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       # taz.de -- Kreative Bildungsarbeit: Der Wedding und die sieben Zwerge
       
       > Regelmäßige Worskshops mit Kindern gegen Proberäume in der Aula – Der
       > Verein Luna Park bringt Berlins Tanzszene an eine Brennpunktschule.
       
   IMG Bild: Bildung die Spaß macht: Probe für Schneewittchen und die sieben Zwerge an der Gesundbrunnen-Grundschule
       
       Berlin taz | Schneewittchen hat sich auf dem Boden zusammengerollt und
       schläft. Ihr Asyl ist die Gesundbrunnen-Grundschule in Wedding. Denn dort
       findet sie die zu ihr passenden sieben Zwerge: Streitlustig stehen sie da –
       die knallrote Zipfelmütze wie ein Ausrufezeichen auf dem Kopf, der braune,
       breite Gürtel ist der Punkt dazu – und mahnen an, dass ihre Privatsphäre
       verletzt worden ist.
       
       Wütend schleudert ein Zwerg „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ in
       den Raum und steigt achtlos übers Schneewittchen. Ein anderer stockt, er
       hat vergessen, warum er sich ärgert, Kosmas Kosmopoulos erinnert ihn sanft
       daran und dann wacht Schneewittchen auf.
       
       Es ist früher Nachmittag, die Kinder der Tanz- und Theater-AG der dritten
       Klassenstufe tasten sich an das bekannte Märchen der Brüder Grimm heran.
       Ihre Klassenlehrerin Luris Farhat ist bei der Probe dabei und kommentiert
       später: „Die SchülerInnen dieser Schule kennen „Schneewittchen“ nur, weil
       sie den gleichnamigen Disney-Film gesehen haben. Zu Hause haben sie keinen
       Zugang zum entsprechenden Text. Bei der Einstudierung der Märchen merken
       wir immer wieder, dass die Dramaturgie der Märchen funktioniert. Die
       klassische Sprache bleibt und wird da, wo es notwendig ist, ergänzt.“
       
       Kosmopoulos hat in den letzten zehn Jahren so ziemlich alle
       Brüder-Grimm-Blockbuster, die ausreichend Figurenpersonal mitbringen, mit
       den Kindern der Gesundbrunnen-Grundschule erarbeitet. Mit den aktuellen
       „Schneewittchen-Kindern“ trifft er sich seit fünf Monaten. Immer am
       Mittwoch. Mitte Oktober ist es so weit, da wird „Schneewittchen“ im Rahmen
       der 15. Familiennacht in der Aula der Gesundbrunnen-Grundschule aufgeführt.
       
       ## Büro in der Schulbibliothek
       
       Zwei Schritte vom Probenraum entfernt, in der Schulbibliothek, haben
       Kosmopoulos und sein Team vom Verein Luna Park ihr Büro. Vor sechs Jahren
       hat sich das KünstlerInnen-Kollektiv als gemeinnütziger Verein neu
       aufgestellt, konnte so in die Gesundbrunnen-Schule einziehen und arbeitet
       von hier aus an der Symbiose von professionellem zeitgenössischen Tanz und
       soziokultureller Bildungsarbeit.
       
       Kosmopoulos, Tänzer, Choreograf, Pädagoge und Kulturmanager in
       Personalunion, sitzt mit Kai Pichmann und Fee Josten vor einer Tasse
       Kaffee. Josten, Kulturmanagerin und Sozialpädagogin von Beruf, unterstützt
       Kosmopoulos als Projektreferentin. Pichmann prägt Luna Park seit dreizehn
       Jahren als Autor und Dramaturg. Luris Farhat kommt herein und schaut zu
       Kosmas Kosmopoulos. „Ja, 16 Jahre kennen wir uns jetzt schon“, sagt sie.
       2009 fing alles an mit Luna Park und der Gesundbrunnen-Grundschule.
       
       Die Schule war unsaniert, befindet sich [1][in einem Viertel, dass als
       „sozialer Brennpunkt“ gilt]. Der Anteil der SchülerInnen, deren
       Muttersprache nicht Deutsch ist, lag bei über 90 Prozent. Die Umgebung der
       Schule hat sich nicht groß verändert, der Anteil der
       Deutsch-NichtmuttersprachlerInnen an der Schule ist unverändert hoch, aber
       die Schule ist inzwischen saniert.
       
       Die damalige Schulleiterin Manduela Krüger hatte sich vehement dafür
       eingesetzt. Und sie war es auch, die das KünstlerInnen Kollektiv 2009 an
       die Schule holte und zehn Jahre später den Vereinssitz im Schulgebäude
       ermöglichte.
       
       ## Auf zur Turnhallen-Tournee
       
       Im Juni 2025 präsentiert sich der Backsteinbau als Kleinod. Der Kombiraum
       von Schulbücherei und Luna Park-Büro ist lichtdurchflutet. Im Treppenhaus
       zieht sich ein von SchülerInnen gestaltetes Mosaik die Wand entlang. Nicht
       ein einziger Papierfetzen liegt auf dem Fußboden. Überwältigend ist die
       alte Aula im obersten Stockwerk mit ihren hohen Fenstern und der
       Holzvertäfelung, die vorbildlich restauriert wurde.
       
