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       # taz.de -- Die Bibliothek in den USA und Kanada: Auf der Grenze
       
       > Seit 100 Jahren steht die Bibliothek Haskell in Kanada und den USA. Lange
       > konnte man ohne Kontrollen rein und raus – bis Trump auf sie aufmerksam
       > wurde.
       
   IMG Bild: Eine Grenze aus Klebeband zieht sich durch die Haskell Bibliothek
       
       Ein etwas abgewetzter Streifen Klebeband auf dem Holzfußboden, mehr ist in
       der „Haskell Free Library & Opera House“ nicht zu sehen von der
       Staatsgrenze. Seit über 100 Jahren steht die Bibliothek mit angeschlossenem
       Theater genau auf der Linie zwischen den USA und Kanada. Genauso hatte es
       die Kaufmannsfamilie Haskell beabsichtigt, als sie den viktorianischen Bau
       im Jahre 1901 als Ort des Lernens und der Begegnung stiftete.
       
       Als Standort wählten die Haskells ein Eckgrundstück, dessen Südseite von
       der Caswell Avenue im beschaulichen Örtchen Derby Line im US-Bundesstaat
       Vermont gesäumt wird. Die Westseite verläuft an der Church Street, die
       größtenteils zum Städtchen Stanstead in der kanadischen Provinz Quebec
       gehört.
       
       Von Beginn an galt das ungeschriebene Gesetz, dass die Quebecer die zwanzig
       Meter US-amerikanischen Gehwegs bis zum Haupteingang benutzen durften, ohne
       einen offiziellen Grenzübergang zu passieren. Doch nun hat die Bibliothek
       die Aufmerksamkeit von US-Präsident Donald Trump erregt. Damit ist das Aus
       für diese lokale Tradition besiegelt.
       
       „Grenzen sind sowohl künstlich wie auch real“, sagte Ross Murray noch am 1.
       November 2024 im Haskell-Theatersaal, wenige Tage vor Trumps Wiederwahl.
       Murray, ein Schriftsteller aus Stanstead, moderierte damals das
       [1][„Borders Poetry Symposium“]. Die Bühne, auf der er dabei stand,
       befindet sich auf kanadischem Boden. Ein Teil des Publikums saß ebenfalls
       in Kanada, der größere Teil in den USA. Einige Gäste saßen in beiden
       Ländern gleichzeitig: Die Grenzmarkierung verläuft diagonal unter den
       altmodischen Holz-Sitzreihen.
       
       ## Ganz ohne Grenzanlage
       
       Eingetreten waren die Gäste allesamt durch den Haupteingang auf der
       amerikanischen Seite, ganz ohne Grenzanlagen oder Passkontrolle. „An
       Abenden wie diesem können Worte die Grenze hier unter dieser Bibliothek
       überwinden“, fuhr Murray fort. Mit keinem Wort erwähnte er Trumps scharfe
       Rhetorik über Grenzen, Migranten und „America First“. Doch im kunstvoll
       verzierten Theatersaal lag die Frage förmlich in der Luft: Was sind Worte
       gegen Schlagbäume?
       
       Ganz so frei wie zu Zeiten der Haskells war auch schon vor Trumps zweiter
       Amtszeit der Zugang zu Bibliothek und Theater nicht mehr. Nach den
       Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September
       2001 waren rings um die Bibliothek Überwachungskameras installiert worden.
       
       Seitdem ist auch ein Wagen der U. S. Customs and Border Protection ständig
       in Sichtweite postiert; auf der Quebecer Seite sind öfters Mounties
       beziehungsweise Police montée zu sehen – Beamte der kanadischen
       Bundespolizei. Die Church Street wurde durch kniehohe Steinquader
       abgeblockt; daneben wurden Schilder errichtet: Stop. Do not cross. It is
       illegal to enter Canada from here und No Loitering, kein Herumlungern, in
       Englisch und Französisch, aber auch in Farsi, Haitianischem Kreol,
       Rumänisch und Russisch.
       
       Direkt am Eingang informiert ein weiteres Schild, dass die Bibliothek kein
       Grenzübergang sei. Wenn aus Quebec kommende Büchereibesucher danach noch in
       Derby Line, Einwohnerzahl knapp 900, Bekannte besuchen oder einkaufen
       wollen, müssen sie erst zurück auf die kanadische Seite und dann über den
       offiziellen Grenzübergang in die USA einreisen.
       
