zwischendrin habe er geweint. Mehr will er nicht dazu
       sagen. Ich ahne, dass ihm der Abschied vom Leben mehr zusetzt, als er
       zeigen will.
       
       Noch ein Tag 
       
       Benja und ich reisen an, um am „Last Supper“ teilzunehmen. Benja hat wieder
       ihre Kamera dabei und baut das Stativ auf. Der Film soll einen Einblick in
       Martins Kunstschaffen geben und die letzte Zeit vor seinem Tod zeigen.
       
       Beim Griechen ist es voll, die Kellner hetzen hin und her. Wir sitzen mit
       16 Leuten an einer langen Tafel mitten im Trubel. Martin prostet seinen
       Gästen zu, mal mit Bier, dann mit Schnaps. Dass Alkohol ihn entspannt und
       beflügelt, hat er mir schon oft versichert.
       
       Er behauptet, selbst im Rausch einen klaren Kopf zu behalten. In
       Schaffenszeiten sei der Alkohol Motor gewesen, um seine Kreativität
       anzutreiben, sagt er. Jetzt, in der letzten Lebensphase, sei er vor allem
       beruhigend.
       
       Wie kann es sein, dass einer, der so quicklebendig ist, morgen sterben
       wird? Niemand käme darauf, dass wir heute den endgültigen Abschied von
       unserem Freund feiern. Einer erzählt, was er am nächsten Wochenende vorhat.
       Interessiert hört Martin zu. Ab morgen geht das Leben ohne ihn weiter. Zu
       gern wüsste ich, was in ihm vor sich geht. Ich sehe es ihm nicht an.
       
       Auch die Juristin Alba Reichle sitzt mit am Tisch. Beim Hauptgang verdirbt
       sie uns die Stimmung. „Martin muss die Uhrzeit missverstanden haben“, sagt
       sie. Der Sterbetermin am nächsten Tag sei um 9 Uhr und nicht, wie wir alle
       dachten, um 11 Uhr. Da sei nichts zu machen, die Ärztin habe zwingende
       Termine. Martin bleibt gefasst. Zwei Stunden kamen mir noch nie so kostbar
       vor wie diese, die ihm gerade geraubt werden.
       
       Als Martin aufsteht, um sich als Erster zu verabschieden, ist es mit der
       Kontrolle vorbei. Er schluchzt, hält sich an einem Freund fest. Weint kurz
       und heftig. Dann fängt er sich wieder, umarmt noch rasch den einen und
       anderen.
       
       Er besteht darauf, allein nach Hause zu gehen. Ein paar Freunde stehen vor
       der Tür, rauchen, sehen hinter ihm her. Rufen letzte Abschiedsworte. Reiben
       sich die Tränen aus dem Gesicht. Wir bleiben noch eine Weile im Restaurant
       sitzen. Wollen uns fast nicht voneinander trennen.
       
       Am Sterbetag 
       
       Als unsere Freundesgruppe am nächsten Morgen zu viert eintrifft, stellt
       Martin gerade eine Tasche mit Leergut an die Straße. „Für die
       Pfandsammler“, erklärt er. Für mich steht ein Topf mit verwelkten Narzissen
       bereit. Die Blumenzwiebeln soll ich in meinen Garten pflanzen. In der
       Wohnung sagt Martin, er gehe jetzt duschen. „Dafür ist keine Zeit mehr“,
       sage ich und denke, dass es gemein von mir ist, ihn davon abzuhalten.
       
       Wann tauschen wir letzte Worte aus, wenn nicht jetzt? Aber Martin will
       keine Abschiedsrunde. Er umarmt jeden kurz. Ich frage ich ihn, ob er beim
       Sterben Körperkontakt wolle. „Das weiß ich doch auch nicht“, sagt er und
       läuft weiter. Er nimmt seine ganze Kraft zusammen, um uns die letzten
       Minuten erträglich zu machen. Nur kein Pathos.
       
       Die Ärztin und die Juristin sind da. Wir Freunde warten draußen, während
       Martin seine Freitoderklärung unterschreibt, sowie eine Erklärung, dass er
       keine Rettungsmaßnahmen wünscht („Garantenpflicht“). Vorkehrungen für die
       Kriminalpolizei, die nach seinem Tod informiert wird, wie nach jedem nicht
       natürlichen Todesfall. Wie bei jeder ärztlich assistierten
       Freitodbegleitung wird ein Zugang in Martins Vene gelegt und eine
       Kochsalzinfusion angehängt.
       
       So wird überprüft, ob die Nadel richtig liegt. Dann dürfen wir wieder ins
       Zimmer. Martin liegt auf seinem Bett. Die Ärztin hat die Nadel von der
       Kochsalzlösung in den Beutel mit dem Narkosemittel umgesteckt. Sobald
       Martin die Rollklemme nach oben schiebt, wird sich die Infusion öffnen, und
       das tödlich dosierte Barbiturat Thiopental fließt in seine Blutbahn.
       
       Wir verteilen uns um Martins Bett. Ich sitze neben ihm am Kopfende. Die
       Ärztin sagt: „Wenn Sie die Infusion öffnen, werden Sie bald einschlafen und
       kurz darauf sterben. Ist das Ihr freier Wille?“ Martin bejaht. Die Ärztin
       nickt. Martin schiebt das Rädchen hoch. „Martin, wir lieben dich“, sagt
       Sabine. Ich nehme seine Hand. Warm und schwer liegt sie in meiner. Die
       Infusion läuft, eine gelbe Flüssigkeit rinnt durch den Schlauch.
       
       Über Martins Bett brennt in einem Windlicht eine Kerze. Die Ärztin fragt,
       ob er noch etwas sagen möchte. Martin sieht von einem zum anderen. „Ich
       gehe als glücklicher Mann“, sagt er. Dann fällt sein Kopf zur Seite. Seine
       Augen fallen zu. Im Hof der Firma nebenan rangiert ein Lastwagen hin und
       her. Metallgeschepper, als falle ein Gerüst in sich zusammen. Im Raum tickt
       die Uhr. Martin atmet ein und aus. Niemand schluchzt oder sagt etwas.
       Tränen laufen über mein Gesicht. Vier Minuten verharren wir in Stille.
       
       Ein – aus.
       
       Ein – aus.
       
       Aus.
       
       Martin Schröder-Berlins Werke finden sich auf der Webseite
       [10][www.martinschroederberlin-][11][nachfolge.com] im Internet.
       
       Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche
       und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste
       psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter
       112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter
       [12][taz.de/suizidgedanken] im Internet.
       
       9 Jun 2025
       
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