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       # taz.de -- Gewalt im Gazastreifen: Gangster-Miliz von Netanjahus Gnaden
       
       > Bewaffnete Palästinenser sollen Hilfslieferungen in Gaza plündern und auf
       > die eigenen Leute schießen. Israel hat sie aufgerüstet. Nur warum?
       
   IMG Bild: Immer wieder fallen an Orten, an denen Hilfsgüter verteilt werden, Schüsse. Wie hier in Chan Junis, Südgaza, am 29. Mai
       
       Kairo taz | Hilfsorganisationen werfen ihr vor, für eine großen Teil der
       Plünderungen von Hilfslieferungen im Gazastreifen verantwortlich zu sein.
       Palästinensische Augenzeugen machen sie mitverantwortlich für Schüsse, die
       auf Hungernde an den neuen [1][Ausgabestellen der Gaza Humanitarian
       Foundation (GHF) abgefeuert wurden]. Für die israelische Armee sind sie ein
       Experiment, um eine Alternative zur Hamas aufzubauen, die Hamas selbst
       bezeichnet sie als Kollaborateure der Besatzung. Und die Familien der
       Mitglieder distanzieren sich von ihr: Eine von Israel unterstützte neue
       Palästinenser-Miliz gerät immer mehr in die Schlagzeilen.
       
       Sie nennen sich selbst „Volkskräfte“, bekannt auch unter dem Namen ihres
       Anführers als Yasser Abu Shabab, als Abu-Shabab-Bande. Rein militärisch
       eher unbedeutend, wird diese Miliz auf 300 Mann geschätzt. Sie operiert
       ausschließlich in Gebieten im Süden des Gazastreifens, die direkt von der
       israelischen Armee kontrolliert werden.
       
       Angeführt wird diese Miliz von Yasser Abu Shabab, einem Mann in den
       Dreißigern, der eine prominenten Beduinenfamilie angehört. Unter der
       Hamas-Herrschaft saß er wohl als Drogendealer im Gefängnis, bevor er bei
       der israelischen Offensive nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 freikam.
       Die Truppe, die er um sich scharte – oft mit einer ähnlichen Biografie, wie
       der seinen –, machte sich in den letzten Monaten einen Namen als Plünderer
       von Hilfslieferungen.
       
       Auch beim neuen Verteilungssystem für Nahrungsmittel der
       amerikanisch-israelischen Gaza Humanitarian Foundation (GHF) spielt diese
       Miliz eine Rolle. Sie tauchte diese Woche scheinbar immer wieder rund um
       die neuen Ausgabestellen der GHF auf. Palästinensische Augenzeugen
       bezichtigen sie, Schüsse auf Menschen abgefeuert zu haben, die dort um
       Essen anstanden. Am Montag berichteten sie erstmals, dass neben der
       israelischen Armee auch bewaffnete Palästinenser auf sie geschossen hätten,
       die mit der Armee zusammengearbeitet hätten. Ein Augenzeuge berichtete
       gegenüber dem arabischen Dienst der BBC, dass er bei einer der
       GHF-Ausgabestellen in Tel Sultan in Rafah eine Gruppe in Zivil mit
       vermummten Gesichtern gesehen hätte. „Erst dachten wir, dass sind ein paar
       palästinensische Jugendliche, die gekommen sind, um bei der Ausgabe zu
       helfen. Aber dann begannen sie auf uns zu schießen“, berichtete Hisham
       Saeed Salem. „Selbst auf jene, die es geschafft haben eine Kiste mit
       Nahrungsmitteln zu ergattern, wurde geschossen. Wir wissen nicht, wer die
       Angreifer genau sind, aber sie haben uns alles weggenommen“, erzählt er.
       „Vorher hat immer die israelische Armee geschossen, aber nun sind wir
       geschockt über die Anwesenheit von Banden und Milizen“, erzählt auch
       Mohammad Sakout, ein anderer Augenzeuge.
       