       Ein Donnerstagmorgen Anfang Mai 2025. Deborah Bishop telefoniert; jemand
       von der BBC hat angerufen. Seit gut einem Jahr ist Bishop Direktorin der
       Haskell Library. Als einzige internationale Bibliothek zieht die seit
       Langem viel Interesse auf sich, wurde schon im Life Magazin und im Canadian
       Geographic beschrieben. Der Medienansturm der letzten Monate ist jedoch
       eine andere Liga.
       
       Trotzdem ist es ruhig an diesem Maimorgen, insbesondere in der
       Kinderbibliothek: ihre Hauptnutzer und -nutzerinnen sind in der Schule,
       die einen in Vermont, die anderen in Quebec. In dem menschenleeren Raum
       sticht der schwarze Streifen auf dem hellen Holzfußboden besonders deutlich
       hervor. Gleich links neben dem Haupteingang gelegen, befindet sich der
       Großteil der Kinderbibliothek in den USA. In den Regalen stehen Bücher und
       Spiele in Englisch und Französisch.
       
       Am Tresen im Hauptraum beendet eine junge Mitarbeiterin gerade ein
       Telefonat auf Englisch und beantwortet einen Moment später Fragen des
       Besuchers vor ihr auf Französisch. Die junge Frau war auch hier, als zehn
       Tage nach Trumps Amtsantritt seine Heimatschutzministerin Kristi Noem samt
       Sicherheitsstab der Bibliothek einen unangemeldeten Besuch abstattete.
       
       Sie erzählt, wie Noem sich auf der US-amerikanischen Seite des schwarzen
       Streifens aufbaute und verkündete „USA Number One“, dann theatralisch auf
       die kanadische Seite trat und kundtat, sie befinde sich jetzt im
       einundfünfzigsten Bundesstaat. Ihre Entourage klatschte lachend Beifall;
       die junge Bibliotheksmitarbeiterin, Kanadierin wie alle an dem Tag
       anwesenden Kolleginnen, bewahrte mit Mühe ihr professionelles Gesicht.
       
       ## Spenden für einen kanadischen Eingang
       
       Wenige Tage nach dem Besuch der Ministerin wurde Deborah Bishop vom
       Heimatschutzministerium über neue Auflagen informiert. Büchereibesucher aus
       Kanada dürften nur noch mit gültigem Mitgliedsausweis den Gehweg auf
       amerikanischem Boden zum Haupteingang benutzen. Ohne Ausweis dürfen das nur
       noch Bibliotheksangestellte – vorerst. Ab Oktober 2025 ist auch damit
       Schluss, dann müssen alle Besucher aus Kanada den offiziellen Grenzübergang
       benutzen.
       
       Zwar gibt es in der Parallelstraße zur Church Street einen kleinen,
       zweispurigen Grenzübergang. Verglichen mit den dystopisch anmutenden
       Betonbauten an den großen Übergängen der Interstate Highways – einer
       befindet sich zwei Kilometer östlich – strahlt er fast dörfliche
       Gemütlichkeit aus. Und doch: Die Grenzbeamten in beide Richtungen nehmen
       ihren Job ernst. Da kann es schon mal sein, dass man die im Auto
       angesammelten Einkaufstaschen, Kartons, Flaschen, und Schuhe erklären oder
       inspizieren lassen muss.
       
       Würden Bibliotheksnutzer aus dem kanadischen Stanstead in Zukunft „mal
       eben“ offiziell in die USA einreisen, um ein Buch auszuleihen oder
       abzugeben? Würden sie weiterhin zu Lesungen oder den Treffen ihrer
       Buchgruppe kommen? Würden Familien mit Kindern die zusätzliche Zeit
       einplanen, ganz zu schweigen von den Kosten der Pässe, die sie, wie viele
       kanadische und US-Staatsangehörige, nicht unbedingt in der Schublade liegen
       haben?
       
       Deborah Bishop und ihr Team wollen es nicht darauf ankommen lassen. Bald
       nach dem Besuch der Heimatschutzministerin starteten sie eine
       Spendenaktion, um einen Eingang auf der kanadischen Seite bauen zu lassen.
       „Die Resonanz war umwerfend“, erzählt Bishop. Das Geld floss umgehend, die
       Zielsumme von 100.000 kanadischen Dollar war schnell übertroffen – unter
       anderem durch eine großzügige Spende der kanadischen Autorin Louise Penny,
       die unweit von Stanstead wohnt.
       
