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       # taz.de -- Missbrauch im Kinderheim: „Wir waren dort Zöglinge ohne Wert“
       
       > Betroffene leiden ihr Leben lang an erlebten sexuellen Übergriffen,
       > Gewalt und Zwangsarbeit. Eine Kommission fordert nun Aufarbeitung.
       
   IMG Bild: In den Heimen erlitten viele sexuellen Missbrauch und Folter
       
       Als Corinna Thalheim als Jugendliche nach Torgau kam, musste sie sich nackt
       ausziehen. Vor Menschen, die sie nicht kannte und die ihre Körperöffnungen
       kontrollierten, damit sie nichts in den Jugendwerkhof einschmuggeln konnte.
       „Das gleicht einer Vergewaltigung“, sagt sie heute.
       
       Schon dieses „Aufnahmeritual“ habe die 14- bis 18-jährigen, die ins
       Kinderheim Torgau kamen, gebrochen. [1][Wie viele von ihnen hat auch
       Corinna Thalmann dort sexualisierte Gewalt erfahren], der Direktor vergriff
       sich an seinen Schutzbefohlenen. „Torgau war zu Zeiten des Kaiserreichs
       schon eine Haftanstalt, und sie war es bis zum Ende der DDR“, sagt sie.
       
       Ioannis war von 1945 bis 1965 in mehreren Kinderheimen in der BRD, auch in
       der Arbeiterkolonie Freistatt. Er nennt sie das Torgau des Westens. „Wir
       waren dort Zöglinge ohne Wert.“ [2][In Freistatt wurde Ioannis zum Arbeiten
       gezwungen]. Sechs Tage die Woche, von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr
       abends.
       
       Auch er erfuhr sexualisierte Gewalt in dieser von der Diakonie betriebenen
       Einrichtung. Als er das meldete, wurde er vor den anderen Jugendlichen
       nackt ausgezogen, ausgepeitscht und in einen dunklen Bunker gebracht. Als
       er versuchte, sich in Freistatt das Leben zu nehmen, führte das zu
       Schlägen, er wurde mit kaltem Wasser übergossen und musste zurück in den
       Bunker.
       
       ## Zwangsarbeit und Gewalt
       
       Am Dienstag veranstaltete die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung
       sexuellen Kindesmissbrauchs ein Hearing zu Missbrauch in der Heimerziehung.
       Dort erzählten Corinna Thalmann, Ioannis und weitere Betroffene von den
       Verbrechen, die an ihnen begangen wurden.
       
       In den Heimen erlitten viele sexuellen Missbrauch und Folter, an ihnen
       wurden mit Einverständnis der Heimleitungen Medikamente getestet. Weil sie
       Zwangsarbeit verrichten mussten, kam oft ihre Schulbildung zu kurz, sie
       konnten später nur schlecht bezahlten Berufen nachgehen, im Alter haben
       deswegen viele eine zu geringe Rente, um würdevoll zu leben.
       
       Dazu kommen posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen,
       Bindungsprobleme und Stigmatisierung. Die Vorstellung, ihren Lebensabend
       wieder in einer staatlichen oder kirchlichen Einrichtung zu verbringen, ist
       für sie oft unvorstellbar.
       
       Auch nach der Wende und bis heute seien Mangel und Gewalterfahrungen in
       staatlichen Heimen keine Seltenheit, wie jüngere Betroffene berichten.
       
       ## Aufarbeitung sollte nicht Aufgabe der Betroffenen sein
       
       Viele der Anwesenden kämpfen für die Aufarbeitung dieser Verbrechen. Doch
       das sollte Aufgabe der Gesellschaft und der Institutionen sein, in denen
       sie stattgefunden haben, so Heiner Keupp von der Aufbereitungskommission.
       
       Etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen haben in Erziehungsheimen
       sexualisierte Gewalt erfahren, so der Professor für Sozialpsychologie.
       
       Zwischen [3][2012 und 2018 gab es zwei Fonds, durch die ehemalige
       Heimkinder Entschädigungen erhalten konnten]. Doch zu wenige erfuhren
       davon, und für viele war es demütigend und schwierig nachzuweisen, dass sie
       Betroffene sind. Eine Teilnehmerin am Dienstag berichtet, sie habe vor 13
       Jahren ihren Antrag gestellt, doch sie würde das heute nicht noch einmal
       tun. „Man glaubt mir nicht. Ich bin über diesen Staat, der sich Rechtsstaat
       nennt, bitter, bitter enttäuscht.“
       
       ## Betroffene fordern höhere Renten und Anerkennung
       
       Beim Hearing erarbeiteten die Betroffenen, WissenschaftlerInnen und die
       Aufbereitungskommission einen Katalog von Forderungen: Erhöhung der Rente
       von Betroffenen um monatlich mindestens 300 Euro. So wurde es in Österreich
       gemacht. Erleichterung der Nachweispflichten. Eine Anerkennung und
       Auseinandersetzung mit den Verbrechen durch den Bundestag und die
       Einrichtungen eines Erinnerungsortes. Außerdem mehr Sensibilisierung zu
       Machtmissbrauch in Bildung, sozialer Arbeit und bessere Therapieangebote.
       
       Eine Sprecherin der Diakonie betonte, weiter an der Aufarbeitung der
       Verbrechen mitwirken zu wollen. Die Diakonie sei an diesem Tag vor allem
       da, um zuzuhören. Ioannis, der als Betroffener für die Aufarbeitung kämpft,
       zeigte sich sichtlich unbeeindruckt von diesen Versprechen. „Mit über
       achtzig Jahren habe ich nicht mehr so viel Zeit, wie sich die Kirche zum
       aufarbeiten nehmen möchte!“
       
       18 Jun 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Alice von Lenthe
       
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