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       # taz.de -- Ukrainische Literatur im Deutschen: Die Ukraine als Subjekt
       
       > In der BRD und in der DDR hatte Literatur aus der Ukraine lange einen
       > schweren Stand. Die Geschichte ihrer Übersetzung ist eine mit vielen
       > Leerstellen.
       
   IMG Bild: Studierende in Odessa halten ein Porträt des ukrainischen Nationaldichters Taras Hryhorowytsch Schewtschenko (1814–1861)
       
       Als „terra incognita“ bezeichnete der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel
       einmal die Ukraine und monierte damit auch die fehlende Ukraine-Kompetenz
       in Deutschland – nicht nur im politischen, auch im kulturhistorischen
       Bereich. Denn auch über ukrainische Literatur weiß man hierzulande wenig.
       Wäre das anders, hätte man vielleicht früher die Ukraine als Subjekt und
       nicht nur Objekt ihrer eigenen Geschichte begriffen und nicht
       ausschließlich aus russischer Perspektive betrachtet. Und einige politische
       Entscheidungen der letzten zehn Jahre wären sicher anders ausgefallen.
       
       Die Geschichte der ukrainischen Literatur in deutscher Übersetzung ist vor
       allem eine mit vielen Leerstellen. Denn was haben Taras Schewtschenko,
       Lesja Ukrainka, Mykola Chwylowyj und Lina Kostenko gemeinsam? Sie zählen zu
       den Klassikern ukrainischer Literatur – und sind in Deutschland so gut wie
       unbekannt. Ukrainische Autor*innen – von einigen zeitgenössischen wie
       [1][Serhij Zhadan] oder Juri Andruchowytsch abgesehen – wurden kaum ins
       Deutsche übersetzt. Es fehlte an Interesse. Und da Ukrainisch
       jahrzehntelang nicht an deutschen Unis unterrichtet wurde, auch an
       Übersetzer*innen.
       
       In der alten Bundesrepublik waren es zwei Übersetzerinnen, die ihr Leben
       lang mit dem absoluten Desinteresse der literarischen deutschen
       Öffentlichkeit an ukrainischer Literatur zu kämpfen hatten. Die eine war
       Elisabeth Kottmeier. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war sie über den in
       einem Lager für „displaced persons“ lebenden Schriftsteller Ihor Kostetzky
       zur ukrainischen Literatur gekommen. 1956 erschien der „Trojanden-Roman“
       des Exil-Autors Wassyl Barka im Mannheimer Kessler-Verlag in ihrer
       Übersetzung. Ein Jahr später gab sie die Lyrik-Anthologie „Weinstock der
       Wiedergeburt“ heraus. Ukrainisch beherrschte sie dabei gar nicht aktiv, wie
       Petra Köhler im Germersheimer Übersetzerlexikon schreibt: „Die Frage, wie
       sie denn dann überhaupt übersetzen könne, wurde ihr oft gestellt. Sie
       antwortete dann selbstbewusst:,Ich kann Deutsch'.“
       
       ## Der Einfluss der Sowjetunion auf die deutschen Linken
       
       Ihre Übersetzungen machte sie auf der Grundlage von
       Interlinearübersetzungen, die sie mit Kostetzky gemeinsam erstellte. Sie
       erschienen anschließend in ukrainischen Literaturzeitschriften
       verschiedener Länder von Argentinien bis Kanada. In Deutschland hingegen
       war man wenig interessiert: „Oft können oder wollen auch gebildete
       Chefredakteure den Unterschied zwischen russischer und ukrainischer
       Sprache und Dichtung nicht verstehen. Der Kalte Krieg einerseits und der
       Einfluss der Sowjetunion auf die deutschen Linken tun ein Übriges“, so
       Petra Köhler.
       
       Eine aufschlussreiche Bemerkung, denn Sowjetunion wurde in der alten
       Bundesrepublik häufig mit Russland gleichgesetzt. Und während in der UdSSR
       diskreditierte Bücher russischer Autoren wie Alexander Solschenizyn und
       Joseph Brodsky hohe Auflagen erreichten, blieb Olesj Hontschars
       ukrainischer Roman „Der Dom von Satschipljanka“, 1970 in Kottmeiers
       Übersetzung bei Hoffmann und Campe erschienen, fast unbemerkt. Dabei
       gehörte er laut Klappentext zu den „meistumstrittenen Büchern der
       Sowjetunion“.
       
       Auch Anna-Halja Horbatsch kämpfte zeitlebens mit der Ignoranz nicht nur der
       linken Bildungselite in der alten Bundesrepublik in Bezug auf ukrainische
       Literatur. Die aus der Bukowina stammende Slawistin hatte seit den 1950er
       Jahren mühsam einige Übersetzungen in deutschen und Schweizer Verlagen
       untergebracht, als sie mit Beginn der deutschen Ostpolitik 1970 beauftragt
       wurde, einen Sammelband ukrainischer Literatur zu übersetzen. („Ein Brunnen
       für Durstige und andere ukrainische Erzählungen“, Erdmann-Verlag). Zum
       ersten Mal zeigte der westdeutsche Buchmarkt Interesse an nichtrussischer
       Literatur aus der UdSSR. Doch das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa),
       das den Band finanzierte, forderte, wie Horbatsch sich später erinnerte,
       dass die „vorzubereitende Anthologie auf keinen Fall die Originalität der
       ukrainischen Literatur betonen dürfe. Es solle unbedingt der Eindruck
       vermieden werden, dass die Publikation separatistische Bestrebungen
       innerhalb der SU unterstütze.“
       
       ## Klassiker und Dissidenten
       
       Mitte der 1990er gründete Horbatsch den nach ihrem Geburtsort Brodina
       benannten Verlag, bei dem sie 17 Bücher in eigener Übersetzung
       herausbrachte. Darunter sowohl ukrainische Klassiker als auch Werke
       ukrainischer Dissidenten wie des Lyrikers Wassyl Stus, der noch 1985 in
       einem sowjetischen Lager starb. Ein größeres Lesepublikum erreichte sie
       damit allerdings nicht.
       