       Während im ersten Stock die Tanz- und Theater-AG „Schneewittchen“ probt,
       stapeln die TänzerInnen Nikoleta Koutitsa und Davide Lorenzi in der Aula,
       die auch als Sporthalle genutzt werden kann, drei Turnbänke übereinander.
       Einige Minuten später legen sich beide in die Zwischenräume und drehen und
       wenden sich, bis es aussieht, als würden sie im Trockenen schwimmen.
       
       Koutitsa und Lorenzi proben für die Wiederaufnahme von „Between spaces –
       between faces“, das in Zusammenarbeit mit Luna Park an der
       Gesundbrunnen-Grundschule entstanden ist. Genau das ist der Deal zwischen
       Luna Park und der Schule: [2][TänzerInnen und ChoreografInnen] können die
       Aula außerhalb des Schulbetriebs nutzen und machen im Gegenzug Workshops
       und Projekte mit den Schulkindern.
       
       Koutitsa sagt, dass sie erst in diesem ungewöhnlichen Tanzprobenraum auf
       die Idee mit den Turnbänken gekommen ist. Ein zutiefst pragmatischer
       Ansatz: Diese Requisiten musst du nicht kaufen oder transportieren, solange
       du das Stück in Schulsporthallen zeigst. Im Herbst geht es los mit der
       Schulsporthallen-Tournee in Reinickendorf los.
       
       ## Fenster aus dem Wedding
       
       Im Luna Park-Büro versucht Luris Farhat zusammenzufassen, was sich an der
       Schule und bei den SchülerInnen verändert hat, seit Luna Park mit im Boot
       ist. Als Lehrerin schätzt sie den Nutzen der Märchen-Inszenierungen für den
       Spracherwerb, gleichzeitig erkennt sie Vorteile, dass sich die SchülerInnen
       in den Tanzworkshops mit den temporär an Luna Park angedockten
       KünstlerInnen oft auf Englisch verständigen müssen. „Denn wichtig ist auch,
       [3][die Mehrsprachigkeit] als wertvolles Gut wertzuschätzen“, betont die
       Deutsch-Palästinenserin. Außerdem sei der Probenprozess ein wichtiger
       Kontrapunkt zum Dauerkonsum sozialer Medien.
       
       Extrem wichtig sei: „Die Tanz-Leute bringen eine andere Welt mit.“ Farhat
       seufzt, denn sie weiß aus Erfahrung: Ein Großteil der Kinder an der
       Gesundbrunnen-Schule kommt nie aus dem Wedding raus. Gerade für diese
       Kinder sei es so wichtig, dass ihnen neue Perspektiven gespiegelt werden.
       
       Während der Pandemie haben die Kinder ständig gefragt: „Wann tanzen wir
       endlich wieder?“, erinnert sich Kosmopoulos. „Wir haben damals über Zoom
       zusammen Pizza gebacken und später mit Maske Theater gespielt.“ Und
       irgendwann kam ein ehemaliger Schüler in die Gesundbrunnen-Grundschule
       zurück und fragte, ob er einen Probenraum haben könnte. Er hatte im
       Gymnasium das Fach „Darstellende Kunst“ gewählt.
       
       Kosmopoulos, Farhat und Pichmann erinnern sich an die wunderbar wilde Reise
       zum 9. Deutschen Kindertheaterfest in Lübeck 2022 mit dem „Gestiefelten
       Kater“ und stellen fest: Auch im Jahr 2025 hat die Zusammenarbeit von
       freien darstellenden KünstlerInnen und Schule deutschlandweit immer noch
       nur Modellcharakter. Viele deutsche Schulsporthallen blieben am Wochenende
       ungenutzt, oft scheitere es daran, dass Initiativen und Vereinen nicht der
       Schlüssel zum Schulgebäude anvertraut werde.
       
       ## Strukturelle Förderung fehlt
       
       Josten bemerkt: „Wir bekommen immer noch keine strukturelle Finanzierung.
       Es wäre schön, wenn auf der Förderseite etwas mehr Vertrauen da wäre. Die
       ewige Projektförderung bremst aus und das Anträgeschreiben frisst extrem
       viel Zeit.“
       
       Kosmopoulos muss jetzt gehen. Er ist aufgeregt, denn gleich macht er seine
       Prüfung als Rettungsschwimmer. Danach kann für ihn die Freibadsaison im
       Humboldthain beginnen. Zusammen mit den Kindern der
       Gesundbrunnen-Grundschule wird er das Freibad stürmen. Und danach die große
       Schulküche, da machen alle zusammen Pizza und schlecken hinterher Eis.
       
       16 Jun 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katja Kollmann
       
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