       Wann der neue Eingang fertig sein wird? Schwer zu sagen – Bishop erklärt,
       dass die Bauvorschriften beider Länder befolgt, die Pläne von Ämtern
       beiderseits der Grenze abgesegnet werden müssen. Das kann sich Monate
       hinziehen, gut möglich, dass es bis Oktober nicht zu schaffen ist. Darum
       hat Bishop kurzerhand veranlasst, einen Notausgang auf der kanadischen
       Seite so umzubauen, dass er schon jetzt als Eingang benutzt werden kann.
       
       Er liegt just an der hinteren rechten Ecke des Gebäudes, an der die
       Grenzlinie noch das Ein- und Austreten auf kanadischem Boden ermöglicht.
       Der Blick aus der Tür geht direkt auf eine Reihe von Steinquadern, die die
       Grenze markiert und den Parkplatz auf amerikanischem Boden vom kanadischen
       Nachbargrundstück samt Wohnhaus teilt. Zwischen zwei Quadern steht ein
       Pfosten mit einem Vogelhaus, aus dessen Dach eine Antenne ragt. Hinter der
       ungewöhnlich großen runden Öffnung glitzert etwas – eine Kameralinse
       reflektiert das Sonnenlicht.
       
       Seit Beginn seiner zweiten Amtszeit hat Donald Trump wiederholt seine
       Absicht geäußert, [2][die USA um Kanada zu erweitern]. Dies und die 25
       Prozent Zölle auf die meisten kanadischen Importe verhalfen mit großer
       Wahrscheinlichkeit im April dem Trump-Kritiker [3][Mark Carney zum
       Wahlsieg]. Beim ersten Besuch des neuen Premiers im Oval Office beschrieb
       Trump die US-kanadische Grenze denn auch als artificial line – eine
       künstliche Linie, die eben deshalb auch wieder ausradiert werden könne und
       sollte.
       
       ## Das Bett teilen mit einem Elefanten
       
       „Grenzen sind sowohl künstlich wie auch real“, hatte Ross Murray im
       November 2024 auf der Bühne des Haskell Theaters gesagt. Die US-kanadische
       Grenze hatte, wie die Binnengrenzen der EU, lange kaum Auswirkungen auf die
       Menschen beiderseits – bis zum 11. September reichte meistens ein
       Führerschein, um sie zu überqueren. Eine mehr als 150 Jahre lange
       Entwicklung führte zu ihrer heutigen Gestalt, beginnend 1783 – noch 76
       Jahre vor der Gründung Kanadas – mit dem Vertrag von Paris, der die
       amerikanische Revolution formal beendete.
       
       Im Zuge der West-Expansion der jungen USA wie auch des damaligen British
       North America fanden zahlreiche Zwischenverhandlungen statt, aus denen
       verschiedene Grenzanpassungen resultierten. Und wie nicht erst seit dem
       Annexionsgetöse Donald Trumps zu beobachten ist, auch die Herausbildung
       eines kanadischen Selbstbewusstseins.
       
       Aus europäischer Perspektive mögen die Unterschiede zwischen den beiden
       nordamerikanischen Riesennationen geringfügig erscheinen. Doch das sehen
       insbesondere die Menschen nördlich der Grenze, bei aller gegenseitigen
       Freundschaft und Freundlichkeit, anders.
       
       Auch vor der Ära Trump wurde ihr kanadisches Selbstgefühl oft vom großen
       Nachbarn im Süden herausgefordert. Der Reisejournalist Bob Fisher beschrieb
       schon 2009 die kulturelle, wirtschaftliche und politische Eigenständigkeit
       als das neuronale Herzstück der kanadischen Psyche. Und auch wenn die
       Beziehung beider Staaten grundlegend freundschaftlich ist, so war sie
       keineswegs immer einfach.
       