       Auch in der DDR wurde Ukrainisch nicht an Hochschulen unterrichtet. Doch
       sowohl beim Aufbau Verlag als auch bei Volk und Welt erschienen ab den
       1960er Jahren einige vor allem zeitgenössische ukrainische Bücher. Die
       Slawistin Antje Leetz war bei Volk und Welt zwischen 1970 und 1985 Lektorin
       für russische und ukrainische Literatur. Eigentlich hatte sie zur
       Vorbereitung auf den Job ein Semester lang Ukrainisch in Kyjiw lernen
       sollen. Doch dort war man der Meinung, dass sich die Sprache nicht
       innerhalb weniger Monate erlernen ließe, und so kam Leetz nach Moskau.
       
       Vorschläge für die Bücher bekam Volk und Welt, anders als im Westen, nicht
       von den Übersetzern, sondern vom ukrainischen Schriftstellerverband.
       Außerdem bezog man zwei ukrainische Literaturzeitschriften, die von
       externen Gutachtern ausgewertet wurden. Einer von ihnen war der Slawist und
       Übersetzer Rolf Göbner, der Ukrainisch offenbar bei wiederholten
       Aufenthalten in Kyjiw gelernt hatte. Der andere, Oleg Kolinko, war
       Journalist aus Kyjiw, der mit seiner Frau Ingeborg zahlreiche Bücher
       übersetzte. Weitere DDR-Übersetzer*innen waren die aus der Ukraine
       stammende Larissa Robiné sowie das Ehepaar Traute und Günter Stein.
       
       ## Keine regimekritische Literatur in der DDR
       
       Die meisten ukrainischen Bücher, die in der DDR erschienen, waren im
       ländlichen Milieu angesiedelt oder bezogen sich auf den Zweiten Weltkrieg.
       Damit wurde das Bild einer eher bäuerlichen Kultur vermittelt, das auch in
       der Sowjetunion gepflegt wurde. Regimekritische Literatur wurde in der DDR
       nicht gedruckt. Leetz und Kolinko hatten auch keine Kontakte in diese
       Literaturszene. Klassiker erschienen so gut wie keine. Und nicht zuletzt
       wurden einige Werke der ukrainischen Literatur über den Umweg aus dem
       Russischen übersetzt, weil es schlicht an Ukrainisch-Übersetzer*innen
       mangelte. So blieb auch in der DDR die Auswahl an ukrainischer Literatur
       überschaubar, allerdings mit höheren Auflagen als im Westen.
       
       Nach der Unabhängigkeit der Ukraine entstand in Deutschland an der
       Universität Greifswald 1992 erstmals ein Lehrstuhl für Ukrainistik. Doch
       ukrainische Bücher kamen so gut wie keine mehr auf den Markt. Das änderte
       sich allmählich, als die Lektorin Katharina Raabe bei Suhrkamp begann, das
       osteuropäische Verlagsprogramm aufzubauen. Von ukrainischer Literatur
       erfuhr sie über den Umweg Polen, wo bereits einige Werke in polnischer
       Übersetzung erschienen waren. Den Anfang machte 2003 [2][Juri
       Andruchowytschs] „Das letzte Territorium“, ihm folgten Werke von Serhij
       Zhadan, Ljubko Deresch und anderen.
       
       Mittlerweile erscheinen ukrainische Bücher auch in anderen Verlagen, gibt
       es in Deutschland mit Claudia Dathe, Sabine Stöhr, Alexander Kratochvil und
       Lydia Nagel, später dann auch mit Beatrix Kersten, Annegret Becker, Lukas
       Joura und Jakob Wunderwald längst eine neue Generation von qualifizierten
       Übersetzer*innen.
       
       Doch trotz des großen Krieges, den Russland seit Februar 2022 gegen die
       Ukraine führt, ist für die meisten großen deutschen Verlage ukrainische
       Literatur noch immer ein weißer Fleck im Programm. Oder, wie es die
       Schriftstellerin Oksana Sabuschko schreibt: „Es dreht sich immer noch um
       Russland. Die Ukraine als vollwertiges Subjekt ihrer Geschichte und des
       Geschehens ist auch in den Kriegsjahren nicht zum Gegenstand eines
       gesteigerten Interesses oder einer gründlichen Revision geworden“.
       
       Der Text entstand im Rahmen eines Stipendienprogramms des
       Pilecki-Instituts.
       
       26 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Serhij-Zhadan-ueber-seinen-Erzaehlband/!6076105
   DIR [2] /Essays-des-Ukrainers-Juri-Andruchowytsch/!5972515
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gaby Coldewey
       
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