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       # taz.de -- EU-Rechtsprechung zu Migration: Bis das Menschenrecht am Boden liegt
       
       > Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sollte verhindern, dass
       > Europa jemals autoritär wird. Rechte Kräfte setzen ihn jetzt unter Druck.
       
   IMG Bild: Krakau im Mai 2025: rechtsextreme Mahnwache gegen Migration
       
       Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wird in diesem Jahr 75
       Jahre alt, doch die Feierlichkeiten stehen unter keinem guten Stern. Auf
       Initiative von Dänemark und Italien haben neun Staaten den Europäischen
       Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem offenen Brief für seine
       Rechtsprechung zum Migrationsrecht angegriffen und drängen auf eine andere
       Auslegung.
       
       Der EGMR mit Sitz in Straßburg ist ein Organ des Europarats, dem 46
       Mitgliedsländer angehören, und der für die Auslegung und den Schutz der
       Europäischen Menschenrechtskonvention zuständig ist. Seine Urteile sind für
       die Staaten bindend, aber er verfügt kaum über Möglichkeiten, diese bei
       Nichtbefolgung effektiv durchzusetzen.
       
       Die neun Staaten fordern dennoch mehr nationale Handlungsspielräume, um
       „kriminelle Ausländer“ abzuschieben und sich gegen die
       „Instrumentalisierung von Migration“ zu wehren. Dänemarks
       Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sagte gegenüber dem Spiegel zu
       [1][ihrer Initiative], die EMRK sei einst geschaffen worden, um
       Minderheiten zu schützen, aber heute müsse man die Mehrheit schützen.
       
       Alain Berset, der Generalsekretär des Europarats, erteilte dem Brief
       kurzerhand eine Absage und warnte mit Nachdruck vor dem „politischen
       Druck“, der auf den Gerichtshof ausgeübt werde.
       
       ## Menschenrechte als Kontroll- und Frühwarnsystem
       
       Die EMRK und der Aufbau des Menschenrechtsgerichtshofs nach dem Zweiten
       Weltkrieg waren mit der Hoffnung verbunden, ein gemeinsames europäisches
       Projekt des Friedens und der Kooperation auf den Weg zu bringen. Die
       Menschenrechte wurden als Kontroll- und Frühwarnsystem entwickelt: Die
       Achtung demokratischer und rechtsstaatlicher Normen in den Nationalstaaten
       sollte ein erneutes Abrutschen in autoritäre Verhältnisse und daraus
       folgenden Unfrieden verhindern.
       
       Einige Verfasser der EMRK, darunter so unterschiedliche Akteure wie der
       britische Konservative David Maxwell Fyfe und der ehemalige
       Résistance-Kämpfer Pierre-Henri Teitgen, wollten die Konvention als einen
       „Pakt gegen den Totalitarismus“ verstanden wissen. Rückblickend ging es
       also nicht nur um den Schutz der „Minderheit“, sondern noch stärker um eine
       gemeinsame demokratische und europäische Kooperation.
       
       Die Aussage von Mette Frederiksen zum Minderheitenschutz basiert dennoch
       auf einem Fehlschluss. Der Minderheitenschutz der EMRK umfasst die
       Religionsfreiheit und ein umfassendes Diskriminierungsverbot nach Artikel
       14 für Minderheiten in einem Staat – auch jene eines Staates in einem
       anderen Staat. Gerade für Dänemark ist das wichtig.
       
       Das Bonn-Kopenhagen-Abkommen von 1955 sichert zum Beispiel wechselseitig
       und mit Bezug auf das Diskriminierungsverbot den jeweiligen Schutz der
       deutschen und dänischen Minderheit. Deswegen ist es illegitim und politisch
       kurzsichtig, den angeblichen Mehrheitsschutz und Minderheitenrechte
       gegeneinander auszuspielen. Denn die Mehrheit in einem Staat kann in einem
       anderen politischen Gebilde zugleich auch eine Minderheit sein.
       
