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       # taz.de -- Tanzsport: Es darf auch mal bescheuert aussehen
       
       > Wenn unsere Autorin „Gaga“ tanzt, wird sie zu einer Spaghetti im heißen
       > Wasser. Bei der Tanzpraxis bewegen sich Menschen ohne Spiegel oder
       > Publikum.
       
   IMG Bild: Eine Klasse von Ohad Naharin, dem Gründer der Tanzpraxis Gaga, performt 2015 in Tel Aviv. Bei Gaga-Tanzstunden gibt es keine Gäste
       
       Berlin taz | Um mich herum tanzen alle, während ich auf einem schwarzen
       Stuhl in der Mitte sitze. Sie tanzen für mich, sie lächeln mich an. Ich
       lächle zurück. Auf dem Stuhl tanze ich auch, nur mit dem Oberkörper, da ich
       meine Beine nicht bewegen darf. Ich will ihnen zeigen, dass ich trotzdem
       tanzen will und kann, dass das Tanzen mich glücklich macht. Ich lasse meine
       Hüfte kreisen, meine Arme sind wie durch unsichtbare Seile miteinander
       verbunden und schwingen im Takt. Mein Kopf dreht sich nach links und
       rechts, meine Augen sind halb geschlossen, der Mund leicht geöffnet.
       
       Das ist kein Traum, sondern eine Szene aus einer meiner letzten
       Tanzstunden. „Stellt euch vor, ihr seid Bodybuilder, die im Meer schweben
       und versuchen dabei zu tanzen“, lautete die Anweisung der Lehrerin. Im
       nächsten Moment ruft sie: „Travel!“, und plötzlich beginnen alle, durch das
       Studio zu rennen und herumzuspringen, als wären sie eine Herde wilder
       Pferde. Klingt verrückt? Genau das ist die Idee hinter Gaga: [1][Tanzen als
       Bewegungssprache], nicht um der Performance willen. Das kann und darf auch
       mal bescheuert aussehen.
       
       Seit sechs Jahren tanze ich Gaga, bis zu drei Mal pro Woche. Mein erster
       Versuch endete damit, dass ich wieder nach Hause zurückfuhr, ohne das
       Tanzstudio überhaupt betreten zu haben. Im Vorfeld hatte ich mir Videos
       angeschaut, und während ich in der Schlange stand, musste ich mir
       eingestehen, dass ich mich nicht traute. Sich frei bewegen – umgeben von
       all diesen unbekannten Menschen, die superfit wirken? Nee. Dann versuchte
       ich es noch einmal und wurde direkt süchtig.
       
       [2][„Du tanzt zu Lady Gaga?“], fragen viele, wenn ich vom Gaga-Tanz
       erzähle. Tatsächlich hat der Begriff nichts mit der Pop-Ikone zu tun. Er
       kommt aus dem Französischen und wird für jemanden verwendet, der verwirrt
       oder senil ist. Gaga ist eine Tanzpraxis, die der israelische Choreograf
       Ohad Naharin in den neunziger Jahren entwickelte, während er die Batsheva
       Dance Company in Tel Aviv leitete. Nach einem Unfall konnte er sich wegen
       einer Rückenverletzung nur eingeschränkt bewegen. Aus dieser Erfahrung
       erwuchs das Konzept, bei dem jede Person nach ihren persönlichen
       Möglichkeiten mitmachen kann. Heute wird Gaga weltweit in Tanzkompanien,
       Studios und Workshops unterrichtet und sowohl von Laientänzer*innen
       als von Profis getanzt.
       
       Wären meine Kreuzbänder nicht gerissen und vor knapp vier Monaten operiert
       worden, würde ich nicht ganz hinten neben den zusammengeschobenen
       Ballettstangen sitzen und auf dem Stuhl tanzen. Ich stünde so nah an der
       Lehrerin wie möglich, damit ich sie besser hören und sehen kann, aber auch,
       damit sie mich sieht. Der kleinen Streberin in mir gefällt es, die
       Favoritin zu sein. Ich mag es, dass sie bemerkt, dass ich nicht nur Spaß
       habe, sondern auch, dass ich Fortschritte mache.
       
       ## Schütteln im Liegen, wie bei einem Exorzismus
       
       Mein Körper versteht vieles besser als damals, als ich noch Anfängerin war.
       Zum Beispiel dass, wenn ich meinen Zeh bewege, auch mein Schlüsselbein
       davon beeinflusst wird. Oder sich [3][die Wirbelsäule] so fließend und
       flexibel wie Seetang anfühlen kann. Mit ein wenig Vorstellungskraft lässt
       sich irgendwann jeder Wirbel eigenständig ansteuern.
       