       ## Diebstahl von Hilfsgütern unter den Augen des Militärs
       
       Die Milizen scheinen auch Vorrang bei der Essenausgabe zu bekommen. Laut
       Muhammad Shadada, der für das European Council on Foreign Relations die
       Lage in Gaza analysiert, werden „vor Sonnenaufgang von der israelischen
       Armee und dem GHF zunächst Kollaborateure, Bandenmitglieder und
       Subcontractors vorgelassen, die sich die [2][wertvollsten Dinge, wie
       Speiseöl], sichern, um sie dann auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen“.
       
       Die Bande ist seit Monaten dafür bekannt, Hilfslieferungen rauben. „Israel
       hat öffentlich behauptet, dass die UN- und NGO-Hilfe von der Hamas
       abgezweigt wird. Aber das hält einer Überprüfung nicht stand. Der
       eigentliche Diebstahl von Hilfe seit Beginn des Krieges wurde von
       kriminellen Banden unter der Aufsicht israelischer Streitkräfte verübt, und
       sie durften in der Nähe des Grenzübergangs Kerem Shalom nach Gaza
       operieren“, so Jonathan Whittall, Leiter des Büros der Vereinten Nationen
       für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in den besetzten
       palästinensischen Gebieten am 28. Mai.
       
       Endgültig ins Rampenlicht geriet die Miliz am 5. Juni, als ihre Existenz
       erstmals öffentlich in Israel debattiert wurde. Der ehemalige
       Verteidigungsminister Avigdor Lieberman beschuldigte den israelischen
       Premier Benjamin Netanjahu im staatlichen israelischen Fernsehen, „einer
       Gruppe von Kriminellen und Schwerverbrechern“ unter der Führung von Abu
       Shabab, der sogar eine Nähe zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ nachgesagt
       werde, Waffen zu geben. Er kritisierte, dass Netanjahu ohne Zustimmung des
       Sicherheitskabinetts diese Milizen in Gaza bewaffnet habe, und
       charakterisierte das Ganze als „völligen Wahnsinn“.
       
       Daraufhin veröffentlichte Netanjahu in den sozialen Medien ein Video, in
       dem er zugab, dass Israel auf Anraten von „Sicherheitsbeamten“ einige
       palästinensische Clans in Gaza „aktiviert“ habe. Er fragte: „Was ist daran
       schlimm? Es ist eine gute Sache und rettet das Leben unserer Soldaten.“ Ein
       nicht namentlich genannter israelischer Sicherheitsbeamter erläuterte
       gegenüber dem israelischen Nachrichtenportal Ynet, dass die Bewaffnung der
       Abu-Shabab-Milizen vom israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Beth „geplant
       und gesteuert“ sei – mit dem Ziel, die Verluste der eigenen Armee zu
       reduzieren und die Hamas durch die Förderung rivalisierender Kräfte
       systematisch zu untergraben. Der israelische Fernsehsender Channel 12
       zitierte eine andere israelische Sicherheitsquelle, laut der dies „erst der
       Anfang ist“. Die israelische Armee erwäge dieses Experiment auf weitere
       Gebiete auszuweiten, nach den „Erfolgen des Pilotprojekts in [3][Rafah]“.
       
       ## Wer ist der Tarabin-Clan?
       
       Erstmals in Erscheinung traten diese Gangs im Mai letzten Jahres, als die
       Verteilung der Hilfsgüter noch ausschließlich von der UNO geleitet wurde.
       Im Dezember häuften sich die Meldungen, dass ein Großteil der
       Hilfslieferungen direkt hinter dem israelischen Grenzübergang von
       kriminellen Banden ausgeraubt und die Hilfsgüter dann auf dem freien Markt
       in Gaza verkauft würden. Die Washington Post zitierte damals aus einem
       internen UN-Memo. Dort hieß es, dass die kriminellen Banden direkt oder
       indirekt vom Wohlwollen der israelischen Armee profitierten und sogar von
       ihr beschützt würden. Danach gebe es sogar eine Art militärisches Lager der
       Banden, „in einem Gebiet mit eingeschränktem Zugang, kontrolliert und
       patrouilliert von der israelischen Armee“. Die israelische Armee stritt
       damals jegliches Wissen darüber ab. Wer genau hinter den Banden steckte,
       blieb damals nebulös. Aber schon damals wurden einige beduinische Familien
       des Tarabin-Stammes genannt, denen schon zuvor kriminelle Aktivitäten
       nachgesagt wurden.
       
