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       # taz.de -- Spielfilm „Yurt“: Identitätssuche in gegensätzlichen Welten
       
       > Mit seinem Debüt „Yurt“ wagt sich der Filmemacher Nehir Tuna an die
       > Geschichte der eigenen Jugend zwischen säkularer Schule und
       > islamistischem Wohnheim.
       
   IMG Bild: Meist blickt Ahmet in den brillanten Schwarz-Weiß-Bildern von Kameramann Florent Herry melancholisch in die Ferne
       
       Morgens lernt er Englisch in einer Klasse zusammen mit modisch gekleideten
       Mädchen – nach Schulschluss lebt er in einem Wohnheim für Jungen, in dem er
       einer strengen, islamistischen Erziehung unterzogen wird. Der 14-jährige
       Ahmet muss zwischen diesen Extremen seine Identität finden. Diese
       [1][Coming-of-Age-Geschichte] erzählt der türkische Regisseur Nehir Tuna in
       seinem antobiografischen Debüt-Langfilm, der am Donnerstag in den Kinos
       angelaufen ist.
       
       Tuna lebte im Jahr 1997 als 12-jähriger in einer ähnlichen Situation. Seine
       persönliche Geschichte spiegelt so auch einen historischen Konflikt in der
       Türkei der späten 1990er-Jahre wider. Damals gab es Spannungen zwischen
       säkularen und religiösen Türken. „Yurt“ ist der türkische Name dieser
       Wohnheime, in denen damals regelmäßig Razzien stattfanden, bei denen die
       Polizei nach verbotenen fundamentalistischen Schriften und Dokumenten
       suchte.
       
       Wenn Nehir Tuna zum Beginn des Films solch eine Untersuchung zeigt, bei der
       die Schüler schnell Flugblätter in arabischer Sprache verbrennen und Bilder
       von Atatürk an die Wände hängen, ist das so stimmig und detailreich
       inszeniert, dass man spüren kann, wie Tuna hier aus eigenen Erinnerungen
       schöpft.
       
       Tuna bleibt immer nah bei seinem Alter Ego Ahmet. So bildet der historisch
       gescheiterte Versuch einer Modernisierung der Türkei nur den Hintergrund
       dieser Geschichte vom Erwachsenwerden. Ähnliche autobiografische Filme
       haben im westlichen Kino eine gute Tradition: In Federico Fellinis
       „Amacord“, Woody Allens „Radio Days“, John Boormans „Hope and Glory“,
       Steven Spielbergs „The Fabelmans“ und Alfonso Cuarons „Roma“ werden
       Geschichten von den Künstlern als jungen Hunden meisterhaft erzählt. Es ist
       kein Zufall, dass sie diese Filme in der Mitte ihrer langen Karrieren
       gemacht haben.
       
       Nehir Tuna traut sich gleich bei seinem Langfilmdebüt an diese
       Königsklasse. Einige Ungeschicklichkeiten unterlaufen ihm dabei. So ist er
       zu verliebt in seinen vom 21-jährigen Doga Karakas gespielten
       Protagonisten. Er zelebriert ihn in den brillanten Schwarz-Weiß-Bildern des
       französischen Kameramanns Florent Herry mit vielen extremen Nahaufnahmen.
       Bei denen blickt Ahmet meist melancholisch in die Ferne.
       
       Auch behauptet der Regisseur die existentielle Krise mehr, in die er seinen
       jungen Helden stürzen will, als dass er sie zeigen würde: Er erzählt
       fragmentarisch in Stimmungsbildern. Das Publikum muss sich also die
       Zusammenhänge in den frühen Kapiteln des Films weitgehend selbst
       zusammenreimen. Ahmet hat einen reichen Vater, der die religiösen
       Fundamentalisten in der Türkei unterstützt und das Wohnheim finanziert, in
       dem sein Sohn lebt.
       
       Der wird deshalb als reiches Vatersöhnchen von den Mitschülern und einem
       seiner Lehrer schikaniert. Zugleich versucht er in der Schule zu
       verheimlichen, dass er in dem als antiquiert geltenden Wohnheim schläft.
       
       Die Situation verschlimmert sich, als er sich in ein Mädchen mit einem sehr
       westlichen Lebensstil verliebt. Sein einziger Verbündeter ist ein
       gleichaltriger Außenseiter im Wohnheim, mit dem sich eine homoerotisch
       aufgeladene Freundschaft entwickelt.
       
       Nehir Tuna erzählt all das eher in Nuancen als es auszubuchstabieren. Die
       Stimmungen, die er so erzeugt, wirken authentisch und intensiv. Man kommt
       diesem jungen Mann sehr nah, wenn er etwa von seinem ersten Samenerguss
       überrascht wird und danach halb verwirrt und halb stolz auf die
       Toilettenwand blickt. Und wenn Tuna ein Stilmittel einsetzt, um deutlich zu
       machen, dass mit der Emanzipation von seinem Vater Ahmets Welt farbiger
       wird, ist das zwar ein altbewährter Zauberer-von-Oz-Trick („We are not in
       Kansas anymore“), aber er ist dann doch noch erstaunlich wirkungsvoll.
       
       „Yurt“, 2023 bei den [2][Internationalen Filmfestspielen Venedig] gezeigt,
       ist eine türkisch/französisch/deutsche Koproduktion, an der auch die
       Hamburger Produktionsfirma Red Balloon beteiligt war. Deren Produzentin
       Florencia Villamil hat sich auf internationale Koproduktionen
       spezialisiert, vor allem mit Regisseur*innen aus der Türkei und
       Palästina.
       
       „Yurt“ finanzierte sie zum Teil aus einem Fördertopf für deutsch-türkische
       Koproduktionen, an dem auch die Förderanstalt Moin in Hamburg beteiligt
       ist. Mit 73.000 Euro scheint der gezahlte Betrag eher gering zu sein, aber
       „das ist viel Geld für eine türkische Ko-Produktion“, schreibt Villamil
       dazu, „vor allem, wenn man die türkische Lira betrachtet.“
       
       Für „Yurt“ hat sie die Gesamtfinanzierung auf die Beine gestellt und war
       für die Postproduktion verantwortlich. Die norddeutsche Förderung bleibt
       also unsichtbar, aber das ist nicht immer so: Im Rahmen des gleichen
       Förderprogramms hatte der türkische Filmemacher [3][Ilker Catak] 2024
       seinen Kinofilm „Gelbe Briefe“ in Hamburg gedreht.
       
       20 Jun 2025
       
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