       Der frühere kanadische Premier Pierre Trudeau beschrieb sie bei einem
       Besuch bei Richard Nixon in Washington im Jahre 1969 einmal so: „Neben
       Ihrem Land zu wohnen ist in gewisser Weise so, als würde man das Bett mit
       einem Elefanten teilen. Egal wie freundlich und ausgeglichen das Tier auch
       ist, wenn ich es so bezeichnen darf, man wird von jedem Zucken und Grunzen
       tangiert.“
       
       Stanstead auf der kanadischen Seite der Haskell-Bücherei hat knapp 3.000
       Einwohner. Kaum zwei Kilometer von der Library entfernt liegt das Café
       Auberge Le Sunshine, von den englischsprachigen Gästen Café Sunshine
       genannt. Das Stimmengewirr weist auf Beliebtheit bei französisch- wie
       englischsprachigen Gästen gleichermaßen hin. Jeder scheint hier jede zu
       kennen; bei jedem Öffnen der Tür entspinnt sich ein längerer oder kürzerer
       Austausch.
       
       Joyce Shee und Lynn Rublee sitzen an einem der runden Cocktailtische vor
       dampfendem Schaumkaffee und Croissants. Beide Frauen leben in Vermont,
       etwas südwestlich von Derby Line in Newport, und für beide
       US-Amerikanerinnen ist die Provinz Quebec Teil ihrer Lebenswelt. Ihnen
       beiden liegt die Haskell Library am Herzen, aber um sich zu unterhalten,
       treffen sie sich gern im Café Sunshine. In ihrer Kindheit in den 1960er und
       1970er Jahren, sagt Lynn, existierte die Grenze in ihrer Wahrnehmung kaum.
       
       Newport liegt am Südende des Sees Memphremagog, einer Hinterlassenschaft
       des letzten Kontinentalgletschers. Der See zieht sich in unzähligen Buchten
       und Nebenarmen über 50 Kilometer bis zur kanadischen Ortschaft Magog.
       „Viele Leute aus Montreal verbrachten ihre Ferien dort“, sagt Lynn. „An
       beiden Seiten des Sees gab es Telefonzellen an der Stelle, wo die Grenze
       durch den See führt.
       
       Dort sollte man anhalten und sich bei der jeweiligen Grenzbehörde melden,
       wenn man mit dem Boot auf die andere Seite fuhr oder auf einem Pfad rüber
       wanderte.“ In den Ortschaften – wie hier zwischen Derby Line und Stanstead
       – winkten sie als Kinder einfach den Grenzbeamten, wenn sie auf der anderen
       Seite Süßigkeiten kaufen wollten. „Wir haben gar nicht an die Grenze
       gedacht. Sie war kein Hindernis; wir sind einfach hin- und hergegangen.“
       
       Joyce, deren Eltern nach Quebec zogen, als sie elf war, heiratete sogar
       einen der Urlauber aus Montreal. Später zogen beide nach Newport. Ihr Leben
       in beiden Ländern ist in den Staatsangehörigkeiten reflektiert: Joyce
       besitzt sowohl die kanadische wie auch die US-amerikanische. Das sei in
       dieser Gegend nicht ungewöhnlich, erzählt sie.
       
       Viele Einwohner von Stanstead zwischen 30 und 60 Jahren hätten die
       US-Staatsbürgerschaft, weil das Krankenhaus in Newport hier das nächste
       ist und sie dort geboren wurden. Irgendwann erkannte Kanada diese
       US-Staatsbürgerschaften nicht mehr an. Auf Trumps To-do-Liste steht die
       Abschaffung der birthright citizenship, der Staatsbürgerschaft jeder auf
       amerikanischem Boden geborenen Person, sowieso.
       
       Lynn Rublee leitet das grenzübergreifende Projekt CANUSA360ARTS, dessen
       Mission es ist, künstlerische Aktivitäten auf beiden Seiten sowie den
       Austausch zwischen Kunstschaffenden zu fördern. Das Projekt wurde 2022 ins
       Leben gerufen, um den Austausch nach den pandemiebedingten
       Grenzschließungen wiederzubeleben. Das „Borders Poetry Symposium“ in der
       Haskell-Bibliothek war eine ihrer Initiativen. „Dazu kamen 80 Autorinnen
       und Autorinnen, ungefähr gleich viele aus Vermont und Quebec, manche auch
       von weiter her“, erzählt sie. „Das war sehr ermutigend.“ Wird es dieses
       Jahr ein ähnliches Symposium geben?
       
       Lynn hebt die Schultern. „Schwer zu sagen. Alles ist so sehr im Fluss. Aber
       ich sehe diesen Austausch jetzt als noch wichtiger in dieser angespannten
       politischen Lage.“ Schon 2024 habe sie von einigen jungen Leuten aus Quebec
       gehört, sie hätten Angst, die Grenze zu überqueren; von einigen aus Vermont
       ebenso. Joyce kennt viele Kanadier, die aus Protest nicht mehr in die USA
       fahren und US-amerikanische Produkte boykottieren.
       
