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       # taz.de -- Antimuslimischer Rassismus in Berlin: Ungebremster Hass, sogar auf Kinder
       
       > Die Claim-Allianz registriert fast 70 Prozent mehr antimuslimische
       > Vorfälle für 2024. Die Ursache sehen Initiativen in einseitigen
       > Migrationsdebatten.
       
   IMG Bild: Tatort Schule: Fast 35 Prozent der registrierten antimuslimischen Vorfälle haben sich 2024 in Bildungseinrichtungen ereignet
       
       Berlin taz | Frauen wird auf offener Straße das Kopftuch heruntergerissen,
       muslimisch gelesene Menschen werden von Passanten als „Bombenleger“
       beschimpft, Kinder in der Schule wegen ihrer Religion beleidigt:
       Antimuslimischer Rassismus (AMR) ist Alltag in Berlin. Eine am Mittwoch
       vorgestellte Jahresbilanz registriert einen starken Anstieg im vergangenen
       Jahr, insbesondere seit dem Terror-Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023.
       
       Genau 644 Vorfälle hat die Claim-Allianz, ein Zusammenschluss von über 50
       zivilgesellschaftlichen Akteuren, für 2024 zusammengetragen – fast zwei
       jeden Tag und ein Anstieg von fast 70 Prozent gegenüber 2023. „Der massive
       Anstieg und die Enthemmung gegenüber betroffenen Menschen müssen als
       Weckruf verstanden und dürfen nicht länger hingenommen werden“, sagte Rima
       Hanano, Co-Geschäftsführerin von Claim.
       
       Ein großer Teil der dokumentierten Vorfälle betrifft Frauen (64 Prozent)
       und findet im Bildungsbereich statt (35 Prozent), vor allem in Schulen.
       Auffällig sei, dass seit dem 7. Oktober Rassismus zunehmend von Lehrkräften
       ausgehe, so Co-Geschäftsführerin Güzin Ceyhan. Die Fälle ziehen sich laut
       Bericht durch alle Lebensbereiche, von der Wohnungs- und Arbeitssuche über
       die Arztpraxis bis hin zu Ämtern und dem öffentlichen Raum. Sie reichen von
       Diskriminierungen (285) über verbale Angriffe (248) bis zu verletzendem
       Verhalten (91), unter anderem Körperverletzungen.
       
       Für die starke Zunahme und Enthemmung macht Claim vor allem die einseitigen
       Debatten über Migration verantwortlich. Weil Muslime unter Generalverdacht
       gestellt würden, ermuntere dies Menschen, Muslime anzugreifen. „Das Klima
       hat sich massiv verschärft“, sagte Hanano. In der Folge verlören Menschen
       das Vertrauen in die Institutionen und zögen sich zunehmend zurück, etwa
       aus Angst oder Resignation. Dies schade dem gesellschaftlichen
       Zusammenhalt. „Antimuslimischer Rassismus ist Gift für unsere
       Gesellschaft“, stellte Hanano fest. Dennoch werde er von politischen
       Entscheidungsträgern derzeit nicht ausreichend bekämpft.
       
       ## AfD-Hetze in Briefkästen
       
       Alafeh Shafie-Sabet vom Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin (ADNB), dessen
       Zahlen in die Jahresbilanz einflossen, bestätigt die Analyse. Auch bei
       ihnen seien Meldungen zu AMR stark gestiegen und machten inzwischen 63
       Prozent aller Rassismus-Fälle aus. Shafie-Sabet berichtete von einem Fall
       aus der vergangenen Woche, als Fotokopien eines Posts der
       AfD-Bundestagsabgeordneten Nicole Höchst in Briefkästen von muslimisch
       gelesenen Berlinern landeten. Auf den Zetteln, die der taz vorliegen, ist
       ein Gülle-Wagen zu sehen, darüber steht: „An alle Moslems in Deutschland:
       Was immer du auch isst … Es ist mit Schweinescheiße gedüngt…“
       
       Um wirksam gegen AMR vorzugehen, fordert Claim unter anderem eine
       konsequente Strafverfolgung sowie eine bessere Finanzierung von Beratungs-
       und Anlaufstellen. Für Mitarbeitende in staatlichen Stellen müssten
       Fortbildungen zu AMR verpflichtend werden. Auch müssten Gesetze und
       Praktiken, etwa Lehrpläne, auf Diskriminierungen hin überprüft werden. Das
       Neutralitätsgesetz, das etwa Lehrern das Tragen religiöser Kleidung
       verbietet, gehöre abgeschafft.
       
