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       # taz.de -- Tagebuch aus der Ukraine: Es ist Krieg, machen wir was draus
       
       > Unter den russischen Bombardements leidet die Stadt Charkiw besonders.
       > Doch gerade hier tobt wieder das pralle Leben. Aus Trotz und für die
       > Freiheit.
       
   IMG Bild: Auch das ist Charkiw: Eine Frau spaziert an einem Straßencafé vorbei, Juni 2024
       
       Der Zug nähert sich langsam dem Bahnhof. Mein Handy vibriert: „Achtung,
       Luftalarm. Begeben Sie sich sofort in den nächsten Schutzraum.“ Ich komme
       in [1][Charkiw] an. Die Stadt, die einst brodelte, in der ich studentische
       Partys feierte, sie ist nun erfüllt von den Geräuschen von Generatoren,
       Sirenen und Explosionen, die die Wohnviertel erschüttern und beschädigen.
       Bis zur Front sind es nur zwanzig Kilometer.
       
       Trotz der Zerstörung und trotz der Gefahr kehren die Einwohner:innen
       von Charkiw zurück. Vor der vollständigen [2][Invasion der Ukraine] durch
       [3][Russland] lebten hier knapp anderthalb Millionen Menschen. In den
       ersten Monaten nach den Angriffen blieben nur etwa 400.000 zurück. Trotz
       der täglichen Attacken leben heute wieder etwa 1,3 Millionen Menschen in
       der Stadt.
       
       Am Bahnhof holt mich meine Freundin Ada ab. „Willst du sehen, wie es jetzt
       in Charkiw ist?“, fragt sie. Vor drei Jahren, als sie erst 23 war, hat sie
       ihr Studium in Oxford abgebrochen, ist in die Ukraine gezogen und hat die
       Wohltätigkeitsorganisation [4][KHARPP] gegründet, die dabei hilft, Häuser
       wieder aufzubauen, die durch russische Angriffe zerstört wurden.
       
       Wir steigen in ihren riesigen Geländewagen. Mein Blick bleibt an Details
       hängen: ein kurzer Rock, Samtstiefeletten mit massiven Absätzen, lange und
       auffällige Fingernägel – sie sieht aus, als modele sie für ein
       Hochglanzmagazin und nicht wie jemand, der einen schmutzigen Geländewagen
       fährt. Ich stelle mir vor, wie sie in diesem Outfit über die zerbrochenen
       Straßen an der Front rast und selbstbewusst die Straßensperren passiert.
       
       ## Schöne Fingernägel zeigen auf das Schöne im Leben
       
       Ada bemerkt meinen Blick. „Ich habe einmal mit einer Frau ehrenamtlich
       gearbeitet. Sie hatte immer eine makellose Maniküre. Ich machte ihr ein
       Kompliment, und sie antwortete: ‚Meine Nägel sind immer in Ordnung – das
       erinnert mich daran, dass es im Leben nicht nur Krieg gibt‘“, sagt Ada und
       lächelt.
       
       Mit der Zeit kann ich das nicht nur sehen, wenn ich auf Ada schaue: dieser
       schöne, hartnäckige Lebenswille. Wie ein Funke in der Dunkelheit brennt er
       in den Herzen vieler Einwohner:innen von Charkiw. Besonders dann
       leuchtet er, wenn fast kein Licht mehr da ist.
       
       Sogar die Stadt selbst scheint gelernt zu haben, die Dunkelheit aufzunehmen
       und in etwas Lebendiges zu verwandeln. Wir fahren an einem Restaurant
       vorbei, wo die Mittagstische inmitten der Trümmer stehen. Die Wände, die
       Spuren von Granatsplittern zeigen, sind mit sanftem Licht beleuchtet.
       Kellner huschen ruhig zwischen den Tischen hin und her. Die Gäste trinken
       Cocktails und unterhalten sich. Wie in jeder anderen Stadt, wie an jedem
       anderen Abend.
       
       In Charkiw gibt es etwa 1.600 Restaurants und Cafés, und ständig kommen
       neue hinzu – allein im vergangenen Jahr waren es 60. Am Abend gehen wir in
       eines davon. Es regnet leicht, die Luft ist von Alarmgeräuschen erfüllt,
       die Straßen sind leer und in Dämmerung gehüllt. Aber sobald wir die Tür
       öffnen, werden wir von Wärme empfangen. Und von ukrainischen
       [5][Fusion-Häppchen].
       
       Keine Sekunde steht diese Stadt still. Es gibt Konzerte, Theaterpremieren,
       Ausstellungen. Kein Wunder, dass sich der Club, der der Front am nächsten
       ist, gerade in Charkiw befindet. Es ist das Zentrum für neue Kultur. Im
       Jahr 2023 hat die Charkiwer Band „Some People“ diesen Treffpunkt für
       Studierende, Soldat:innen, Künstler:innen eröffnet. Es ist ein Ort, an
       dem sie sich alle Menschen wieder lebendig fühlen können.
       
       In dieser Stadt geht es definitiv nicht ums Überleben. Charkiw steht für
       Wahlfreiheit und Freiheit. Es ist die Stadt derer, die mitten im Krieg
       etwas Neues aufbauen.
       
       [6][Yulia Kalaban] ist Journalistin und lebt (wieder) in der Ukraine. Sie
       war Teilnehmerin eines [7][Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung]. 
       
       Aus dem Russischen von [8][Tigran Petrosyan]. 
       
       Finanziert wird das Projekt von der [9][taz Panter Stiftung].
       
       29 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Charkiw/!t5834691
   DIR [2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
   DIR [3] /Russland/!t5007547
   DIR [4] https://kharpp.com/
   DIR [5] /Fusion-im-Topf-Konfusion-im-Kopf/!645474/
   DIR [6] /Archiv/!s=&Autor=Yulia+Kalaban/
   DIR [7] /taz-Panter-Stiftung/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/
   DIR [8] /Tigran-Petrosyan/!a22524/
   DIR [9] /Panter-Stiftung/Spenden/!v=95da8ffb-144e-4a3b-9701-e9efc5512444/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yulia Kalaban
       
       ## TAGS
       
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