       Noch eine andere Entwicklung macht Lynn Sorgen: Im Zuge der Verschärfungen
       nach dem 11. September 2001, der allgegenwärtigen Kameras und der
       Grenzschließungen während der Pandemie wächst auch eine sprachliche
       Trennung zwischen den beiden doch so eng verbundenen Gemeinden. Als Lynn
       aufwuchs, wurde in Vermonter Familien mehrheitlich Französisch gesprochen.
       „Vermont – c’est français!“ ruft sie aus. Vermont, das klinge doch ziemlich
       französisch. Viele Ortsnamen in Vermont reflektieren die eng verflochtene
       Geschichte: Die Hauptstadt heißt Montpelier, ein kleiner Ort Vergennes, ein
       Fluss Lamoille.
       
       „Im Grunde ist das ganze nördliche Drittel von Vermont
       französisch-kanadisch. So viele Menschen hier sind miteinander verwandt,
       Franko-Kanadier und US-Amerikaner“, sagt sie. Aber jetzt werde auf der
       Quebec-Seite immer weniger Englisch gesprochen und auf der Vermont-Seite
       immer weniger Französisch. „Ich finde das tragisch, weil die Sprache dann
       eine weitere Barriere für junge Menschen darstellt. Darum ist mir auch das
       Poesie-Festival so wichtig, damit wir die Menschen durch unsere gemeinsame
       Geschichte und Kultur zusammenbringen.“
       
       Zurück Richtung USA wirkt der letzte Straßenblock vor dem trügerisch
       gemütlichen Checkpoint verlassen: leere Schaufenster und verblassende
       Firmennamen auf beiden Straßenseiten. „Dies war mal das Downtown von
       Stanstead“, sagt Lynn. Jetzt laufen hier die Strömungen sichtbar zusammen,
       die nicht nur die menschlichen, sondern auch die geschäftlichen Beziehungen
       strapazieren: 9/11, die Pandemie, die Trump’sche Grenzpolitik.
       
       Eine der Fensterfronten jedoch sieht einladend aus: Chrysalis/La Chrysalide
       (Schmetterlingspuppe); ein „Ort zum Treffen, sich begrüßen, und kreativ
       sein“. Flyer kündigen Buchgruppen, Stricktreffen und Klangbäder an. Das
       Chrysalide war einer der Veranstaltungsorte beim Border Poetry Symposium;
       die gut vernetzte Lynn Rublee stellt die Leiterin vor.
       
       ## Chöre, die auf der Grenze sangen
       
       Kim Prangley ist nicht nur eine der in Newport geborenen doppelten
       Staatsbürgerinnen, sondern auch die ehemalige Direktorin der Haskell Free
       Library. Sie übernahm den Job in den 1980er Jahren von ihrer Mutter und
       blieb zweieinhalb Jahrzehnte. „Die Bücherei war mein Zuhause“, erzählt sie.
       „Meine Kinder sind dort aufgewachsen.“
       
       Sie erinnert sich an die Zeiten, in denen Zollbeamte (einer davon ihr
       Ex-Ehemann) hereinkamen, um sich Bücher auszuleihen, an Picknicks auf dem
       Rasen vor der Bücherei, an Chöre, die auf der Grenze sangen, an
       Familientreffen von Mitgliedern, die sich sonst aufgrund von
       Visabestimmungen nicht sehen konnten. „Die Bücherei war ein Symbol für
       Frieden, ein Gegenpol zu dem, was in der Welt geschieht. Es war ein very
       sweet place.“ Jetzt gibt es keine Familientreffen mehr in der Bücherei, und
       „auf dem Rasen darf man sich nicht mehr unterhalten“.
       
       Kim erinnert sich auch an die Kopfschmerzen, die ihr die juristischen
       Besonderheiten einer Bibliothek in zwei Ländern oft bereiteten: So musste
       sie sich mit zwei Versicherungsfirmen befassen – was letztendlich zur
       Markierung der Grenze durch den schwarzen Klebstreifen führte – und sich
       nach 9/11 mit beiden Bürgermeistern beraten, wie die neuen Restriktionen
       umzusetzen seien. Als die Bücherei einen neuen Fahrstuhl brauchte, musste
       sichergestellt werden, dass dieser in Kanada beschafft werden konnte, da
       der Schaft sich im kanadischen Teil des Gebäudes befand.
       