       Nun hat das Ganze mit Yasser Abu Shabab einen Namen und ein Gesicht
       bekommen. Dessen Clan, der dem prominenten Tarabin-Stamm angehört, der
       sowohl in Gaza als auch im Norden des Sinai in Ägypten zu Hause ist, hat
       sich inzwischen von ihm distanziert und fordert dessen Blut. „Wir
       bekräftigen, dass wir Yassers Rückkehr in die Familie nicht akzeptieren
       werden. Wir haben keinen Einwand dagegen, dass ihn die Menschen in seinem
       Umfeld sofort liquidieren, und wir sagen ihnen, dass sein Blut verwirkt
       ist“, heißt es in dessen Erklärung.
       
       Die Hamas bezeichnet Abu Shabab als Verräter: „Wir geloben vor Gott,
       weiterhin die Verstecke dieses Kriminellen und seiner Bande zu bekämpfen,
       egal welche Opfer wir bringen müssen.“ Yassers Bruder wurde bereits von der
       Hamas getötet. Yasser selbst überlebte bislang mindestens zwei
       Mordversuche. Es existiert eine eigene Hamas-Einheit namens „Sahm“, zu
       Deutsch „Pfeil“, deren selbsternannte Aufgabe es ist, als Kollaborateure
       gebrandmarkte Menschen zu exekutieren. Diese Woche kam es erstmals zu einem
       Schusswechsel zwischen der Abu-Shabab-Miliz und Sahm, bei dem die
       Abu-Shabab-Miliz nach eigenen Aussagen einen Hinterhalt gelegt und sechs
       Mitglieder der Sahm getötet haben soll.
       
       Die Gruppierung selbst bestreitet, ein Werkzeug der israelischen Besatzung
       zu sein. In den sozialen Medien präsentiert sich Abu Shabab als „die Stimme
       des Volkes, das des Chaos, des Terrorismus und der Spaltung überdrüssig
       ist“. Gegenüber dem US-Fernsehsender CNN beschrieb Yasser Abu Shabab seine
       Miliz als „eine Gruppe von Bürgern“, die sich freiwillig gemeldet habe, um
       humanitäre Hilfe vor Plünderungen und Korruption zu schützen.
       
       ## Wer soll die Kontrolle über Gaza übernehmen?
       
       Was Israels mit dem Aufbaus der Miliz bezwecken will, scheint klar: Sie
       soll langfristig als Mittler zwischen der Bevölkerung in Gaza und der
       israelischen Armee aufgebaut werden. Doch bisher ist ihr strategischer Wert
       gering und ihr Operationsgebiet und Größe sind begrenzt. Es stellt sich
       aber die Frage, wer langfristig die Verwaltung des Gazastreifens von der
       Hamas übernehmen soll. Israels Premier Netanjahu will auf jeden Fall
       verhindern, dass die Palästinensische Autonomiebehörde oder irgendeine
       andere politische Gruppierung hier eine Rolle bekommt.
       
       Der große Vorteil der Gangster-Milizen für [4][Netanjahu]: Sie überleben
       wohl nur mit israelischen Waffen und Gefälligkeiten. Sie stellen keine
       politische Bedrohung, die eine Zweistaatenlösung und einen
       palästinensischen Staat fordert, dar. Sie dienen lediglich als verlängerter
       Arm der israelischen Besatzung.
       
       10 Jun 2025
       
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