       Shafie-Sabet hat jedoch nicht den Eindruck, dass etwa die
       Bildungsverwaltung für das Problem zugänglich sei. So würden Bewerbungen
       von Lehrerinnen weiterhin aufgrund des Kopftuchs abgelehnt – was nach einem
       Gerichtsurteil nicht mehr zulässig ist. Zudem stoße das ADNB, wenn es
       Beschwerden von Schülern nachgehe, „immer auf geschlossene Türen“. Es gebe
       keine Stellen, an die sich Betroffene wenden könnten.
       
       Ein Sprecher der Bildungsverwaltung widersprach auf taz-Anfrage. So seien
       die Stellen der Antidiskriminierungsbeauftragten für Schulen sowie der
       Antimobbingbeauftragten wieder besetzt und ansprechbar. Auch hätten alle
       Schulen „Notfallordner“ mit Hinweisen, „wie und woran Lehrkräfte
       Diskriminierung erkennen können“. Das hilft allerdings wenig, wenn die
       Lehrkräfte selbst diskriminieren.
       
       ## 1. Juli als Gedenktag
       
       Als Symbol, dass die Politik das Problem ernsthaft angehen will, fordert
       Claim nicht zuletzt die Einführung des 1. Juli als offiziellem Gedenktag
       gegen antimuslimischen Rassismus. Das Datum wurde von muslimischen
       Organisationen zur Erinnerung an den Mord an Marwa El-Sherbini gewählt, die
       am 1. Juli 2009 in einem Gerichtssaal in Dresden aus rassistischen Motiven
       erstochen wurde.
       
       Der Senat plant laut Koalitionsvertrag, den 15. März, entsprechend dem
       Beschluss der UN-Vollversammlung, als „Internationalem Tag gegen
       Islamfeindlichkeit“ zu würdigen. „Das ist im besten Fall gut gemeint, aber
       schlecht gemacht“, sagte Hanana – auch, da dies nicht mit
       Betroffenen-Organisationen abgesprochen sei. Man müsse über
       antimuslimischen Rassismus reden – und nicht nur über Islamfeindlichkeit.
       
       Fachpolitiker von Linken, SPD und Grünen reagierten am Mittwoch
       unterschiedlich auf die vorgelegten Zahlen. Elif Eralp,
       antidiskriminierungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, schloss sich
       den Forderungen von Claim vorbehaltlos an. Auch müssten „endlich die
       Empfehlungen der eigens vom Senat eingesetzten Expert*innen-Kommission zu
       antimuslimischem Rassismus, die schon seit September 2022 vorliegen,
       umgesetzt werden“. Dazu gehöre die Beauftragung einer Studie zu
       antimuslimischen Strukturen und Praktiken in Bildungseinrichtungen.
       
       Tuba Bozkurt, Grünen-Sprecherin für Antidiskriminierung, und Sebastian
       Walter, Grünen-Sprecher für Diversitätspolitik, interpretierten die
       Claim-Zahlen im Zusammenhang mit den kürzlich veröffentlichten Zahlen von
       RIAS zu Antisemitismus. Beide seien aufgrund des starken Anstiegs so
       „eindeutig wie alarmierend“, befanden sie in einer gemeinsamen
       Stellungnahme und forderten, der Senat müsse sicherstellen, dass Angehörige
       beider Gruppen in Berlin sicher sind. „Vor allem bei der Prävention
       eröffnet der Senat durch sein Haushaltsgebaren viele Lücken: Im Bereich der
       Bildung wurden wichtige Präventionsprojekte an Schulen gekürzt und
       gestrichen.“
       
       Cansel Kiziltepe (SPD), Senatorin für Integration, Vielfalt und
       Antidiskriminierung, sagte, die Bilanz von Claim zeige „ein zunehmend
       vergiftetes gesellschaftliches Klima. Antimuslimische Ressentiments werden
       genutzt, um unsere Gesellschaft zu spalten.“ Alle Demokraten seien
       aufgefordert, „noch mehr dagegen zu tun, damit unsere Gesellschaft nicht
       verroht“.
       
       11 Jun 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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