       Was ich ebenfalls gelernt habe: Die Bewegung ist im Körper schon da, wenn
       man nur richtig „zuhört“. Flüssigkeiten, Organe, Zellen – in unserem
       Inneren herrscht niemals völlige Ruhe, alles strömt, klopft und schwingt.
       Man muss das, was da drinnen ist, nur nach außen tragen.
       
       Aber seit ich verletzt bin und mich zurückziehen muss, hat sich noch etwas
       verändert. Durch Gaga fühle ich mich trotz meiner körperlichen
       Einschränkung nicht vulnerabel, sondern genieße es, dass ich trotzdem die
       Freiheit habe, mich zu bewegen. Ich bin unabhängiger von den Blicken der
       anderen geworden. So erkenne ich, dass Tanzen mich immer glücklich macht –
       nicht nur, wenn ich im Vordergrund stehe.
       
       Bei Gaga gibt es keine Zuschauer*innen, nicht einmal unsere eigene
       Reflexion: die Spiegel werden bedeckt. Gleichzeitig hält man die Augen
       offen, so eine weitere Regel, um die anderen besser wahrzunehmen, sich von
       ihnen inspirieren zu lassen und mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Es geht
       bei Gaga vor allem um Freude, an sich und an den anderen. Physischen
       Kontakt zwischen Teilnehmer*innen gibt es keinen.
       
       Wer eine Pause braucht, muss den Raum verlassen. Eine Stunde tanzen wir
       sonst ununterbrochen, inklusive der Lehrer*in, die Intensität der
       Bewegungen dürfen wir je nach Verfassung an unsere Energie und Stimmung
       anpassen.
       
       An diesem Tag bin ich so ergriffen, dass alle für mich tanzen, dass ich
       heulen könnte. Als uns die Lehrerin auffordert, im Wasser zu treiben –
       „Float!“ –, kommen alle zur Ruhe, die Bewegungen werden langsamer, jede*r
       findet einen neuen Platz im Raum. Ich werde vergessen. Dann folgt einer
       meiner Lieblingsmomente: Wir liegen auf dem Boden und atmen ein und aus.
       Ich stelle mir vor, dass wir auf einer Wiese voller Tau liegen, frühmorgens
       oder spätnachmittags, als würde aus all unseren Atemzügen eine Feuchtigkeit
       aufsteigen, die sich wie eine leichte Schicht über uns ausbreitet.
       
       „[4][Ihr seid wie Spaghetti im heißen Wasser]“, heißt es als Nächstes, und
       dann schütteln wir uns im Liegen wie bei einem Exorzismus, während wir laut
       von 10 bis 0 zählen.
       
       Betrachtet man Tanzen nicht nur als Praxis, sondern auch als Sprache, ist
       die Geschichte natürlich besonders wichtig. Vielleicht befinden sich die
       Lehrer*innen bei Gaga deshalb in der Mitte der Runde, als wären sie
       Märchenerzähler*innen. Sie sagen nicht: „Spannt euren Körper an!“, sondern
       laden dazu ein, uns vorzustellen, dass wir uns durch dicken Honig bewegen.
       Es heißt nicht: „Streckt euch aus“, sondern: „Sucht den maximalen Abstand
       zwischen euren Extremitäten“. „Piece of cake!“, das ist doch nichts, sagen
       einige Lehrer*innen, wenn es besonders anstrengend wird. Bringt man die
       Schultern aus ihrer gewohnten Position, gehen sie „spazieren“. Lässt beim
       Tanzen jemand seine Arme hängen, heißt es: „Die Arme sind nicht tot!“ All
       das ist aber kein bisschen esoterisch, sondern sehr pragmatisch und vor
       allem spürbar.
       
       Bei Gaga sind wir nicht nur Bodybuilder oder Spaghetti, sondern manchmal
       auch Drummer, die ihren eigenen Körper als Schlagzeug benutzen. Oder
       Läufer*innen. Ohne uns vom Fleck zu bewegen, rennen wir, so schnell wir
       können. Ich „laufe“ nur mit den Armen und versuche, meine Füße und Beine
       stillzuhalten. Doch die Geschwindigkeit, das Schwitzen und die sichtbare
       Erschöpfung meiner Mittanzenden erfüllen mich mit Freude. Und mit Power.
       Ich bin noch nie müder aus einer Gaga-Stunde gegangen, als ich gekommen
       bin.
       
       Am Ende der Stunde eilen die meisten Teilnehmer*innen zu ihren
       Wasserflaschen, beginnen sich zu stretchen oder huschen in die Umkleide und
       gehen unter die Dusche. Aber einige, ich eingeschlossen, tanzen weiter, bis
       wir irgendwann aus dem Studio geschmissen werde
       
       9 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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