       ## Die Große Kammer hat einen Rollback vollzogen
       
       Angriffe auf die Europäische Menschenrechtskonvention sind nicht neu. Fast
       wäre Großbritannien der Konvention im Jahr 1950 nicht beigetreten, weil man
       fürchtete, die Menschenrechte könnten Auswirkungen auf die Kolonialpolitik
       haben. In den letzten Jahren rüsteten die britischen Tories oder die
       Orbán-Regierung in Ungarn verbal gegen den Gerichtshof auf und brachten
       immer wieder ins Spiel, die EMRK zu verlassen.
       
       Zumindest für EU-Staaten ist das keine realistische Option, denn sie müssen
       der EMRK zustimmen. Daher zielen EU-Regierungen im Europarat mitunter
       darauf ab, die Handlungsfähigkeit des Gerichtshofs einzuschränken.
       Weitreichende Vorschläge zur Entmachtung des Gerichtshofs scheiterten aber
       zuletzt 2018.
       
       Das könnte sich kurz- oder mittelfristig ändern. In Europa haben rechte
       Kräfte an Einfluss gewonnen, die in der Flüchtlingspolitik nationale
       Alleingänge bevorzugen. Die Gefahr, die von diesem offenen Brief für den
       Menschenrechtsschutz ausgeht, hat eine neue Qualität. Selbst in Deutschland
       findet der Brief Anklang innerhalb der Regierungsfraktionen. Günter Krings,
       CDU-Politiker und Unions-Fraktionsvize, sagte, die Urteile des EGMR machten
       es mitunter „faktisch unmöglich, irreguläre Migration rechtssicher zu
       steuern“.
       
       Solche Beschreibungen entsprechen jedoch nicht dem aktuellen Stand der
       Rechtsprechung. Der EGMR war in seiner Geschichte stets äußerst restriktiv,
       was die Rechte geflüchteter Menschen anging, die EMRK kennt beispielsweise
       im Unterschied zur EU-Grundrechtecharta kein Recht auf Asyl. Anfang der
       2010er Jahre gab es progressivere Leitentscheidungen, die Überstellungen
       nach Griechenland und Pushbacks auf Hoher See als menschenrechtswidrig
       verurteilten.
       
       Doch die Große Kammer, in der die Leitentscheidungen gefällt werden, hat
       einen Rollback vollzogen und den Nationalstaaten schon jetzt mehr
       Handlungsspielräume zugestanden. Inhaftierungen an der ungarischen Grenze
       und Pushbacks von Spanien nach Marokko beanstandeten die Straßburger
       Richterinnen und Richter nicht. Dies geschah nicht im luftleeren Raum,
       sondern inmitten politischer Angriffe und der Drohung einiger Staaten, dem
       EGMR finanzielle Mittel zu entziehen. In den Urteilen finden sich
       zahlreiche Belege für die Übernahme rechter Narrative, wie etwa, dass
       Migration eine Gefahr sei. Zu Recht wurde der EGMR von
       Wissenschaftler*innen, Menschenrechtsorganisationen und
       Anwaltsvereinigungen für diese Leitentscheidungen kritisiert.
       
       Allerdings schränkt die EMRK Nationalstaaten bei Abschiebungen auch ein.
       Die britische Regierung machte diese Erfahrung bei ihrem erfolglosen
       Versuch, Menschen nach [2][Ruanda] abzuschieben.
       
       ## Hinter jedem Geflüchteten ein Fluchtschicksal
       
       Seit Ende der 1980er Jahre legt Straßburg den Artikel 3 der EMRK
       dahingehend aus, dass das Verbot der Folter und unmenschlichen oder
       erniedrigenden Behandlung auch die Menschen schützt, die in einen anderen
       Staat abgeschoben werden und dort solche Gefahren fürchten müssen. Diese
       Rechtsprechung geht übrigens auf den Fall des wegen zweifachen Mordes
       verurteilten deutschen Staatsangehörigen [3][Jens Söring] zurück, dem bei
       seiner Auslieferung aus Großbritannien in die USA damals die Todesstrafe
       drohte. Erst später kamen Entscheidungen hinzu, bei denen es um geflüchtete
       Menschen ging.
       
