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       # taz.de -- Kurzfilmfestival Hamburg: Sozialgeschichte aus erster Hand
       
       > Umgang mit Menschen mit Behinderung und Gentrifizierungs-Protest: Beim
       > Kurzfilmfestival Hamburg geht es um Aussonderung und Widerstand in der
       > Stadt.
       
   IMG Bild: Der eigentliche Schrecken ist nicht zu sehen: Biese Bilder entstammen dem Film „Li(e)benswerte Menschen“ (1973) von Bernd Nixdorff
       
       Wie reagiert man, wenn man erfährt, dass einer der eigenen Vorfahren genau
       die Art von Menschen töten wollte, um die man selbst sich 45 Jahre seines
       Lebens lang liebevoll gekümmert hat? Passiert ist das Andreas Grützner, der
       als 60-Jähriger erfuhr, dass Gerhard Wagner sein Urgroßonkel war, ein
       Bruder seines Urgroßvaters – „Reichsärzteführer“ Gerhard Wagner, der sich
       im „Dritten Reich“ wie kein anderer für [1][„Euthanasie“] und
       Zwangssterilisation einsetzte.
       
       Grützner selbst hat sich für die Menschen in Heil- und Pflegeanstalten
       eingesetzt, seit er 1979, als 17-Jähriger, in den damals noch so heißenden
       [2][„Alsterdorfer Anstalten“] in Hamburg zu arbeiten begann: einem
       vormaligen nationalsozialistischen Musterbetrieb, der mindestens 600
       Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen in die
       NS-Tötungsanstalten deportierte. Mit „Eigentlich wollte ich nicht lange
       bleiben“ hat Grützner aus diesem Aspekt seiner Biografie einen kurzen
       Dokumentarfilm gedreht. Der wird das erste Mal gezeigt im Deutschen
       Wettbewerb des 41. Kurzfilmfestivals Hamburg, das am 3. Juni eröffnet wird
       (Mittwoch, 14 Uhr, Zeise-Kino 2).
       
       Wurde ihm unbewusst eine „tiefe familiäre Schuld anerzogen?“ Weiter als bis
       zu diesem eher hilflosen Erklärungsansatz ist Grützner mit der Analyse
       seiner Generationsgeschichte nicht gekommen – aber als Filmemacher weiß er,
       dass im Kino die Fragen immer interessanter sind als die Antworten.
       Grützner arbeitet heute als Sozialpädagoge, hat sich aber auch als
       Regisseur von Dokumentarfilmen über soziale Fragen einen Namen gemacht. Er
       hat zudem das erklärt inklusive und diverse Hamburger [3][Kurzfilmfestival
       „Klappe auf!“] gegründet.
       
       In „Eigentlich wollte ich nicht lange bleiben“ montiert er eigene Aufnahmen
       mit Archiv- und anderem existierenden Material und zeichnet so ein freies
       Doppelporträt seiner selbst und seines Urgroßonkels. Den Nazi-Funktionär
       stellt er mithilfe kurzer Ausschnitte aus damaligen Propagandafilmen vor:
       Der Wochenschaubericht von Wagners pompöser Trauerfeier im Jahr 1939 wirkt
       heute vielleicht eher lächerlich, aber ein ebenfalls berücksichtigter
       „Lehrfilm“ mit ideologischer Rechtfertigung der „Euthanasie“, also der
       planmäßigen Ermordung „unwerten“ Lebens schockiert durch seine
       menschenverachtende Terminologie und die Häme, mit der er kranke Menschen
       vorführt.
       
       Grützner macht als Erzähler auf der Tonspur seine subjektive Perspektive
       deutlich. Vor allem aber stellt er Menschen vor, mit denen er in
       Wohnprojekten gelebt hat oder in der von ihm mitgegründeten [4][inklusiven
       Band „Station 17“] Musik gemacht hat. So zum Beispiel Günther, der
       Marschmusik und Uniformen liebt. Oder Helga, die gerne in Cafés geht, aber
       nie Geld dabei hat. Und Olaf, der nicht sprechen kann, bei einem Konzert
       dann aber so laut in ein Mikrophon schrie, dass er vielleicht zum ersten
       Mal überhaupt seine eigene Stimme hören konnte.
       
       Grützner stellt also Menschen vor, die Gerhard Wagner vernichten wollte. Er
       zeigt sie lebendig, ja: in Momenten des Glücks. Indem er auch von den heute
       kaum noch vorstellbaren Zuständen in den „Anstalten“ erzählt, ist sein Film
       aber auch ein Dokument Hamburger Sozialgeschichte – und hätte gut in die
       Festivalsektion „HH – Soziale Stadt“ gepasst.
       
       Die versammelt in diesem Jahr vor allem Archivalien über den meist
       vergeblichen Kampf um ein soziales Wohnen. Dieser Stadtaktivismus war und
       ist in Hamburg auch künstlerisch geprägt, und so zeigt Kurator Florian Wüst
       im Programmpunkt „Hamburger Positionen“ zwei Programme mit Kurzfilmen gegen
       die Boomtown-Strategien der Stadtentwicklung. „Wohnste sozial …“ ist zu
       sehen am 4. Juni, 19 Uhr, im Festival-Center sowie am 7. Juni, 21.30 Uhr,
       im 3001-Kino; „ … haste die Qual“ läuft am 5. Juni, 19 Uhr, im Lichtmess
       sowie am 6. Juni, 18.30 Uhr, im Festival-Center.
       
       Auf dem Programm steht da etwa der „Thedebadfilm“ (1985), in dem die
       Filmemacher*innen der [5][Filmkooperative „Die Thede“] vom Kampf gegen
       den Abriss einer schönen alten Badeanstalt erzählen – und sich selbst als
       Teil dieser Kampagne verstanden. Ebenfalls 1985 entstand [6][das sieben
       Minuten lange Video „Mottenburg“], hergestellt vom Medienpädagogik Zentrum
       Hamburg. Es dokumentiert die kurzzeitige Besetzung eines Betriebsgeländes
       in Hamburg-Ottensen, und zwar konsequent aus der Perspektive der jungen
       Aktivist*innen: Die wehrten sich unter anderem mit Punkkonzerten gegen die
       Gentrifizierung des damals so genannten „Abbruchstadtteils“, heute eine
       sehr begehrte, alternativ angehauchte Wohnlage.
       
       Mit Musik versuchten Aktivist*innen auch 2013 den Abriss der
       [7][Esso-Häuser] nahe der Reeperbahn im Stadtteil St. Pauli zu verhindern.
       Eine Initiative unter dem schönen Namen „The Good, The Bad And The Ugly“
       produzierte auch ein Musikvideo für den Song „Echohäuser“, das in schön
       dreckigem Schwarz-Weiß den Protest umso cooler erschienen ließ.
       
       3 Jun 2025
       
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   DIR Wilfried Hippen
       
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