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       # taz.de -- Finanzielle Unsicherheit in der Kunst: Eine toxische Beziehung
       
       > Frust, Förderanträge und finanzielle Unsicherheit: Ungeschönt
       > dokumentiert die Ausstellung „Fight or Flight II“ Erfahrungen von
       > FINT*-Künstler*innen.
       
   IMG Bild: Fühlt sich alles an wie Warten im Jobcenter: Installation von Julie Legouez in der Ausstellung „Fight or Flight II“
       
       Es gibt diese romantische Vorstellung vom Künstler*innendasein: Man wird
       mit einem geniehaften Talent geboren – lebt frei, ein bisschen chaotisch
       und ganz im Rausch der Inspiration. Als wäre Kunstmachen an sich schon Lohn
       genug.
       
       Wo sich die Wirklichkeit abspielt, zeigt die zweite Ausgabe der
       Ausstellungsreihe „Fight or Flight“: In Wartezimmern von Jobcentern, vor
       seitenlangen Förderanträgen oder in Nebenjobs, die Miete und Abendessen
       finanzieren müssen.
       
       „Ich kann keine Farbe essen, oder?“ fragt die Künstlerin Dasha Buben auf
       einer von der Decke hängenden Tischdecke in gestickter Schreibschrift.
       Direkt am Eingang der Stadtwerkstatt Friedrichshain-Kreuzberg setzt sie
       damit den Tenor für die gesamte Ausstellung: Es geht um Geld – genauer, den
       Mangel daran. In ihren Arbeiten zeigen 33 FINT*-Künstler*innen (Frauen,
       inter, nicht-binäre und trans Personen) schonungslos, wie sich finanzielle
       Unsicherheit auf Leben, Arbeit und Körper auswirkt – in einem System, das
       Kreativität erwartet, aber nur selten gerecht entlohnt.
       
       Schon beim Betreten der Halle schlägt einem rebellische Stimmung entgegen:
       Aus einem kleinen, verglasten Vorbau tönt Justina Los’ Karaoke-Song „I
       Can’t Get No Funding“, dazu ein Musikvideo im Freizeitpark. Es geht um
       abgelehnte Förderanträge und die emotionale Achterbahnfahrt zwischen Frust,
       Beharrlichkeit und Trotz: „I’m gonna do the show anyways. Don’t care ’bout
       the next unpaid burnout“. Wer will, kann mitmachen – falsch singen ist
       erlaubt, laut sein erwünscht. Auf der Fußmatte zum Raum steht passend dazu
       „Widerstand“.
       
       ## Die körperliche Stressreaktion
       
       Auch Kuratorin Evelina Reiter findet: „Die Wut muss raus“. Gemeinsam mit
       Julie Legouez hat sie 2024 die Ausstellungsreihe ins Leben gerufen. Der
       Titel „Fight or Flight“ spielt auf die körperliche Stressreaktion bei
       Bedrohungen an. Aber was, wenn diese im Alltag lauern – zum Beispiel beim
       Blick aufs Konto? Oder, wie die erste Ausgabe zum Thema Angst zeigte, auf
       dem Heimweg oder in Partnerschaften? Dann können Stress und Unsicherheit
       zum Dauerzustand werden.
       
       Das zeigt die Künstlerin Emily Kelly radikal schlicht mit Grafit- und
       Rotstift in „The artist’s paydays for 2024“. Auf Wachspapier hat sie
       kalenderartige Raster aufgezeichnet und die Felder markiert, [1][an denen
       Künstler*innen dieser Ausstellung finanziell vergütet wurden]. Das
       Ergebnis: Mal bleiben über Monate hinweg Felder leer, dann clustern sich
       wieder mehrere rote Linien aneinander. Einmal blitzt nur ein einziger,
       zart-roter Strich auf.
       
       Um sich das Leben (und die Kunst) zu leisten, arbeiten viele nebenbei in
       anderen Berufen. Künstlerin Linda Herrmann zum Beispiel ist ungelernte
       Pflegekraft im Pflegedienst. Auf sechs LED-Displays zeigt sie, wie Lohn und
       Umsatz während einer Schicht auseinanderdriften. Je anspruchsvoller eine
       Tätigkeit, desto höher der Umsatz – der Lohn der Pflegekraft bleibt dabei
       gleich.
       
       Die Kluft zwischen Arbeit und Bezahlung durchzieht nicht nur die Pflege,
       sondern auch den Kunstbetrieb. Und sie führt zu inneren Konflikten: „Ich
       will nicht mehr irgendwelche Jobs machen und dann keine Kunst mehr“, sagt
       eine Künstlerin. Sie hängt nach: „Das kann ich jetzt sagen – wer weiß, wie
       es nächsten Monat aussieht.“
       
       ## Merz' Kapitalismus im Mülleimer
       
       Ein Ort, der Unterstützung bieten soll, ist das Jobcenter. Gerade in Zeiten
       massiver Kürzungen sind freie Künstler*innen vermehrt auf staatliche
       Leistungen angewiesen. Wie das abläuft, zeigt Künstlerin Julie Legouez mit
       ihrer Installation „Das System kann nichts für Ihre persönlichen Umstände“.
       Dafür hat sie den roten Teppich ausgerollt und darauf eine Wartebank, eine
       hübsche Zimmerpflanze und einen Bildschirm mit motivierenden Stock-Videos
       drapiert. Daneben Friedrich [2][Merz’ Manifest von einem Kapitalismus], der
       die Welt besser macht – im Mülleimer.
       
       Die Botschaft: Künstlerische Arbeit wird hier nicht als Arbeit angesehen.
       Auch im Alltag gibt es diese Stigmatisierung: „Why don’t you do something
       else? Like a real job, something that society actually needs?“ Satzfetzen,
       die auf dem Heimweg noch nachklingen. Künstlerin Sina Niemeyer hat sie auf
       das Metallgitter am Ausgang der Ausstellungshalle gekleistert.
       
       Die Kurator*innen kritisieren, dass manche Institutionen von
       Künstler*innen profitieren, ohne sie zu bezahlen. Aber Sichtbarkeit
       ersetzt kein Honorar. Kontakte, Netzwerke – all das bleibe
       FINT*-Künstler*innen oft verschlossen. Mit der Ausstellung wollen sie einen
       Safe Space schaffen, der das ändert. Und über konkrete Strategien reden –
       etwa im Workshop „Finanzplan Speed-Dating“. Wer heute Künstler*in sein
       will, braucht mehr als Talent. [3][Nämlich Geld, Ausdauer und Räume wie
       diesen].
       
       17 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Verguetung-fuer-Ausstellungen/!5387560
   DIR [2] /Oekonom-Rudolf-Hickel-ueber-neue-Regierung/!6082245
   DIR [3] /Gosia-Lehmanns-Schau-ueber-Kunst-und-Geld/!6093493
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Emilia Papadakis
       
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