       Der EGMR hat die Menschenrechtskonvention stets als ein „lebendes
       Instrument“ verstanden: Bei ihrer Auslegung will sich der Gerichtshof nicht
       nur auf die Zeit berufen, in der die Konvention entstand, sondern neuere
       gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigen. So befand der Gerichtshof
       beispielsweise 2024, dass der Klimaschutz ein Menschenrecht ist.
       
       Dieses Rechtsverständnis passt den neun Unterzeichnerstaaten des offenen
       Briefs nicht. Zumindest, was Migration angeht. Dass bei Abschiebungen die
       Souveränität der Nationalstaaten eingeschränkt ist, hat aber eine logische
       Bewandtnis: Der universelle Schutz der Menschenrechte soll jeden Menschen –
       auch Kriminelle und Terroristen – vor willkürlichen Aktionen von
       Nationalstaaten bewahren. Denn die Bindung der Staatsgewalt an das Recht
       unterscheidet Demokratien von autoritären Regimen.
       
       Auch von „Instrumentalisierung von Migration“ ist im offenen Brief die
       Rede. Mit diesem Begriff werden Fluchtbewegungen bezeichnet, die angeblich
       durch Staaten wie Russland und Belarus in Europa forciert werden. Dass
       hinter jedem Flüchtling auch ein ernsthaftes Fluchtschicksal steht,
       vergessen die Regierungschef*innen gerne. Die EU hat zuletzt eine
       Krisenverordnung verabschiedet, um auf solche Bewegungen mit verschärften
       Maßnahmen zu reagieren – wie zum Beispiel deutlich längeren Inhaftierungen
       an den Außengrenzen. Die EU-Kommission hat Mitgliedstaaten wie Polen und
       Finnland bei ihren schweren Grundrechtseingriffen etwa in einer Mitteilung
       vom Dezember 2024 keinen Einhalt geboten.
       
       ## Rechtsstaatlichkeit ist kein „Add-on“
       
       Die Berufung auf die „Instrumentalisierung“ ist auch zeitlich kein Zufall:
       Denn ganz aktuell verhandelt der EGMR über drei Fälle, in denen es um die
       Verwehrung des Zugangs von Asylsuchenden geht, die mit
       Instrumentalisierungen in Verbindung gebracht werden. Mit Litauen, Lettland
       und Polen stehen auch jene Staaten als Unterzeichner unter dem Brief, die
       in Straßburg wegen Menschenrechtsverstößen angeklagt sind. Der Brief kann
       deswegen auch als eine direkte Intervention in die laufenden Verfahren
       verstanden werden – eine beispiellose Ausübung politischen Drucks auf die
       Richterinnen und Richter.
       
       Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich den Karlspreis
       verliehen bekam, beendete sie die Dankesrede mit den Worten: „Lang lebe
       Europa“. Doch wie lange wird die EMRK als ein Gründungsdokument Europas
       noch bestehen? Der Brief der neun Nationalstaaten sägt an den europäischen
       Grundlagen und von der Leyen schweigt dazu.
       
       Aus einer progressiven Perspektive ist der schwierige Spagat zu leisten,
       den EGMR für seine migrationsabschottende Rechtsprechung zu kritisieren und
       zugleich vor Angriffen zu verteidigen. Die Unabhängigkeit der Gerichte, die
       Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte sind jedenfalls keine
       „Add-Ons“ zur Demokratie, sondern ihre zentralen Bausteine. Wer das
       aufgibt, kündigt auch den europäischen Nachkriegskonsens auf.
       
       7 Jun 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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