       ## „Ein Teil von mir“
       
       Ein Kran war jedoch nur in Derby Line zu haben, auf der amerikanischen
       Seite. Ihn die paar Meter nach Kanada zu fahren, hätte gigantische
       Einfuhrzölle mit sich gebracht. Am Ende musste der Kran so platziert
       werden, dass er über das Gebäude hinweg den Fahrstuhl auf der kanadischen
       Seite einsetzen konnte. „Es war kein normaler Job. Du musst nicht nur
       Bibliothekarin sein, sondern auch Diplomatin und Politikerin.“
       
       Nach 25 Jahren war sie „burned to a crisp“ – ausgebrannt wie ein zu heiß
       getoastetes Stück Brot. Und doch, sagt sie, „dieser Ort ist ein Teil von
       mir“. Sie vermisst die Bücherei auf der Grenze und obwohl sie kaum einen
       Kilometer entfernt von ihr lebt und arbeitet, geht sie nicht mehr dorthin.
       Zu belastend findet sie die immer größeren Beschränkungen. In ihrer Stimme
       schwingt der Anflug von Tränen.
       
       Zurück an der Haskell Library. Ist das Schild „no family reunions“ – keine
       Familientreffen – neu seit Donald Trumps Wiederwahl? Nein, erklärt Lynn
       Rublee, aber eine Trump-Verbindung bestehe schon. Während seiner ersten
       Amtszeit verhängte Trump einen „Muslim Travel Ban“, weswegen viele Menschen
       aus Ländern des Mittleren Ostens nicht mehr in die USA einreisen durften.
       Dadurch wurde die Bücherei auf der Grenze zu dem einzigen Ort, an dem
       Familien, die durch dieses Verbot getrennt wurden, ihre Angehörigen sehen
       konnten.
       
       Lynn selbst, die eine kleine Pension in Newport betreibt, beherbergte über
       einen Zeitraum von zwei Jahren ein Dutzend Iraner und Iranerinnen, die in
       den USA lebten und deren Angehörige keine Einreisevisa bekamen. „So wurde
       ich zur iranischen Connection“, erzählt sie mit einem Lächeln. „Die in den
       USA lebenden Familienmitglieder reisten oft aus anderen Landesteilen an,
       zwei sogar aus Kalifornien.
       
       Sie verbrachten den Tag in der Bibliothek und übernachteten bei mir.“ In
       einem Fall gab es sogar einen Heiratsantrag, der von einem freundlichen
       Grenzbeamten fotografiert wurde. Aber der Ansturm auf die Bibliothek wurde
       so groß, dass sie der Lage einfach nicht mehr Herr wurde und dem Ganzen ein
       Ende setzen musste.
       
       Lynn Rublee bedauert das. Aber sie versteht die Entscheidung der
       Bibliothek, denn die wolle natürlich auch nicht ihren eh schon prekären
       Status gefährden.
       
       „Es ist jetzt eine noch größere Herausforderung, aber gleichzeitig auch
       noch wichtiger, dass wir als border community zusammenkommen und zeigen,
       dass wir eine große Gemeinschaft sind und dass wir einander brauchen,
       gesellschaftlich, kulturell, und wirtschaftlich.“ Das ist es, was sie mit
       CANUSA360ARTS bewirken möchte. Die Arbeit scheint für sie als Gegenmittel
       zu all den Enttäuschungen und Frustrationen zu wirken, die ihre community
       in den letzten Jahren erlebt hat. Sie selbst beschreibt sich als politisch
       links, sucht aber den Austausch mit Mitmenschen, die Trump gewählt haben.
       
       „Diese Spaltung in der Gesellschaft, das ist ein wirklich großes Ding.
       Leute auf allen Seiten wollen im Grunde wieder dahin kommen, dass sie sich
       wieder miteinander unterhalten können. Wir brauchen mehr Dialog, damit wir
       zusammenkommen und Probleme lösen können.“
       
       6 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.vermonthumanities.org/event/borders-poetry-symposium/
   DIR [2] /Carney-besucht-Trump/!6086678
   DIR [3] /Carney-besucht-Trump/!6086678
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kerstin Lange
       
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